Interview

Im Namen der Freiheit

Im Gespräch: Dr. Barbara Ellermeier, Historikerin

Ausschnitt aus dem Cover des Buches von Barbara Ellermeier

Vor 70 Jahren gründeten die Geschwister Hans und Sophie Scholl mit anderen die Widerstandsorganisation „Die Weiße Rose“. Erstmals ist jetzt eine Biographie über Hans Scholl erschienen. Die Historikerin Barbara Ellermeier lässt ihn durch seine Briefe und Tagebuchaufzeichnungen zum Leser sprechen. Viele bisher unbekannte Quellen zeigen ein überraschend neues, lebendiges Bild des Widerstandskämpfers. Die Fragen an Dr. Barbara Ellermeier stellte Olaf Neumann.

Kultur Joker: Die Weiße Rose wird vor allem mit Sophie Scholl in Verbindung gebracht. Ihr hat man Filme und Musicals gewidmet. Wollten Sie mit Ihrer Biographie über Hans Scholl auch ein bisschen den Mythos korrigieren?

Dr. Barbara Ellermeier: Mythos ist ein großes Wort. Mein Geschichtsprofessor hat immer gesagt: „Das Uninteressante ist das Interessante.“ Wenn man bei Sophie den Blickwinkel nur geringfügig ändert, kommt Hans Scholl in den Fokus. Sein Nachlass im Institut für Zeitgeschichte in München wurde erst jetzt komplett freigegeben. Da habe ich hunderte neuer Briefe entdeckt, an die Freunde und Freundinnen, die Geschwister und die Eltern. Seine Mutter hat jeden Sonntag allen Kindern geschrieben. Es ergibt ein sehr dichtes Bild, teilweise kann man sogar Tagesabläufe rekonstruieren. Meine Biographie beginnt, als Hans anfängt, selbst regelmäßig Briefe zu schreiben: mit 18 Jahren. Seine Kindheit habe ich nur in Rückblenden erzählt. Ich wollte nicht auf die Erinnerungsliteratur zurückgreifen. Sondern Hans Scholl soll direkt zum Leser sprechen, mit seiner eigenen Stimme.

Kultur Joker: Welche neuen Erkenntnisse haben Sie bei den Recherchen für Ihr Buch gewonnen?

Ellermeier: Bisher hatte man immer dieses Bild des draufgängerischen Helden Hans Scholl. Ich war überrascht, wie spät er sich zum aktiven Widerstand entschloss. Auch war ich verwundert, wie sehr bei ihm Innen- und Außenansicht auseinanderklaffen. Nach außen wirkt er wie ein Netzwerker, der Leute zusammenbringt. Innerlich sehnt er sich danach, allein zu sein. Das durchzieht seine Briefe über Jahre. Ein zweiter Punkt ist seine starke Sehnsucht nach dem Krieg, die mir völlig unbekannt war. Andererseits hatte er diesen Hass aufs Militär, er strebte nach persönlicher Freiheit. Es fiel ihm leicht, neue Beziehungen einzugehen – und furchtbar schwer, Schluss zu machen!
Neu für mich war auch, dass die Weiße Rose keine homogene Gruppe war. Durch das bekannte Buch von Inge Aicher-Scholl erschien es, als seien Hans und Sophie die Anführer dieser kleinen Widerstandsorganisation in München gewesen. Erst durch meine Recherchen habe ich gesehen, wie sehr diese Gruppe in Bewegung war. An den Rändern kamen ständig neue Leute dazu, andere sprangen wieder ab. Eigentlich waren es Hans Scholl und Alexander Schmorell, die die ganze Flugblätter-Sache angestoßen haben. Sophie Scholl musste sich ihren Platz erst mühsam erarbeiten.

Kultur Joker: Der Vater Robert Scholl war Pazifist, er hat seine Brüder im 1. Weltkrieg verloren. Hans und Sophie machten zuerst Karriere im Nationalsozialismus. Haben ihre Eltern das toleriert?

Ellermeier: In der Familie muss es starke Konflikte gegeben haben. Inge Scholl beschreibt in ihrem Tagebuch, wie sie auf dem Klavier herumgehämmert und dazu nationalsozialistische Lieder geschmettert habe. Und Hans stritt sich mit seinem Vater wegen der Hitlerjugend, hängte sogar ein Bild von Hitler im Kinderzimmer auf. Es gehört wohl dazu, dass Kinder sich ihren eigenen Weg suchen, unabhängig von dem, was Eltern vorgeben.

Kultur Joker: Sophie Scholl soll bis 1941 noch BDM-Heimabende besucht haben. Wie war das bei Hans?

Ellermeier: Hans Scholl war bis zum Ende seiner Schulzeit in der Hitlerjugend aktiv. Sein Engagement ließ erst nach, als er zum Reichsarbeitsdienst musste. Im Frühjahr 1939 begann er dann ein Medizinstudium in München. Er hat versucht, sich auf sein Studium zu konzentrieren und irgendwie klar zu kommen mit den Zwängen im Militär und dem NS-Staat. Das war noch kein Widerstand, sondern nur ein Stillhalten. Er nannte das Energiesparen.

Kultur Joker: Gibt es den einen Punkt, den man als Wende festmachen kann?

Ellermeier: Nein, diese Sache musste erst einmal reifen. An den neuen Quellen sieht man, wie er bestimmte Fragen jahrelang gedanklich bearbeitet. Ich habe einen Brief gefunden, auf dessen Umschlag er eine Hitler-Briefmarke kopfüber geklebt hat. Verkehrt herum! Das ist ein erster Funke. Im Februar 1942 ist Hans Scholls Welt in den Grundfesten erschüttert. Er fühlt sich beim Militär nicht wohl, er ist im Arrest, weil seine Studentenkompanie einen Vorgesetzten ausgepfiffen hat, er kann keine kleinen Fluchten mehr unternehmen. Zudem ist seine Familie existentiell bedroht, weil sein Vater den Führer beleidigt hat. Robert Scholl drohen Haft und Berufsverbot. Es dauert dann noch zwei, drei Monate, bis sich die Freunde Hans Scholl und Alexander Schmorell zusammentun und in München die ersten vier Flugblätter versenden.

Kultur Joker: Die Briefe, die der junge Mann sich mit seinen Geschwistern und Freunden schrieb, klingen sehr reif. War man damals schneller erwachsen?

Ellermeier: In den Kriegsjahren herrschten Umstände, die wir uns heute gar nicht vorstellen können. Die Jugendgruppe meines Großvaters wurde in die Hitlerjugend integriert, als er 13 war. In diesem Alter habe ich „Sophies Welt“ gelesen und mich mit Philosophie beschäftigt, ohne dass mir der Staat reingeredet hat. Die jungen Leute im Freundeskreis der Scholls haben sich extrem nach geistiger Nahrung gesehnt und sich unterm Ladentisch verbotene Bücher besorgt.

Kultur Joker: Wie ist man im gleichgeschalteten Nazideutschland überhaupt an verbotene Lektüre rangekommen?

Ellermeier: Hans Scholls katholischer Mentor aus München, Professor Carl Muth, schrieb zum Beispiel verbotene Gedichte ab und gab sie weiter an seine Freunde. Als Hans gemeinsam mit Alexander Schmorell die ersten Flugblätter vorbereitete, notierte er sich einen Satz von Machiavelli: „Denn hat man erst diese Wenigen gewonnen, so hat man die Masse ohnehin.“ Sie wollten die Elite für sich gewinnen, die Verlagsleute, die Schriftsteller und die Künstler, die nicht mehr arbeiten durften. Auf diese Weise wollten sie von unten eine Bewegung gegen Hitler lostreten. Hans Scholl ging es auch um die Verteidigung des europäischen Kulturerbes, das ihn selbst geprägt hat. Er beschäftigte sich mit Augustinus und las viele französische Autoren. Paul Claudel war ihm wohl der wichtigste. Zwei Tage vor der Verhaftung schrieb er noch dessen Satz „Das Leben ist ein großes Abenteuer hin zum Licht“ auf.

Kultur Joker: Wie war es möglich, Kontakte zu anderen Oppositionellen zu knüpfen?

Ellermeier: Willi Graf hat für die Weiße Rose in kühner Weise Kontakt zu Leuten aus anderen Universitätsstädten hergestellt. Niemand hat zugesagt, aber es hat ihn auch niemand verraten. Er ist mit Flugblättern, gefälschtem Urlaubsschein und sogar einem Vervielfältigungsapparat im Gepäck quer durch das Deutsche Reich gefahren. Wäre er erwischt worden, wäre wahrscheinlich die ganze Gruppe aufgeflogen. In der heißen Phase ihres Widerstands, von November 1942 bis Februar 1943 verstummt Hans fast völlig – aus Vorsicht. Er und Sophie Scholl wussten, dass die Gestapo praktisch jeden Brief mitlas.

Kultur Joker: Von Hans ging eine große Anziehungskraft aus. Hat er Sophie instrumentalisiert für seinen gefährlichen Kampf gegen Hitler?

Ellermeier: Hans Scholl hätte sie nie um Mitarbeit gebeten, das glaube ich fest. Die Männer haben eigentlich gesagt, der Widerstand ist nichts für Frauen. Sophie Scholl hat sich ihr Mitwirken selber erarbeitet. Sie hatte einen starken innerlichen Drang, etwas gegen Hitler zu unternehmen.
Als Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf monatelang als Sanitäter in Russland an der Front waren, machte sie einfach weiter. Sie besorgte einen Vervielfältigungsapparat, warb einen neuen Mitarbeiter in Ulm an und beschaffte sehr viel Geld.
Als die Männer im November 1942 wiederkamen, griffen sie einfach das auf, was Sophie in der Zwischenzeit vorgearbeitet hatte, denn sie sahen ja, wie sie ihrem Unternehmen nützte. An den Quellen, die ich durchgearbeitet habe, sieht man deutlich, wie sehr Sophie Scholl bemüht war, ihrem Bruder den Rücken freizuhalten. Für Hans hat sie sie sich immer Ausreden ausgedacht, damit die Familie glaubte, dass die beiden eifrig in München studierten.

Kultur Joker: Welches Verhältnis hatte Hans Scholl zu seiner jüngsten Schwester Sophie?

Ellermeier: Ursprünglich wollte ich das Verhältnis zwischen Hans und Sophie Scholl neu beleuchten. Man hat immer dieses glorreiche Geschwisterpaar vor Augen, was mit vereinten Kräften Flugblätter in den Lichthof der Universität wirft. Aber in Wirklichkeit stand Hans seiner ältesten Schwester Inge sehr viel näher. Wenn er ein Problem hatte, schrieb er ihr und nicht Sophie. Sie sprachen über Religion oder Frauengeschichten. Mit Sophie verbrachte Hans über weite Jahre kaum gemeinsame Zeit, er war beim Militär, sie beim Reichsarbeitsdienst an unterschiedlichen Orten. Erst im Mai 1942 kommt Sophie zu Hans nach München. Und erst im November 1942 beziehen sie gemeinsam das Gartenhaus in Schwabing. Dieses Geschwisterverhältnis, wie wir es aus Filmen kennen, hatten sie eigentlich nur für vier Monate!

Kultur Joker: Sie verschickten nicht nur tausende Flugblätter, sie schrieben zudem Parolen wie „Nieder mit Hitler“ oder „Freiheit“ an die NSDAP-Parteizentrale oder den Eingang der Maximilian-Universität in München. Woher nahmen sie diesen ungeheuren Mut?

Ellermeier: Es waren wohl sehr mondhelle Nächte im Februar 1943, als Hans Scholl und Alexander Schmorell loszogen, um „Massenmörder Hitler“ an Wände zu malen. In manchen Nächten war auch Willi Graf bei diesen enorm gefährlichen Aktionen dabei. Die Konfrontation mit dem Tod und dem Dahingeschlachtetwerden der Soldaten in Russland hat die jungen Männer radikalisiert. Hans Scholl schrieb einmal, er habe keine Angst vor dem Gefängnis und auch der Tod schrecke ihn nicht länger. Eigentlich wollte er keine Frauengeschichten mehr haben, aber dann hat er sich doch wieder verliebt.

Kultur Joker: Hatte Hans Scholls wechselhaftes Liebesleben einen Einfluss auf den Gang der Ereignisse?

Ellermeier: An den neuen Quellen sieht man, dass Hans Scholl selbst seine Ex-Freundinnen um Papier und Briefumschläge gebeten hat. Zum Jahreswechsel 1942/43 verliebte er sich in eine Freundin von Sophie, Gisela. Diese kam aus einer nationalsozialistischen Familie. Er glaubte, dass sie nichts von seinen Planungen ahnte. Aber sie hat natürlich etwas mitbekommen. Am Tag seiner Beerdigung ist sie freiwillig zur Gestapo gegangen und hat ein Geständnis abgelegt. Sie hat viele Namen genannt, mancher wurde extrem hart bestraft, nur weil er Hans Scholl gekannt hat.
Insgesamt hat die Gestapo 80 bis 100 Verdächtige befragt. Ich bin die erste, die versucht, die Zeit nach der Flugblattaktion vom 18. Februar 1943 nachzuvollziehen. Hingerichtet wurden sechs. Christoph Probst wurde im Hauruckverfahren mit Hans und Sophie Scholl zum Tode verurteilt.
Dabei war er an den Aktionen viel weniger beteiligt. Die jüdische Frau eines Geldgebers wurde ins KZ gebracht und kam dort um. Im letzten Kapitel meiner Hans-Scholl-Biographie beschreibe ich solche Schicksale.

Kultur Joker: Mit ihren Flugblattaktionen wollte die Weiße Rose beweisen, dass die NS-Indoktrination der Jugend misslungen war. Wieviel Widerstand regte sich in der deutschen Studentenschaft?

Ellermeier: Hans Scholl und Alexander Schmorell wollten die Studenten in München aufrütteln, aber diese haben nicht nachgezogen. Direkt nachdem die Geschwister Scholl verhaftet wurden, distanzierte sich die Studentenschaft von „diesen Hochverrätern“. Hunderte erhoben ihren Arm zum Hitlergruß und taten ihre Linientreue zum Nazistaat kund.
Bestimmt auch aus Angst, denn die Scholls wurden ja sofort zum Tode verurteilt. Trotzdem waren einzelne Studenten im Chemischen Institut von München weiter im Widerstand aktiv. In diesem Umfeld studierte übrigens auch Hildegard Hamm-Brücher.

Kultur Joker: Im Herbst 1942 erarbeiteten Hans und Sophie Scholl gemeinsam mit Alexander Schmorell Pläne für eine andere Regierungsform. Wie stellten sie sich diese vor?

Ellermeier: An dem Aspekt sieht man, dass die Weiße Rose keine durchorganisierte Gruppe war. Jeder einzelne hatte eine eigene Vorstellung, wie es nach dem Krieg weitergehen sollte. Hans Scholl stellte philosophische Überlegungen über Tyrannenmord und die richtige Staatsform an.
Er dachte an ein föderalistisches Europa, aber diese Ideen waren nicht ganz ausgegoren. Philosoph und Politiker, so hat er sich einmal selbst genannt. Seine Erkenntnisse wollte er praktisch umsetzen. Aber Hitler und sein System mussten ja zuerst einmal gestürzt werden.

Kultur Joker: Am 18. Februar 1943 ließen sich Hans und Sophie bei einer Flugblattaktion in der Münchner Universität widerstandslos durch einen Hausmeister verhaften. Ließen sie dies mit sich geschehen, weil sie nicht damit rechneten, ihr Leben aufs Spiel zu setzen?

Ellermeier: An ihrer Unvorsichtigkeit sind wahrscheinlich viele Faktoren beteiligt. Die Überarbeitung, der wenige Schlaf, die nächtlichen Aktionen, der Übermut. Als Historikerin kann ich die Geschehnisse nicht bis ins Letzte erklären. In meinem Kapitel über die Verhaftung lasse ich viele verschiedene Originalquellen sprechen: Die Verhörprotokolle der Gestapo, Briefe und Telegramme, Aussagen von Hans und Sophie Scholl. Der Leser soll sich seine eigene Meinung bilden können.

Kultur Joker: Was hat Hans Scholl uns heute noch zu sagen?

Ellermeier: Wenn man sich eingeschränkt fühlt, sollte man für seine Freiheit kämpfen. Und außerdem sollte man mehr Liebesbriefe schreiben.

Barbara Ellermeier – Hans Scholl (Hoffmann und Campe, geb., 499 S., Euro 24,99.