Im Gespräch: Martin Schmitz, Spaziergangswissenschaftler
Promenadologie oder Spaziergangswissenschaft klingt greifbar, umfasst aber weit mehr als eine Untersuchung der Gehmuster gemütlicher Spaziergänger. Professor Dr. Martin Schmitz publiziert und lehrt eine Wissenschaft, die nach den Grundlagen der Landschaftsbetrachtung fragt. Im Gespräch mit Fabian Lutz zeigt er auf, wie vielfältig die Urgründe seiner Disziplin sind, wie politisch die Spaziergangswissenschaft wird und warum Spazieren selbst doch ganz einfach ist.
UNIversalis: Herr Schmitz, wann waren Sie zuletzt spazieren?
Prof. Martin Schmitz: Gestern. Da bin ich von A nach B gegangen und – zur Kür – noch eine Runde mehr. Das ist dann der eigentliche Spaziergang.
UNIversalis: Machen Sie das häufig so? Erst der übliche Gang und dann die Kür?
Martin Schmitz: Das ist doch der reinste Luxus, zu spazieren und völlig absichtslos durch die Gegend zu laufen. So ein Erlebnis kann man auch nicht einfach wiederholen. Jeder Spaziergang ist ein Unikat. Man kann zwar immer die gleiche Strecke gehen, dabei aber immer wieder neue Dinge sehen.
UNIversalis: Ein offenes Experiment also?
Martin Schmitz: Ja, Sie können aber auch zum Beispiel immer nur geradeaus gehen oder sich die Strecke auswürfeln. Oder sie holen sich die Tiefbaupläne der Berliner Wasserwerke und folgen den Leitungen oberirdisch. Das sind Konzepte, mit denen Sie sich Räume und Landschaften erschließen können. Auch Stadtführungen sind ein Konzept, bei dem Menschen bestimmte Elemente einer Umgebung gezeigt und andere wiederum nicht gezeigt werden. Unser Spazierengehen bedeutet zunächst, sich jenseits dieser, auch professionellen Konzepte zu bewegen, also einfach mal loszulaufen.
UNIversalis: Eine „Kunst des Spazierens“ gibt es also nicht? Kann man „besser“ oder „schlechter“, vielleicht auch aufmerksamer spazieren?
Martin Schmitz: Es gibt nur eine Regel: Gehen!
UNIversalis: Ist das nicht überfordernd? Ich habe den Eindruck, dass Menschen, zumindest heutzutage, lieber zweckgerichtet oder geführt durch die Welt gehen.
Martin Schmitz: Stadtrundfahrten führen zu den Postkartenmotiven und werden von Touristen gerne angenommen. Das ist dann nur ein kleiner Ausschnitt einer Realität. Interessant ist, in der eigenen Stadt einmal solche touristischen Angebote wahrzunehmen. Heute werden so viele Vorstellungen von Landschaften und Städten durch die Massenmedien vermittelt wie nie zuvor. Schauen Sie sich zum Beispiel mal Zeitschriften wie die Landlust an. Das Magazin richtet sich nicht an Bauern, sondern an Menschen, die meistens in Metropolen wohnen, in Gegenden, wo ich mich frage, ob das noch Stadt oder schon Land ist. Es gibt Dutzende solcher Zeitschriften. Hier werden Vorstellungen von „Natur“ oder „Gesundheit“ vermittelt, in einer Zeit, wo es die Trennung von Stadt und Land gar nicht mehr gibt – und eine idyllische Landschaft vielerorts auch nicht mehr.
UNIversalis: Also keine idyllischen Ferien auf dem Bauernhof?
Martin Schmitz: Ferien auf dem Bauernhof bedeutet heute eher, mit 50.000 Mastschweinen zu frühstücken. Die Landwirtschaft ist industrialisiert, die Landschaft mit Logistikzentren, Serverparks und Verkehrsinfrastukturen bestückt.
UNIversalis: So ist aber keine Illusion aufrechtzuerhalten, oder? Die Leute müssen mit ihrer „Landlust“ ja enttäuscht werden.
Martin Schmitz: Die Illusion wird aufrechterhalten, indem sie gebaut wird. Gehen wir einmal zurück in die Stadt zum Thema „Autofreie Innenstadt“. Damit soll die neue Unwirtlichkeit der Städte bekämpft werden. Das aber führt genau in die falsche Richtung. Die autofreie Innenstadt ist eine Insel. Die verdrängten Fahrzeuge zum Beispiel führen zur Verelendung der Randbereiche wie in allen Städten mit Fußgängerzonen. Die verschiedenen Verkehrsmittel wie Auto, Fahrrad, Straßenbahn und Fußverkehr müssen integriert werden. Die „Pop-up-Radwege“ sind nur ein Provisorium. Aber es ist ein böses Problem: Wie installiere ich vier Verkehrsarten getrennt voneinander auf der existierenden Fläche einer Stadt. Das geht gar nicht.
UNIversalis: Was sind Pop-up-Radwege“?
Martin Schmitz: Das sind abgetrennte Bereiche nur für Fahrradfahrer, die entweder entsprechend gepinselt oder mit rotweißen Verkehrsstangen abgegrenzt sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Städte in Zukunft so aussehen.
UNIversalis: Klischeebilder vom Spaziergang in der Natur bestehen auch in den Köpfen der Menschen. Etwa im Bild des alten Mannes, der ruhig und mit Gehstock die Allee entlangspaziert. Oder hat das wieder ausgedient?
Martin Schmitz: Landschaft ist ein kollektives Bildungsgut. Ein Forschungsschwerpunkt der Promenadologie ist, wie Landschaft gelernt wird. Wir sehen ja nur das, was wir gelernt haben zu sehen. Kinder spielen mit leeren Getränkedosen, die Erwachsenden sprechen von „typisch Nordhessen“ und der erste Mensch auf dem Mond vom Grand Canyon. Dafür hätte er übrigens nicht so weit fliegen müssen. Jede Generation entwickelt in den Köpfen eine eigene Konstruktion von Landschaft. Anhand der Kunst- und Literaturgeschichte, durch Sprache und Bilder lassen sich diese Konstruktionen nachverfolgen. Die spannende Frage ist: In welcher Phase befinden wir uns heute?
UNIversalis: Eine wirklich spannende Frage. Was meinen Sie?
Martin Schmitz: In unserer Gegenwart konnten noch nie zuvor so viele Menschen so preiswert um die Welt reisen, noch nie zuvor gab es eine größere Mobilität. Das geht in den 1980er Jahren richtig los und findet etwa sichtbaren Ausdruck im finnischen Saunen hinter asiatischen Torbögen in Freizeitbädern. Ohne die vermehrten Weltspaziergänge per Billigflug wären die nicht lesbar. Es gibt also einen Zusammenhang von Mobilität und Gestaltung. An der Türkischen Riviera gibt es eine Hotelanlage in Gestalt eines Amsterdamer Straßenzugs mit der Gracht als Swimmingpool oder zwischen Frankfurt und Würzburg eine künstliche altfränkische Stadt als Factory-Outlet-Center. Dort fährt man in die Tiefgarage und geht in historischen Kulissen shoppen.
UNIversalis: Frisch erbaute historische Kulissen sind aber Teil vieler größerer Städte.
Martin Schmitz: Ja, sie sind jetzt Teil der „alltäglichen“ Stadtplanung wie die neue Frankfurter Altstadt zwischen Dom und Römer. Dort befinden sich neue Häuser, die alt wirken und Nachbauten tatsächlicher alter Häuser. Um die Dresdener Frauenkirche herum passiert Ähnliches. Neubauten erhalten barocke Fassaden. Ist das nur für den Tourismus? Rettet das eventuell eine Stadtstruktur? Macht es eine Stadt wieder bewohnbar? Wie wird die nächste Generation die Frage nach echt oder falsch beantworten?
UNIversalis: Corona-Zeit ist die Zeit der Spaziergänge und des Wiedererkundens eigener Landschaften. Das müsste doch auch ein Thema sein, das Sie interessiert.
Martin Schmitz: Corona bedeutet einen massiven Eingriff in die gesamte Mobilität. Keine Flüge mehr, Homeoffice oder Verödung der Innenstädte. Wohin also? Einige finden es im Harz wieder schön. Oder sie entdecken ihren eigenen Kiez zum ersten Mal in der Mittagspause im heimischen Büro, nachdem sie sich auf Mallorca immer besser ausgekannt haben. Interessant ist auch, dass die U-Bahnzüge kürzer wurden und die Menschen beengter sitzen mussten.
UNIversalis: Ihre Wissenschaft, die Promenadologie verbindet verschiedene Disziplinen, etwa Architektur, Kunst oder Geografie, aber auch wahrnehmungspsychologische Ansätze. Woher kommt dieser breite Zuschnitt?
Martin Schmitz: Der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt hat dieses Nebenfach in den 1980er Jahren im Fachbereich Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung an der Universität Kassel entwickelt. Er hatte bereits als Student Anfang der 1950er Jahre den Abriss gotischer Häuser und den Bau einer breiten Straße durch die Altstadt von Basel verhindert. Als einer von wenigen begriff er den autogerechten Umbau seiner Heimatstadt als Zerstörung und beschäftigte sich seit dieser Zeit mit der Gestaltung und Planung unserer Städte und Landschaften in einer Demokratie. So wurde er zu einem Vordenker der Städtebaukritik der ‘68er Generation, die den autogerechten Umbau in ganz Europa trotz Protest nicht verhindern konnte. Als in den 1980er Jahren fast alle Autobahnen gebaut waren und Charterflüge immer preiswerter wurden, untersuchte Burckhardt die enorm angestiegene Mobilität, die Auswirkungen auf die Wahrnehmung und die Rückkopplungen auf das Planen und Bauen. Eine bessere Bezeichnung für seine Forschung als „Spaziergangswissenschaft“ hätte sich Lucius Burckhardt allerdings nicht ausdenken können. Sie macht neugierig und: jeder Mensch kann spazierengehen. Vor allem aber würde eine existierende akademische Disziplin nicht ausreichen, um das Tätigkeitsfeld des Soziologen, wie sich Burckhardt selbst am liebsten bezeichnete, abzudecken. Burckhardt meinte einmal: „Wir nennen solche Forschung mangels eines besseren Begriffes Kunst.“
UNIversalis: So breit Ihr Forschungsfeld gefasst ist, so breit dürfte auch das Interesse der Öffentlichkeit an Ihrer Arbeit sein – ist das so?
Martin Schmitz: Seitdem ich 2004, nach dem Tod von Lucius Burckhardt, mehrere Bücher von ihm herausgegeben habe, toure ich mit Vorträgen durch Europa und erhalte viel Feedback. Ich bekomme Einladungen von der TU München, der ETH Zürich oder der Akademie in Wien, von Studenten und Studentinnen aus Weimar, vom Bürgerverein in Bad Dürkheim, dem Kultusministerium, komme aber auch ins Prättigau in der Schweiz, weil bei denen kein Schnee mehr liegt und sie sich fragen, wie sie nun ihre Landschaft nutzen können. Auch der PACT Zollverein, Initiator, Motor und Bühne für wegweisende Entwicklungen in den Bereichen Tanz, Performance, Theater, Medien und Bildende Kunst, war interessiert.
UNIversalis: Kommen wir noch einmal auf Lucius Burckhardt zurück. In welchem zeitlichen Kontext sehen Sie seine Ansätze verwurzelt?
Martin Schmitz: Lucius Burckhardt und seine Frau Annemarie Burckhardt begannen mit dem großen Thema der Nachkriegszeit, dem autogerechten Umbau ganz Europas. Dieses Problem existierte zuvor gar nicht, und somit gab es auch keine Fachleute für die Integration der individuellen Verkehrsmittel in eine bestehende Stadt. Dennoch begann der Umbau an vielen Orten und brachte die heftigen Proteste der ‘68er Generation, die nicht viel verhindern konnten und in der grasgedeckten Doppelgarage endeten. Die Kinder fressen ihre Revolution. Wohnen, Planen, Bauen, Grünen nannte Lucius Burckhardt eine seiner ersten Textsammlungen von 1985.
UNIversalis: Eigentlich fast überflüssig zu erwähnen, wie politisch dieser tiefgreifende Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge ist.
Martin Schmitz: Wir selber bauen unsere Stadt lautete 1953 der Titel eines Büchleins von Lucius Burckhardt, übrigens mit einem Vorwort von Max Frisch. Es folgen Fragestellungen wie „Wer plant die Planung?“, „Warum ist Landschaft schön?“ oder Formeln wie „Design ist unsichtbar“ oder „Der minimale Eingriff“. Seine gesamte Forschung versammelte Lucius Burckhardt in den 1980er Jahren unter dem Begriff „Spaziergangswissenschaft“. Aus unterschiedlichen fachlichen und beruflichen Perspektiven − als Wissenschaftler, Journalist oder Professor − analysierte er die sichtbaren und unsichtbaren Teile unserer menschgemachten Umgebungen – Städte und Landschaften, Politik und Gesellschaft. Als Soziologe interessierte ihn, wie wir durch Beschlüsse und Eingriffe die Umwelt beeinflussen und wie die Veränderungen auf uns zurückwirken. Oder anders gesagt: Sein Thema waren die Vorrausetzungen für Architektur und Gestaltung sowie deren Folgen.
UNIversalis: Vielen Dank für das Gespräch!
Biografie:
Professor Dr. Martin Schmitz, geboren 1956, studierte Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung bei Lucius Burckhardt an der Universität Kassel.
1983 veröffentlichte er das Buch Über die Kultur der Imbißbude. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit und seiner Tätigkeit als Kurator (Zusammenarbeiten mit der documenta in Kassel und dem Kunstkollektiv „Die Tödliche Doris“) ist Martin Schmitz seit 1989 Verleger von Büchern zu Themen in Architektur, Kunst, Film, Design, Musik, Theater und Literatur. Seit 2013 ist Martin Schmitz Professor an der Kunsthochschule Kassel.
Bildquellen
- Professor Dr. Martin Schmitz: Foto: Doris Spiekermann-Klaas, der Tagesspiegel