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In Berührung bleiben: Zwei Bücher im Berliner Neofelis-Verlag widmen sich dem schwierigen Verhältnis des Menschen zur Natur und zu sich selbst

Der Mensch ist nun einmal in der Welt. So einfach will er nicht verschwinden. Und selbst wenn, der menschliche Einfluss auf die Natur, den Planeten Erde bliebe. Was ist schon „natürlich“, was frei von jedem menschlich-kulturellen Eingriff? Sprechen wir also besser von einem Anthropozän und schauen, welche Handlungsspielräume uns noch bleiben. Und mit „uns“ meinen wir bestenfalls nicht nur die Menschheitsfamilie, sondern das ganze globale Ökosystem. Erste Impulse geben zwei Neuerscheinungen im kleinen Berliner Neofelis-Verlag. Beide widmen sich dem Einfluss des Menschen auf die Natur wie auf sich selbst und allem, was dazwischen kreucht, fleucht und fühlt.
Beginnen wir bei dem Wesen, das dem Menschen so nahe scheint und doch so fern: Dem Tier. Ob Fisch, Pferd, Schwein oder Hund. Zu jedem Tier pflegt der Mensch ein eigenes Verhältnis. Und in jedem Tier begegnet er sich selbst. Oder will sich darin begegnen. Kämpfen Gegner des „Genderwahnsinns“ – so zuletzt gesehen am ganzbayerischen Verbot des Genderns – innerhalb ihrer Spezies verbissen um den Erhalt des generischen Maskulinums und der Zweigeschlechtlichkeit, glauben sie sich zumindest im Tierreich und in der Natur sicher. Homosexuelle Liebe oder gar mehrere Geschlechter seien demnach nicht ‚natürlich‘ und im Tierreich maximal eine skurrile Nebenerscheinung, so deren Tenor. Dass das falsch ist, beweist nicht erst Rapperin Sookee, die in „Queere Tiere“ verkündet: „In der Tierwelt wimmelt es nur so von Homos und Trans* / Delphinweibchen wissen, was ne Flosse so kann / Walmännchen reiben ihre Prengel, weil es schön ist / Nicht zu fassen, dass Menschen dagegen so blöd sind“.

Zarte Pferde, queere Bulldoggen

„Tiere und Geschlecht“ heißt der neue Sammelband in der bewährten Neofelis-Reihe „Tierstudien“ (der Verlag ist selbst nach einer Katzengattung benannt!). Im Mittelpunkt der elf Beiträge und fünf künstlerischen Positionen stehen die vielfältigen Funktionen, die Geschlecht in der Kommunikation zwischen Mensch und Tier einnimmt. Das kann, muss zunächst nichts mit Homosexualität oder Trans-Identitäten zu tun haben. Allein mit der geschlechtsspezifischen Behandlung von Tieren ließen sich Sachbücher füllen. Ein besonders bekanntes wie kontroverses Beispiel wäre hier das Schreddern männlicher Küken, von dem sich Bio-Betriebe zunehmend offen distanzieren. Tierzucht hängt eng mit einer geschlechtsspezifischen Vorauswahl zusammen, fleißig wird hier sterilisiert, kastriert, mit Hormonen oder Verhütungsmitteln gearbeitet.
Dabei begeht der Mensch nicht selten den Fehler, eigene Geschlechtsstereotypen auf die Tierwelt zu übertragen. Stellen Stereotypen schon im zwischenmenschlichen Kontakt ein Problem dar, gilt dies ebenso für die Tierwelt. Wird die Performativität von Geschlecht (also dessen Aushandelbarkeit) zwar nicht weitläufig akzeptiert, zumindest aber diskutiert, sind selbst die Human Animal Studies noch weit davon entfernt, diesen Ansatz auf die Tierwelt anzuwenden. Darauf weisen einige Beiträge des Bands hin und versuchen, dem eigene Ansätze gegenüberzustellen. Nur in wenigen Fällen können sie auf bestehende Forschung verweisen. Um es mit Sookee zu sagen: Nicht zu fassen, dass die Wissenschaft so zögerlich ist.
Besieht man die vielen Fallbeispiele für eine geschlechtsspezifische Behandlung von Tieren, springt es einem förmlich ins Auge. Wach- und Jagdhunde werden meist männlich gelesenen Personen zugeordnet, Schoßhunde hingegen im Schoß von Frauen platziert, davon zeugt nicht zuletzt die Kunstgeschichte, die derartige Portraits fest in unser kulturelles Gedächtnis eingeschrieben hat. Einen erkennbaren Wandel hat hingegen das Pferd durchgemacht. War es früher Domäne des Mannes, wird das stolze wie zarte Wesen nun schon seit Jahrzehnten an Seite von Mädchen gesichtet, die es „Wendy“ oder „Black Beauty“ nennen. Annette Schnabel und Alexandra König wenden sich in ihrem Beitrag dem Freizeitvergnügen Pferd zu, das speziell für die Zielgruppe von Mädchen kapitalistisch verwertbar gemacht wird. Allzu skeptisch sollte man angesichts des Hypes um „Ostwind“, „Wendy“ oder dem Pferd „Mississippi“ aber nicht werden, so zeigt der Aufsatz aber auch, schließlich halten diese vorbildhaften Mensch-Tier-Beziehungen auch alternative weibliche Geschlechterrollen parat, jenseits von Mann und Herd. Mit dem „companion animal“ Pferd bewegen sich Mädchen jenseits der fossil-kapitalistischen Kraftmeierei, die jüngst anhand des Konzepts der „Petromaskulinität“ diskutiert wird. Pferdestärke als Beziehungsstärke also.
Der Beziehung französischer Bulldoggen und queerer Menschen gehen Christiane Keim und Astrid Silvia Schönhagen nach. Nun nicht als „companion animal“, sondern als „fashionable animal“ galt die französische Bulldogge um 1900. Von ihren Besitzer:innen teils jedoch als „hässlich“ verworfen, kamen manche der Tiere schließlich in die Arme von queeren Frauen, die sich ähnlich wie sie ausgegrenzt und als „monströs“ abgewertet fühlten. Hansi Sturm, eine Travestiekünstler:in zeigte sich 1933, noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, in weiblicher Abendgarderobe, daneben eine französische Bulldogge mit einem schicken Halsband im Stil einer Federboa. So wird der Hund selbst Teil des „weiblich-kunstvoll Künstlichen“.
Stehen solche kulturwissenschaftlichen Untersuchungen speziell für eine qualitative Auseinandersetzung mit menschlich-tierischen Rollenzuschreibungen, nimmt sich Johannes Müller den Folgen solcher Zuschreibungen für die Empirie an. Gerade im Bereich der Fische und Wirbellosen entziehen sich die Geschlechtererscheinungen deutlich der Ordnung von Zweigeschlechtlichkeit. Gut belegt sind Hermaphroditismus, Dichogamie oder Phänomene wie Erstmännlichkeit und Erstweiblichkeit, die bereits ihrer Veränderung im Laufe des Tierlebens harren. Gerade hier kann ein binäres Denken oder ein solches in Geschlechterstereotypen folgenreich sein. Eine Untersuchung der Wirkung steigender Temperaturen auf das Wachstum von Fischen fordert eine besonders detaillierte Einarbeitung in die Geschlechterunterschiede der Fische, gerade was das Wachstum unter besonderen Bedingungen betrifft.
Vielleicht hilft bei der Einfühlung des Menschen ins Tier ja die Kunst? Erfreulicherweise sind dem Band auch künstlerische Interventionen beigelegt, meist mit Fotomaterial. Alle setzen sich mit dem Mensch-Tier-Verhältnis auseinander und geben der Vielfältigkeit von Geschlecht dabei ausreichend Raum. Besonders aufregend sind die Darstellungen von Soya the Cow, dem Alter Ego des Zürcher Performancekünstlers und Aktivisten Daniel Hellmann. Im Kuhkostüm erscheint er auf Demonstrationen, aber auch bei „The Voice of Germany“. Spielerisch setzt er die Spannungen im Mensch-Tier-Verhältnis um. Einfühlung ohne Anmaßung und mit queerer Attitüde. Geht doch! So blöd, liebe Sookee, sind manche Menschen wohl doch nicht.

Giftige Pflanzen, postpubertäre Menschen

Vielleicht sind die Menschen auch nur emotional überreizt. Diesem Phänomen nimmt sich der Neofelis-Sammelband „Affektive Dynamiken der Gegenwart“ an. Hier stehen künstlerische, teils auch anekdotisch-berichthafte Darstellungen neben wissenschaftlich orientierten. Versucht wird eine Annäherung an die komplexen Prozesse der deutschen Gegenwart und der damit assoziierten Gefühlsmomente. Ausgangspunkt ist die Corona-Pandemie, die dem Menschen nicht nur Spielraum für die gewohnten affektiven Dynamiken nahm, sondern auch die Möglichkeit gab, über diesen Prozess gehörig nachzudenken.
Cornelia Ertl und Sandra Calkins sehen sich in ihrem Beitrag den Botanischen Garten Berlin zur Zeit der Pandemie an und bleiben bei einem Schild hängen, das die Besuchenden vor den Schauhäusern zwar vom Betreten abhält, gleichzeitig aber verkündet: „Die Pflanzen vermissen Sie.“ Die Botaniker:innen wollten lieber nicht verkünden, dass es den Pflanzen eigentlich besser ergeht, wenn die Menschen draußen bleiben. Berührungen bedeuten Stress, manche Pflanzen halten deshalb mit Gift Menschen auf Distanz. Sicher keine schlechte Metapher für die Komplexität von Berührung zur Zeit der Corona-Pandemie und ein weiterer Beitrag zum ausgeführten Thema der problematischen Annäherungen des Menschen an die Natur.
Im Anthropozän, dessen Folgen bekanntlich die Corona-Pandemie beförderten und manche kommende Pandemie sicher befördern wird, rückt der Mensch auch sich selbst auf die Pelle. Und manchmal wird die Kommunikation unterhalb der Menschen deshalb so schwer wie die Kommunikation zwischen Mensch und Tier. Das beweist Ana Makhashvili in ihrem Beitrag zur Intimität auf Dating-Apps während der Pandemie. Nach der klassischen Verzweiflung über aussagenlose Profile und komplexe Nähe-Distanz-Versuche erkennt die Autorin gerade darin einen fruchtbaren Raum für die reflexive Aushandlung von Intimität.
Einen besonderen Schwerpunkt, den die Verlagsarbeit bei Neofelis überhaupt markiert, bilden die Perspektiven marginalisierter Gruppen, die nicht selten selbst zum Zielobjekt affektiver (Hass-)dynamiken werden. Schreibt Nua Ursprung an einem Liebesbrief für queere Räume, der aber doch (selbst-)kritischer ausfällt, als beabsichtigt, schafft Stefan Wellgraf eine Psychogeografie der vom Aussterben bedrohten Neuköllner Maientage. Dafür begibt er sich mit Jugendlichen aus der migrantischen Bevölkerungsgruppe in den Festrummel. Durchaus derb zeigen sich deren Affekte mit ihren „postpubertären Überschüssen“ gerade innerhalb der Festatmosphäre. Etwa, wenn diskutiert wird, wie „schwul“ das Oberteil des einen aussehen würde. Die beruhigende Antwort seines Gegenübers: „Nicht ganz schwul. Vielleicht zehn Prozent schwul.“
Gerade hier sucht der Band, der im Umfeld der des interdisziplinären Sonderforschungsbereichs Affective Societies an der Freien Universität Berlin entstanden ist, auch unbequeme Reibeflächen in der Kommunikation. Ein herausragendes Beispiel dafür gibt der in Dramenform abgefasste Text „Familiengericht“ der Herausgeberin des Bands Doris Kolesch, der die tragische Geschichte von Helen und Susanne erzählt. Das gleichgeschlechtliche Paar ist zunächst glücklich, einen Samenspender gefunden zu haben, der sich damit einverstanden erklärt, bisweilen Kontakt zum Kind zu haben, jedoch nicht als Elternteil auftreten wird. Das gelingt einige Zeit, bis der Samenspender nach einigen Jahren und entgegen der Abmachung plötzlich doch Vater werden will und die beiden verklagt. Tragischerweise stehen die Frauen schließlich vor einer Richterin, die das Vater-Mutter-Modell nach wie vor als das relevantere betrachtet. Beide müssen also kämpfen und plötzlich befinden sich die Lesenden des eher essayistisch-sachlichen Bands in einem kleinen Gerichtsthriller.
Mehr solcher spannungsreichen künstlerischen Beiträge hätten den Band mit seinen diversen Annäherungen an das Gefühlsleben unserer Zeit noch abwechslungsreicher gestaltet. So bleibt dennoch eine umfassende und vielfach kritische Bestandsaufnahme unserer pandemie- und affektbeladenen Gesellschaft. Ebenso wenig wie der Planet Erde den Menschen so schnell los wird, so wird sich der Mensch mit seiner komplexen Art selbst los. Besser also wir fangen an, miteinander übereinander zu sprechen, im Medium der Wissenschaft, der Kunst oder irgendwo dazwischen. Schön, dass der Neofelis-Verlag beiden Ansätzen Raum bietet und so zum Nachdenken anregt.

Jessica Ullrich / Mieke Roscher (Hg.): Tierstudien. Tiere und Geschlecht, Neofelis 2023.
Doris Kolesch: Affektive Dynamiken der Gegenwart. Formen, Wirkungen, Erfahrungen, Neofelis 2024.

Bildquellen

  • Zwei Bücher im Berliner Neofelis-Verlag widmen sich dem schwierigen Verhältnis des Menschen zur Natur und zu sich selbst: Copyright: Neofelis Verlag
  • Zwei Bücher im Berliner Neofelis-Verlag widmen sich dem schwierigen Verhältnis des Menschen zur Natur und zu sich selbst: Copyright: Neofelis Verlag
  • Schwule Enten oder schwuler Blick auf die Ente?: © Brocken Inaglory, lizensiert nach CC BY-SA 4.0,