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Im Gespräch: Chick Corea, Jazzmusiker (Zum Tod von Chick Corea, Archiv 2001)

Zum Tod des international renommierten Jazzmusikers Chick Corea haben wir eines unserer Gespräche mit ihm aus dem Archiv geholt. In diesem Interview aus dem Jahr 2001 spricht er über seine Arbeit als Musiker, den Verfall der Kultur durch stetig heranwachsende Intoleranz gegenüber anderen Ethnien und Religionsgemeinschaften sowie den Auftrag der Kunst dagegen anzukämpfen.

Chick Corea, einer der bedeutendsten Jazzmusiker, feierte in diesem Jahr (2001) seinen 60. Geburtstag. Aus diesem Anlass findet im Dezember in New York eine dreiwöchige Konzertreihe statt, bei der die renommiertesten Jazzgrößen dem großen Pianisten ihre Referenz erweisen werden.
Nach einigen sporadischen Konzerten auf europäischen Bühnen im Juli ist Chick Corea derzeit auf großer Europatournee. Beim Großteil dieser Auftritte wird man Corea solo am Piano erleben können, vier Konzerte spielt er im Duett mit dem kubanischen Pianisten Gonzalo Rubalcaba.Unser Redakteur Walter Fischer sprach mit dem Musiker.

Kultur Joker: Warum sprechen Sie beim Titel Ihres neuen Albums „Past, Present and Futures“ von Zukunft im Plural?

Chick Corea: Ich denke, das ist ein wichtiger philosophischer Gedanke. Die Zukunft, das ist eine große Verallgemeinerung. In Wirklichkeit wird die Zukunft im Kopf und in den Gedanken jedes Einzelnen gemacht. Wenn man eine Idee hat, dann wird die Zu einer Zukunft, sobald man sie umsetzt. Wenn ich z.B. ein zweites Piano-Konzert schreiben werde, was ich hoffe, dann ist das eine Zukunft. Wenn ich eine künstlerische Pause machen werde, was ich ab dem nächsten Jahr vorhabe, dann ist das eine Zukunft. Ich glaube, jede Idee ist eine Zukunft. Es ist eine Kreation. Von „Zukünften“ zu reden, ist für mich realer als der abstrakte Begriff „Zukunft“.

Kultur Joker: Sie sagten, dass Sie eine Pause einlegen wollen. Haben Sie das Gefühl, dass Sie eine Pause brauchen?

Chick Corea: Ganz sicher! Ich bräuchte schon seit langen mal eine Pause und habe sie mir einfach nicht genommen. Und jetzt ist eine gute Zeit für mich, eine Pause zu machen, tief durchzuatmen, in den Himmel zu schauen, im Golf von Mexiko schwimmen zu gehen, und mich mit meinem neuen Enkel zu beschäftigen, der im Dezember kommen wird.

Kultur Joker: Warum sind Sie derzeit nicht mit ihrem „New Trio“ auf Tournee, sondern spielen im Duett mit Gonzalo Rubalcaba?

Chick Corea: Diese Tour begann eigentlich als eine Ersatztournee für letztes Jahr. Ich sollte im vergangenen Jahr eigentlich auf eine Solo-Tournee gehen, die ich dann aber aus gesundheitlichen Gründen absagen musste. Aber ich hatte versprochen, dass ich kommen würde – und dieses Versprechen löse ich gerade ein.

Kultur Joker: Alleine, als Solopianist, auf Tour zu gehen, hatten Sie keine Lust?

Chick Corea: Es ist eigentlich eine Solo-Tour; die Konzerte mit Gonzalo sind eine Ergänzung dazu. Während meine Solo-Tour vorbereitet wurde, kam irgendwie der Gedanke auf, Gonzalo auch mit zu integrieren. Da wir sowieso schon lange zusammen spielen wollten, wurde das dann ziemlich schnell konkret. Ich spiele zehn Konzerte in Deutschland und zehn in Frankreich – aber nur vier Konzerte zusammen mit Gonzalo.

Kultur Joker: Haben Sie dafür geprobt?

Chick Corea: Nein, haben wir nicht. Wie haben das erste Mal vor zehn Jahren bei dem großen Mount Fuji-Jazz Festival in Japan zusammen gespielt. Alles improvisiert – und es war großartig. Seither haben wir fast nie mehr gemeinsam gespielt. Diese vier Doppelkonzerte werden also ein weiteres Experiment sein, es gibt keinerlei Vorbereitung dafür.

Kultur Joker: Sie spielen seit Ihren frühen Kindertagen Piano und beherrschten das Instrument schon bald meisterhaft. Was hat sich an Ihrem Spiel in den letzten 30 Jahren verändert?

Chick Corea: Ich betrachte mein Leben als Pianist als eine Folge von immer weiteren Ergänzungen. Ich eigne mir eine Technik oder einen Stil aus bestimmten musikalischen Bereichen an und arbeite dann in diesem Umfeld. Dann interessiere ich mich für ein anderes musikalisches Umfeld, nehme davon etwas auf und ergänze es zu meinem Spiel. Dann wieder ein neues Umfeld und so geht es immer weiter.

Kultur Joker: Sie spielten mit Miles Davis auf dem wegweisenden Album „Bitches Brew“. Welche Bedeutung hat dieses Album im Rückblick in der Geschichte des Jazz?

Chick Corea: Eines meiner Kriterien für den Wert von Ereignissen wie diesem, ist die Reaktion der Öffentlichkeit, weil die das Resultat ist. Wenn man einen Kieselstein in Wasser fallen lässt, dann ist das Fallen eine einfache Sache. Interessant ist, was dann mit den kleinen Wellen auf dem Wasser geschieht – und das entspricht der Reaktion der Öffentlichkeit. In diesem Sinn nahm die Öffentlichkeit die Wellen sehr ernst. Zu jener Zeit dachte kein einziger der beteiligten Musiker daran, irgendwelche neuen musikalischen Wege zu beschreiten. Es war zwar neu, was wir auf „Bitches Brew“ machten, aber wie haben damals mit allen möglichen Dingen herumexperimentiert. Und diese bestimmte Aufnahme hat sich als sehr interessant für das Publikum herausgestellt.

Kultur Joker: Einer Ihrer Kollegen, Jack Bruce, sagte mir vor kurzem, dass Jazz für ihn eine tote Musik wäre, und dass speziell Fusion ein Nagel in den Sarg des Jazz war …

Chick Corea: Für mich ist Jazz Cecil Taylor. Oder die Möglichkeit, über Mozarts Kadenzen zu improvisieren. Oder, wenn ich meine dreijährige Tochter auf dem Klavier improvisieren höre. Jazz ist für mich so viele verschiedene Dinge …
Ich glaube, was ein Nagel im Sarg der Kunst ist, ist der Verfall der Kultur. Diese Überlegung hat durch die kürzlichen Ereignisse in New York und Washington noch vielmehr Bedeutung bekommen. Die Art, wie Kultur gebildet wird, wie die Menschheit und die Gewichtungen innerhalb der menschlichen Gesellschaft sind, all die negativen Teile darin, das sind die Nägel im Sarg. Denn ein künstlerischer Geist in jedem Menschen, es ist nichts, was für sogenannte Künstler reserviert wäre.
Wenn man eine tolerante Kultur hat, in der die Kunst sich entfalten kann und wo das Denken des Einzelnen respektiert und nicht unterdrückt oder zerstört wird, dann kann die Kunst blühen und gedeihen. Und in dieser Welt müssen die Künstler dafür kämpfen, ihre Ideen und Gedanken frei zu halten.

Kultur Joker: Wenn Sie über den „Verfall der Kultur“ sprechen, meinen Sie dann bestimmte Kulturen oder reden Sie von Kultur allgemein?

Chick Corea: Was ich meine, ist die gesamte Kultur der Menschheit. Die Kultur des Planeten befindet sich ganz offensichtlich in einem Zustand des Verfalls. Es gibt nach wie vor so viel intolerantes Verhalten zwischen den einzelnen menschlichen Rassen, dass eine Situation, wie wir sie gerade haben, entstehen konnte. Wie kann so viel Hass entstehen, dass jemand eine solch geisteskranke Tat begeht? Krieg ist immer ein geisteskranker Akt, aber das hier ist kein Krieg, das ist noch viel verrückter als Krieg. Dies ist eine komplette Geisteskrankheit von Mördern und kalt kalkulierenden Psychoten. Wie können Menschen nur zu einer solch wahnsinnigen Tat getrieben werden? Das muss durch Intoleranz geschehen, dass wir sie aus der Gesellschaft vertreiben wollen. Und diese Intoleranz ist das Problem der Gesellschaft.

Kultur Joker: Wo waren Sie am 11. September?

Chick Corea: Wie waren zuhause in Florida, und meine Frau Gail wurde von einer Freundin angerufen. Wir schalteten den Fernseher ein und sahen die Aufnahmen. Das war zwei Stunden nachdem es geschehen war. Ich habe viele Freunde in New York, die es mit eigenen Augen gesehen haben.

Kultur Joker: Halten Sie die Reaktionen von Präsident Bush für angemessen?

Chick Corea: Ja. Ich unterstütze die Tatsache, dass er die Mörder festsetzen will. Die ganze Welt wäre erleichtert, wenn die eigentlichen Drahtzieher gefasst werden könnten. Die Gefahr besteht darin, einzelne Gruppen ins Visier zu nehmen. Ethnische Gruppen, religiöse Gruppen usw. Ich glaube, das ist nicht gut. Es könnte zu den üblichen menschlichen Dilemmata der Intoleranz gegenüber einzelnen Religionsgemeinschaften oder Nationen führen, nur wegen der Taten einiger weniger Menschen.
Wenn man sich die Nachrichten anschaut, dass sehe ich keine schlagenden Beweise für irgendwas. Es sind momentan alles Anschuldigungen.

Kultur Joker: Können Künstler einen Beitrag für mehr Toleranz und für die Überwindung ideologischer Differenzen leisten?

Chick Corea: Ganz sicher! Das ist für mich das wichtigste Thema überhaupt. Die Toten, die Opfer und die Familien der Opfer – das ist hart und man muss ihnen helfen. Künstler und Religionen spielen eine große Rolle dabei, dass Menschen Freiheit, Wahrheit und Aufmerksamkeit finden, und dass wie zu einem Punkt gelangen, von dem aus wir uns über die Intoleranz erheben können.

Kultur Joker: Chick Corea, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Bildquellen

  • Im Gespräch: Chick Corea: Kultur Joker 2001