InterviewLiteratur

Im Gespräch: Jürgen Lodemann, Autor, Filmemacher, Kritiker und Moderator

Von der ersten bemannten Marsmission erzählt Jürgen Lodemann (*1936) in seinem neuen Roman Mars an Erde. Beim bloßen Vermessen der Oberfläche bleibt es dabei nicht. Die Astronauten stoßen auf ein unterirdisches Tunnelsystem und auf die tragische Vergangenheit des Roten Planeten. Am Ende des romanlangen Interviews mit Astronaut Dr. Frank Brandt steht eine Warnung für die ganze Menschheit. Unser Mitarbeiter Fabian Lutz sprach mit dem Autoren und ehemaligen Filmemacher, Kritiker und Moderator Lodemann über die Verlockungen eines trostlosen Planeten, engagierte Literatur, Fessenheim und einen missverstandenen Siegfried.

Kultur Joker: „Schluss mit den Blindheiten, for indeed there is NO Planet B.“ Ihr Marsroman zitiert die „Fridays for Future“-Bewegung und pocht auf baldiges Handeln. Passt da überhaupt noch der Begriff ‚Science-Fiction‘ oder klingt Ihnen das zu blumig und entfernt?

Jürgen Lodemann: Der Begriff „Science-Fiction“ lenkt den Blick leider oft zu Phantasmagorien, unerreichbaren Welten. Mein Marsroman handelt von Dingen, die technisch durchaus machbar sind und wahrscheinlich innerhalb der nächsten 50 Jahre tatsächlich umgesetzt werden. Da bin ich nicht mehr unter den Lebenden, die Geduld zu warten hätte ich aber sowieso nicht. Mein ‚Fakten-Bericht‘ basiert auf dem heutigen Wissen der Raumfahrttechnik und unserer Kenntnis des Planeten Mars.

Kultur Joker: Der Untertitel des Romans ist „Beschreibung eines Planeten“, die Form die eines Interviews. Es entsteht tatsächlich der Eindruck, man hätte einen Faktenroman vor sich.

Jürgen Lodemann: Der Untertitel bezieht sich auf Marie Luise Kaschnitz‘ Erzählung Beschreibung eines Dorfes, eine Beschreibung Ihres Schwarzwälder Heimatortes Bollschweil. Ihre Erzählung war mir für diese Arbeit auch Vorbild. Sie rät mir: Bleib bei den Fakten! So sehr es mich auch zu Fantasien gereizt hat… Auch Fantasie war für meinen Roman nötig, aber eben auf der Basis dessen, was man heute wissen kann.

Kultur Joker: Der öde Planet Mars kann kein „Planet B“ sein. Lenken Raumfahrtpläne nicht von dem ab, was auf der Erde getan werden muss, auf dem Planeten, der noch nicht verstaubt und verbrannt ist? Sind solche Reisepläne nicht eine Flucht?

Jürgen Lodemann: Nach riskantem Flug über 50-Millionen Kilometer erwartet die Astronauten kein freundlicher Nachbarplanet. Der Mars ist seit langem verbrannt, verstrahlt, ruiniert. Wasser und Sauerstoff fehlen, auch wenn Spuren bezeugen, dass es früher beides gab. Und warum verschwanden die? Die Atmosphäre ist lebensfeindliches Abgas. Der Mars hat trotzdem immer fasziniert, weil er so viele Ähnlichkeiten mit der Erde zu haben scheint. Die Verlockung liegt nicht nur in der Flucht in eine Anderswelt, sondern auch darin, dass der Mars eine Art Erdspiegel ist. Womöglich weist der Mars in unsere eigene Zukunft.

Kultur Joker: Das klingt visionär. In Bezug auf die Entdeckungen der Marsfahrer, die wir hier allerdings nur anreißen wollen, heißt es in Ihrem Roman bereits zu Beginn: „Das kippt unsere Zeittafeln.“

Jürgen Lodemann: Vieles deutet darauf hin, dass die Entwicklung des Lebens auch auf dem Mars geschehen ist, nur viel früher als auf der Erde. Wie viele Wissenschaftler bin ich der Meinung, dass es sich lohnt, den Mars mit Astronauten zu erforschen, vor allem dessen Unterwelt.

Kultur Joker: Wie die Astronauten in Ihrem Roman.

Jürgen Lodemann: Die Unterwelt des Mars ist bereits von unbemannten Sonden bemerkt worden. Es gab auf dem Mars einen starken Vulkanismus. Der größte Berg unseres Planetensystems steht auf dem Mars und ist ein Vulkan, der Olympus Mons. Dieser Vulkanismus hat unterhalb der Oberfläche viele Höhlungen geschaffen. Dorthin ist noch kein unbemanntes Fahrzeug gelangt. Das können vor allem Menschen mit Hand, Fuß und Hirn.

Kultur Joker: In Ihrem Roman machen die Protagonisten in den Unterwelten des Mars wegweisende Entdeckungen. Glauben Sie, dass dort tatsächlich etwas gefunden werden kann?

Jürgen Lodemann: Ich bin mir sicher, dass dort etwas gefunden wird. Gerade dort müssen Reste von früheren Epochen des Mars zu finden sein. Wenn sich auf dem Mars einmal intelligentes Leben entwickelt hat, dann hat diese Intelligenz auch Spuren hinterlassen – für Ihresgleichen, für eine Nachwelt. Der Mensch neigt auch dazu, seiner Nachwelt Informationen über sein Leben zu hinterlassen, alles was schön war, aber auch was gefährlich wurde. Das Hohe wie das Niedere unseres seltsamen Daseins ist mitteilenswert.

Kultur Joker: Die Mitteilungen des interviewten Protagonisten und Astronauten Dr. Frank Brandt stehen in sehr poetischer, metaphernreicher Sprache. Das Marsfahrzeug „Turmoil“ wird etwa zum Sinnbild des Trubels, den die Ergebnisse der Marsfahrer für die Erde bedeuten könnten. Neben Marie Luise Kaschnitz beziehen sich Ihre Figuren noch dazu auf Literaten wie Georg Büchner, Goethe oder Schiller. Welche Bedeutung hat das Literarische für Ihren ‚Fakten-Bericht‘?

Jürgen Lodemann: Literatur und Realität ergänzen einander, fordern sich heraus. Ich wundere mich, dass Sie von einer sehr poetischen Sprache sprechen. Stellen Sie sich vor, Sie sind dieser fremden und doch irgendwie vertrauten Umgebung des Mars ausgeliefert und versuchen, schwer Fassliches zu vermitteln, Unsägliches zu sagen.

Kultur Joker: Ihrem Roman geht ein Zitat Heinrich Heines voran, der von der „Erklärung der Menschheitsrechte“ spricht. Heine gilt als politisch-engagierter Schriftsteller. Was kann Literatur für die Politik tun?

Jürgen Lodemann: Literatur fragt immer neu nach den Umgangsformen zwischen Menschen. Wie können wir miteinander leben, ohne uns selbst oder unsere Mitwelt, die Nachbarn, die Luft, das Wasser, die Böden zu vernichten? Schon in unserem sehr alten Nibelungenlied geht es zwischen den Menschen, die sich eigentlich vertragen wollen, drunter und drüber. Schließlich ermorden sie sich. Warum? Was sind die Ursachen? Was tickt bei uns nicht richtig?

Kultur Joker: Sie sind nicht nur Autor, sondern haben als Filmemacher, Kritiker und Moderator auch das deutsche Fernsehen geprägt, mit Formaten wie „Literaturmagazin“ oder „Café Größenwahn“. Das Interviewformat Ihres Romans ließ mich oft daran denken.

Jürgen Lodemann: Als Filmemacher habe ich 30 Jahre mit dem Medium Bild gearbeitet und mir die Frage gestellt, wie man Literatur über das Fernsehen vermitteln kann. Wie stelle ich meine Gäste dar, die Gesichter und Bewegungen von lebhaften Menschen wie Fritz J. Raddatz und Marcel Reich-Ranicki? Aber mein Amt war auch, solchen Menschen aufreizende Fragen zu stellen. Oft musste ich nur Stichworte liefern und schon ging es los. Reich-Ranicki war jemand, der sehr optisch agierte, gestisch und mimisch.

Kultur Joker: Ihr Roman kennt viele Vergleiche zu deutschen Regionen. Die Landefläche für das Raumschiff wird zum „Feldberg“ und auch der Mars bekommt sein Höllental. Die Unterwelt des Mars vergleicht Astronaut Frank Brandt mit den Zechengruben im Ruhrgebiet, Ihrer Heimatregion.

Jürgen Lodemann: Als Autor habe ich zur Verfügung, was mir das Leben lieferte. Ich bin Kind gewesen im Krieg, unter Nazis. Mit sechs Jahren habe ich den Beginn des Bombardements im Ruhrgebiet erlebt. Und die Bunker im Ruhrgebiet waren sehr sicher, weil sie in sichere Zechengruben führten, in Unterwelten bis zu tausend Metern Tiefe. Doch auch der Schwarzwald war mir schon früh wichtig und zauberhaft. Studieren wollte ich nicht in meiner Heimatregion, sondern möglichst weit entfernt. München war nach dem Krieg so kaputt wie das Ruhrgebiet. Aber mit der starken Selbstgewissheit der Bayern hätte ich sowieso meine Probleme bekommen.

Kultur Joker: Besser also die badische Lässigkeit?

Jürgen Lodemann: Ja, Das Badische schien mir milder. Schwarzwald klang gut in den Erinnerungen der Erwachsenen, vor allem in den Erinnerungen meines Großvaters. In Freiburg konnte ich neben der Literatur sehr gut naturwissenschaftliche Geografie studieren. Im Literarischen gerät man oft in Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Also lernte ich in Freiburg gern Geologie, Boden- und Klimakunde, Grundlagen unseres materiellen Daseins.

Kultur Joker: Freiburg sprachen Sie in einem Artikel in der Badischen Zeitung von 2011 die Historie und den Eigensinn zu, der die Stadt auch zu Europas Kulturhauptstatt machen könnte. Worin liegt dieser Eigensinn?

Jürgen Lodemann: Die „Fridays for Future“-Bewegung hatte in Freiburg beste Startbedingungen, das fand bundesweit Beachtung. Eigensinn hatte Freiburg aber auch gegenüber den regierenden Schwaben, wie bereits die ältere Literatur zeigt. Wilhelm Hauff unterscheidet in seinem Märchen Das Kalte Herz von 1827 sehr deutlich den badischen vom schwäbischen Schwarzwald. Er wolle nur über den badischen Schwarzwald berichten, da fände er die besonders eigensinnigen und aufrichtigen Menschen. „Wo viel Geld ist, wird alles unredlich.“ Wenn der junge Stuttgarter Dichter Hauff das schon so sah, lässt sich dagegen wenig einwenden.

Kultur Joker: Eigensinn und Widerstand sind grundsätzlich für den politischen Protest. Den hatte Freiburg unter anderem mit seinen unzähligen Demonstrationen gegen das elsässische Kernkraftwerk Fessenheim. 2013 unterstützten Sie mit Ihrer kritischen Novelle „Fessenheim“ die badischen Proteste. Seit Ende Juni ist Fessenheim nun vom Netz. Sind Sie erleichtert?

Jürgen Lodemann: Meine Novelle teilt mit, dass noch 40 Jahre lang Spuren beseitigt werden müssen. Und ein ‚Endlager‘ bleibt unmöglich, wird zum Unendlichlager. Ich bekam viele rührende Zuschriften: „Lodemann, sind Sie nicht glücklich? Endlich ist es geschafft!“ Ja, wäre schön, wenn es geschafft wäre! Leider haben wir mit dem Unsinn Atomkraft ähnlich dumm angefangen wie mit dem lebensgefährlichen Tiefbahnhof in Stuttgart, der nie funktionieren wird, so wie die Atomkraft nie wegen der ‚Endlager‘. Selbst unter den dicken Granitschichten in Skandinavien bleiben sichere Endlager immer im Unsicheren, der Granit in Skandinavien hebt sich seit dem Ende der Eiszeit. Und auch Fessenheim wird uns lebenslang verfolgen.

Kultur Joker: Wohin geht Ihr Blick nun? Können wir weitere Ausflüge in die ‚Science-Fiction‘ erwarten?

Jürgen Lodemann: Eigentlich habe ich schon immer ‚Science-Fiction‘ geschrieben, weil ich beim Schreiben immer auch an die Zukunft denke. Mein Roman Salamander brachte das Thema der diversen Geschlechtsidentität 2011, also noch vor der politischen Debatte. Mehr und mehr interessiert mich das Thema ‚Korrekte Vermittlung‘. Von Vermittlung hängen wir alle seit je ab. Da droht ständig gefährliche Verführung, Verwirrung.

Kultur Joker: Inwiefern?

Jürgen Lodemann: Das Nibelungenlied zum Beispiel war lange so etwas wie eine deutsche Leitgeschichte, nicht nur im Mittelalter. Nach der Entdeckung der alten Handschriften ist das Epos immer mehr ‚romantisch‘ entstellt und verdreht worden, zu all dem, was man sich mehr und mehr wünschte als deutsche Reichs- und Heldengeschichte. Eine Neudeutung der alten Texte ist überfällig. Nach meinen Kenntnissen hat es die Germanistik nach der verlogenen Nazizeit verschlafen, die Hauptfigur Siegfried als überaus hilfreiche Figur der Friedfertigkeit überhaupt noch zu erkennen. Dass nämlich dieser Siegfried tatkräftig Kriege vermeidet, Frieden stiftet und stattdessen Versöhnungen schafft, Festspiele, Gastmahle nach Vorbildern aus dem Alten Testament, das wurde früh folgenreich ignoriert.

Kultur Joker: Also keine Kriegs-, sondern eine Friedensgeschichte?

Jürgen Lodemann: Das riesige Epos lässt sich nur als Friedensappell korrekt verstehen, nicht zufällig wurde es von Geistlichen verfasst, was Germanisten immer wieder rätselhaft fanden. Friedensstifter Siegfried ist, wenn man den Wortlaut endlich ernst nähme, ganz und gar ungeeignet zu kriegerischer Hetze gegen Nachbarvölker oder andere Religionen! Der Titel meines neuen Schauspiels ist Siegfrieds Ermordung. Doppeldeutig gemeint. Ermordet wurde die Figur durch textferne und selbstherrliche Germanisten, auch durch den fälschenden Richard Wagner.

Kultur Joker: Sie haben also ein Gegenprogramm, ein ‚Fakten-Spiel‘ vielleicht?

Jürgen Lodemann: Die gewaltige europäische Geschichte von den Nibelungen versuche ich seit je jedermann verständlich zu machen. Mittlerweile in einer Bühnenfassung, am besten zu realisieren in den monumentalen Industriebauten der Zwölf-Großstädte-Stadt Ruhr – „Jahrhunderthalle“ in Bochum und „Zeche Zollverein“ in Essen. Wünschen Sie mir „Glück auf!“ für meine letzten Jahre!

Kultur Joker: Das tun wir! Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!

Jürgen Lodemann, „Mars an Erde“, Klöpfer, Narr 2020.

Bildquellen

  • Lodemann liest seine Neudeutung des Nibelungenlieds in Stuttgart 2003: Promo