„Jetzt ist die Stadt am Zug“
Manuel Kreitmeier und Florian Wetter, künstlerische Leiter am Freiburger Theater der Immoralisten, im Gespräch
Sie sind treffsicher in der Auswahl ihrer Stücke. Ihre Inszenierungen sind packend, unterhaltsam, interessant und auch witzig. Sie fordern das Publikum ohne es zu überfordern, und es strömt in Scharen. Wer dieses Theater einmal besucht hat, kommt immer wieder… Im Februar wird das Freiburger Theater der Immoralisten – 2010 eröffnet auf dem Gelände des Stühlinger Gewerbehofs mit 140 Quadratmetern und bis zu 80 Zuschauerplätzen – fünf Jahre alt. 27 Produktionen wurden seitdem dort gezeigt. Ereignisreiche fünf Jahre also, in denen das Theater an sich und seinem Publikum stetig gewachsen ist. Aber auch Zeit für die beiden Theaterleiter Manuel Kreitmeier und Florian Wetter, um Bilanz zu ziehen. Friederike Zimmermann war dabei und erfuhr einiges über ihre künstlerischen Strategien, aber auch über die Schwierigkeiten, die ein solch intensiver Theaterbetrieb mit sich bringt.
Kultur Joker: Worin besteht das Erfolgsrezept der Immoralisten in Zeiten, in denen es ein Theater doch eher schwer hat?
Manuel Kreitmeier: Unser Credo ist eigentlich immer: Wie kann man ein Stück den Zuschauern erzählen. Ich glaube, dass das oft nicht gemacht wird. Häufig gehen Theatermacher an ein Stück heran, ohne darüber nachzudenken, was für die Inszenierung wirklich Sinn macht. Wir beide sind literatur-affin genug, um genau das zu tun. Uns liegen die Stücke, die wir machen, sehr am Herzen.
Florian Wetter: Und niemand zwingt uns, ein bestimmtes Stück zu wählen…
Manuel Kreitmeier: Genau, auch will ich als Regisseur ja nicht nur meine privaten Obsessionen ausleben, sondern dem Stück gerecht werden – auf eine moderne Art natürlich; ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, aber auch ohne irgendwelche Effekte, die es gar nicht braucht.
Florian Wetter: Wenn sich dann noch jemand an den Mitteln stößt, muss ich leider sagen: Tut mir leid, aber das steht so geschrieben. – Etwa in Schnitzlers „Reigen“, über den sich manche mokierten, er sei sexuell zu sehr aufgeladen. Aber ein Stück über Sex muss ja auch von Sex handeln. Das ist allerdings noch lange kein Freibrief für jede Form von Geschmacklosigkeit oder Pseudo-Modernisierung der Bühne. Es geht immer nur darum, das, was geschrieben ist, so zu erzählen, dass es das heutige Publikum trifft und betrifft.
Manuel Kreitmeier: Daher lautet unser zweites künstlerisches Credo, das Stück in einer größtmöglichen Einfachheit zu erzählen. Auch das gibt es auf der Bühne immer seltener, da viele Theater meinen, sie müssten sich mit dem Film messen. Diese ewige Effekthascherei langweilt das Publikum aber nur unendlich. Denn alles was sich auf der Bühne befindet oder ereignet, muss auch einen Sinn machen; es muss im Stück benutzt werden, eine symbolische Bedeutung haben: Nichts ist zufällig. Nur so kann man das Stück ganz nahe an den Zuschauer heranbringen. Und die Erfahrung lehrt uns, das ist genau das, was die Leute sehen wollen. Modernes Theater, das sie irgendwie auch weitergebracht hat.
Kultur Joker: Nun macht ihr das schon seit fünf Jahren – was bedeutet diese Zeit für euer Theater?
Florian Wetter: Sie bedeutet, jetzt ist der Moment gekommen, um Bilanz zu ziehen: Wo wollen wir künstlerisch hin, wo wollen wir auch persönlich hin…, speziell im Hinblick auf die beantragte institutionelle Förderung durch die Stadt. Denn nur wenn wir diese bekommen, können wir das Haus hier auf Dauer weiterbetreiben.
Manuel Kreitmeier: Als wir vor fünf Jahren unser festes Theater gründeten, war das keine spontane Idee, sondern wohl überlegt. Damals meinte der Kulturbürgermeister, man wolle erst sehen, ob es uns gelingt, das Theater aufzubauen; ob es läuft, ob wir einen Spielplan auf die Beine stellen können usw. Heute blicken wir auf fünf harte, aber auch erfolgreiche Jahre zurück. Jetzt ist unserer Ansicht nach die Stadt am Zug, um uns zu sagen: Ja, das Haus hat sich bewährt und wir wollen es! Seit 2010 haben wir 27 Produktionen mit unglaublich viel Engagement und Idealismus auf die Beine gestellt. Und – wie man sich denken kann – mit sehr viel Selbstausbeutung.
Florian Wetter: Man kann sich das wie einen organischen Prozess vorstellen, vergleichbar mit einem Baum, den man in die Erde setzt. Am Anfang weiß man nicht, ob er wachsen wird und ob er die Dürre oder den Frost überleben wird. Zunächst sagen viele: Ich glaube eher nicht. Andere dagegen sagen: Warten wir’s ab. Wieder andere sagen: Lasst uns dazu beitragen, dass er wachsen kann. Und so sind wir nach fünf Jahren immer noch da – und unsere Arbeit trägt wunderbare Früchte! Aber Wachstum ist immer abhängig von den äußeren Umständen.
Kultur Joker: Wie muss man sich denn eure bisherige Arbeit ohne diese Förderung vorstellen?
Manuel Kreitmeier: Äußerst schwierig. Bevor wir als festes Haus hier Fuß fassen konnten, zählten wir (seit 2001) als freies Ensemble zur freien Theaterszene. Für diese gibt es keine feste Förderung, sondern nur für einzelne Projekte. Die meisten freien Gruppen machen zirka ein bis zwei Projekte im Jahr, für die sie jedes Mal einen Antrag stellen müssen.
Florian Wetter: Und man kann nur einen Antrag pro Jahr stellen. Die Projektförderung ist das kleinste Fördermodell; die Konzeptionsförderung ist sozusagen der aufbauende Schritt zur Projektförderung und wird Ensembles gegeben, die eine kontinuierliche Arbeit machen und daher eine langfristige Planung brauchen. Diese haben wir damals, übrigens als eines von drei Theatern in ganz Baden-Württemberg, von Stadt und Land für drei Stücke zur Weimarer Republik (bis 2013 je eines) erhalten. Danach bekamen wir von der Stadt die Zusage für eine weitere Konzeptionsförderung über zwei Jahre, um bis zur Verhandlung einer institutionellen Förderung einigermaßen durchhalten zu können. Durchs Land ist aber erst mal nur wieder Projektförderung möglich – und das ist natürlich schwer aufzufangen. Da wir aber ein festes Haus sind, mit fünf Projekten im Jahr und einer langfristigen Planung – ganz so, wie das ein großes Theater sozusagen auch macht – bedeutet das: Für uns ist dieser Topf der Projektförderung das völlig falsche Modell.
Manuel Kreitmeier: Wir haben unser Theater von Anfang an als festes Haus mit einem festen Ensemble konzipiert. Von da ab war also klar, dass es zu einer Institutionsförderung kommen muss. Längerfristig ist das für ein Theater die einzige Möglichkeit, in einer Stadt festen Fuß zu fassen. Ein Haus mit seiner ganzen Logistik, seinem Schauspielapparat, seiner Ausstattung, seinem kompletten Equipment kann natürlich nur betrieben werden, wenn es eine feste Förderung bekommt. Ohne Subventionierung – und diese fiel ja bei uns bisher sehr gering aus – kann ein festes Theater nun mal nicht existieren.
Florian Wetter: In unserem Fall heißt das: Wir haben in den fünf Jahren 27 Projekte gemacht – davon sind fünf gefördert worden. Das spricht für sich.
Kultur Joker: Und wie habt ihr die restlichen Projekte bestritten? Ich meine, ihr lebt doch von dem Theater?
Manuel Kreitmeier: Wir beide leben davon. Aber alle anderen haben notgedrungen noch ein zweites Standbein. Daran sieht man schon, wie prekär die Situation ist. Schließlich besteht unser Ensemble großenteils aus Profischauspielern. Es kann doch auf Dauer nicht sein, dass alle Beteiligten so viel Energie und Engagement in das Theater stecken, ohne dass sie ihre Miete bezahlen können. Neben dem Stadttheater und dem Theater im Marienbad sind wir das einzige Haus, das ein eigenes Ensemble hat. Das ermöglicht uns eine ganz andere künstlerische Kontinuität, denn hier stimmt einfach die Kommunikation. Ich weiß genau, wer was kann und was möglich ist.
Florian Wetter: Nachdem ich 2008 mein Musikstudium beendet hatte, kooperierten wir hin und wieder mit dem Stadttheater, probten in unterirdischen Kellerräumen und so weiter, dann vier Aufführungen – und das war’s. Wenn wir Glück hatten, blieben wir nicht auf den Kostümkosten sitzen. Wir mussten uns letztendlich fragen, was mit uns werden sollte. Die Konsequenz war, entweder die Stadt zu verlassen…
Manuel Kreitmeier: …wo es weniger bürokratisch zugeht…
Florian Wetter: …oder wir brauchten einen neuen Raum. 2009 ergab es sich, dass wir über einen Freund auf den Stühlinger Gewerbehof aufmerksam gemacht wurden. Damals war alles dort gerade im Umbruch und Neubeginn und wir konnten ein Teil davon werden. Ein großer Glücksfall! Tolles Ambiente, altes Handwerk neben Kunst – und dann eben unser Theater.
Manuel Kreitmeier: Alles hier ist gewachsen und wurde von uns selbst finanziert. Wir haben alte Werkstätten zusammen mit Freunden ausgebaut und zu einem richtigen Theater gemacht. Das hier ist tatsächlich etwas, was es in ganz Freiburg fast nicht mehr gibt, wo alles entweder abgerissen oder zu Tode saniert wird. Das macht es so reizvoll.
Florian Wetter: …eine der wenigen verbliebenen Oasen…
Manuel Kreitmeier: Eine Art „zweites Berlin“. Und das ist tatsächlich auch das, was den Leuten gefällt. Auf der anderen Seite sind in diesen letzten fünf Jahren in Freiburg zwei andere Theater eingegangen: Das Theater im Martinstor und die Komödie der Altstadt. Obwohl wir unter einer äußerst schwierigen Fördersituation leiden, haben wir mittlerweile ein großes Stammpublikum und dadurch auch eine hohe Auslastung in unseren Projekten. Das bedeutet: Dass wir überhaupt noch hier sind, liegt vor allem an den treuen Zuschauern, die genau das sehen wollen, was wir machen. Zu uns kommen Leute, die politisch relevantes engagiertes Theater sehen wollen und das wirklich goutieren. Dennoch weiß man vorher nie, ob ein Stück auch funktionieren wird.
Florian Wetter: Bei Stammheim zum Beispiel waren wir im Vorfeld eher skeptisch und konnten uns dann vor der Nachfrage kaum retten. Demnächst werden wir das Stück wieder in den Spielplan aufnehmen. Besonders hat uns gefreut, dass ein modernes Stück zu einem schwierigen Thema – noch dazu aus eigener Hand, also von völlig unbekannten Autoren – ein Hit wurde. Aufgrund der politischen Lage ist diese Thematik ja auch relevanter denn je.
Kultur Joker: Obwohl ihr zur Zeit der Rote Armee Fraktion (RAF) noch gar nicht geboren wart, ist es euch gelungen, diese Stimmung, die ich damals als Heranwachsende eher intuitiv erfasst habe, so gut einzufangen. Wie schafft ihr das?
Florian Wetter: Ich glaube, es beruht vor allem auf Einfühlungsvermögen, wenn man versucht eine Situation so einzufangen, wie sie gewesen sein müsste.
Manuel Kreitmeier: Und auch darauf, dass wir immer versuchen, uns mit einer Wertung zurückzuhalten. Ich versuche immer möglichst alle Standpunkte zu verstehen. Hier wollte ich weder ein Stück für die RAF noch gegen die RAF auf die Bühne bringen. Und dadurch konnten wir diese ambivalente Stimmung dieser Zeit auch rüberbringen.
Florian Wetter: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir 9/11 miterlebt haben. Und da sich die Dinge im Grundsatz niemals ändern und auch jetzt, nach Charlie Hebdo, diese Stimmung wieder im Raum ist, liegt dieses Thema heute wie damals gleichermaßen in der Luft.
Kultur Joker: Warum habt ihr dann ein Stück über Stammheim und nicht über 9/11 gemacht?
Manuel Kreitmeier: Weil das, was damals noch ein deutsches Thema war, heute zum globalen Problem wurde. Hier zeigen sich die Anfänge, auch im Umgang mit dieser Bedrohung. Und die Reaktionen des Publikums waren unglaublich. Wir wurden sehr oft angesprochen. Aber auch hier wollten wir eine Geschichte erzählen, die den Zuschauer interessieren könnte. Deshalb führen wir das auch in unserem Namen: Wir sind gewissermaßen sehr unmoralisch, denn wir stellen Fragen, ohne sie zu beantworten.
Kultur Joker: Was die Relevanz der Themen betrifft, finde ich euch sogar eher sehr moralisch; wenn auch nicht immer in der Umsetzung…
Florian Wetter: Es geht hier aber mehr um eine Moral, die nachfragt, ob eine bestimmte Thematik überhaupt noch angebracht ist. Der Begriff der „Immoralisten“ leitet sich ja von Nietzsche her und meint, sich nicht einfach Konzepte überzustülpen, sondern sich selbst zu hinterfragen und einen Standpunkt herauszubilden, den man immer wieder bereit ist neu zu definieren. Und so hat jedes Projekt eine neue Annäherung an ein Thema und braucht deshalb auch neue Antworten. Jeder Stoff, den wir auf die Bühne bringen, gibt uns eine neue Perspektive und verändert uns.
Kultur Joker: Euer Spielplan ist richtig voll. Das heißt, ihr studiert tagsüber ein Stück ein und führt am Abend ein anderes auf?
Manuel Kreitmeier: Ja, das ist sehr anstrengend. Es bleibt einfach zu viel auf der Strecke, denn wir haben zu nichts anderem mehr Zeit und Kraft. Und wenn man davon lebt, muss man sich immer fragen: Wird das Stück laufen oder nicht? Falls nicht, müssen wir bereits das nächste Stück parat haben. Da würde uns eine institutionelle Förderung schon den Rücken frei halten, denn sie ist nicht an ein einzelnes Projekt gebunden. Ich kann mit dem Geld besser haushalten und es da einsetzen, wo es am meisten gebraucht wird. Und wir müssten nicht die ganze Zeit mit dieser Riesenangst arbeiten: Was machen wir, wenn das Stück floppt?
Kultur Joker: Dann halte ich euch (und auch uns) alle Daumen, dass es mit der Förderung klappt!