Kein Trinkgeld in der Musikindustrie
Was haben „Last Christmas”, „All I Want For Christmas Is You”, und „It‘s Beginning to Look a Lot Like Christmas” gemeinsam? Sie gehören zu den meistgestreamten Weihnachtssongs aller Zeiten weltweit auf Spotify. Im Dezember kommen viele weitere Streams dazu, gerade wenn beim Geschenkverpacken für die Liebsten mal wieder Weihnachtsplaylists im Hintergrund dudeln.
Allen Megasellern auf Spotify (ob tot oder lebendig) möchte ich also gratulieren. Und ihnen in Zeiten der allseits beschworenen Nächstenliebe trotzdem den Weihnachtszauber ein bisschen verderben. Denn neben Mariah Carey und Co. gibt es beim unbestritten beliebtesten Audio-Streaming-Dienst auch weniger populäre Artists, denen es an Weihnachten vielleicht weniger feierlich zumute ist. Denn ja – machen wir uns nichts vor – sonderlich profitabel ist Spotify für die nicht.
Besonders markant wurde das aller-allerspätestens während der Corona-Krise. 2020 wurde für die besonders bedürftige Musikszene auf Spotify eine Trinkgeldfunktion eingeführt, die von der Presse vor allem mit Häme aufgenommen wurde. Die ZEIT sah die Künstler:innen „auf den Status von virtuellen Straßenmusikern“ heruntergestuft. Selbst konnte das schwedische Unternehmen seine Gewinne während der Pandemie erheblich befeuern. Im Laufe des Aprils 2020 konnte die Spotify-Aktie um 25 Prozent zulegen.
Mittlerweile ist Corona für die streamende Öffentlichkeit kein Thema mehr. Und auch Spotify kann sich nicht mehr als Gewinnler inszenieren. Das Unternehmen schreibt rote Zahlen, hat im letzten Quartal 302 Millionen Euro verloren. Unlängst hat Spotify die Abo-Preise erhöht.
Kann man die Trinkgeldfunktion 2020 noch als elegantes Delegieren von Verantwortung an die Konsument:innen betrachten, wird der Umgang mit kleinen Artists nun unverhohlen grob. Ab dem ersten Quartal 2024 reicht es nicht mehr, dass ein Song über 30 Sekunden angespielt wird, um an den Ausschüttungen beteiligt zu werden. Nun muss ein Track zusätzlich zuvor 1000 Mal gespielt werden – so ein Bericht der Newsplattform Music Business Worldwide. Damit soll jener Prozentsatz an Tracks demonetarisiert werden, der eh schon weniger als fünf US-Cents pro Monat erwirtschaftet (das entspricht etwa 200 Streams).
„5 US-Cents oder nix. Macht doch eh kaum einen Unterschied“, mag da einer denken und weiter Mariah Carey hören. Ja, die inflationierten Nürnberger Lebkuchen bleiben auch mit 5 US-Cents extra in der Tasche immer noch unerträglich teuer. Unerträglich ist aber auch, dass Spotify den Sprung in die allumfassende, cosy digitale Sphäre mit gar nicht weihnachtlichem Raubtierkapitalismus verwechselt und irgendwie vergisst, dass Kunst auf dem freien Markt selten allein überlebensfähig ist. Wer weder ein fettes Marketing-Team noch den nötigen Social Media-Hype und nicht einmal Christmas Songs für die Weihnachtsplaylist hat, wird den Megaseller „Last Christmas“ in Zukunft noch mehr zu hassen lernen als je zuvor.
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- Kein Trinkgeld in der Musikindustrie: Foto: Anni Roenkae