Im Gespräch: Angeli Janhsen – Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Freiburg
Angeli Janhsen (*1957) ist Professorin für Kunstgeschichte am Kunstgeschichtlichen Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, mit besonderer Berücksichtigung der modernen und zeitgenössischen Kunst. Sie hat in Bochum sowie in Pisa, Venedig und London studiert und war Assistentin bei Max Imdahl. Ihre Forschungsschwerpunkte sind moderne und zeitgenössische Kunst, Fragen zum Umgang mit neuer Kunst, aber auch Geschichte der Kunsttheorie sowie Renaissancemalerei. Professor Angeli Janhsen ist Vorsitzende der Kunstkommission der Stadt Freiburg und der Kunstwissenschaftlichen Gesellschaft, für die sie z.B. die Vortragsreihe „Was ist ein Künstler“ organisiert hat. Unsere Mitarbeiterin Cornelia Frenkel hat sie zu ihren Büchern befragt, darunter „Neue Kunst als Katalysator“ sowie „Gut schreiben über neue Kunst“.
UNIversalis: Sicherlich haben Sie immer wieder zu hören bekommen „… und das soll Kunst sein?!“
Angeli Janhsen: Ich finde die Frage gut. Neue Kunst sieht ja tatsächlich oft nicht aus wie Kunst. Da gibt es die verrücktesten Angebote. Zum Beispiel bietet Yoko Ono in ihrem „Lighting Piece“ nur ein Handlungsanweisung an: „Light a match and watch till it goes out“ (1955). Das kann man für Unfug halten, da kann man sich beleidigt fühlen. Aber wer das ernst nimmt (und die Anweisung wirklich befolgt), hat die Gelegenheit, ganz anspruchsvolle Gedanken zu entwickeln und etwas über Leben und Tod und seine eigene Zeit zu verstehen. Bei anderen Arbeiten denkt man vielleicht auch zuerst einmal an Unfug: Joseph Beuys hat seinen Studenten die Füße gewaschen. Hoffentlich hat man da die Bibelstelle im Sinn, wo berichtet wird, wie Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen hat. Dann kann man mal wirklich über Sinn nachdenken. 1967 ist der britische Künstler Richard Long im Gras hin und her gegangen, bis eine Linie entstand. Da kann man sich fragen, was Künstler tun, was Spuren sind, was bleibt – und was uns treibt im Leben.
Was Kunst ist, hat sich immer geändert und ändert sich immer. Es gab ja auch früher nicht immer Bilderrahmen oder Sockel oder Signaturen. Eigentlich ist es eine ganz kurze Zeit, die normativ zu sein scheint. Da sollte man entspannt sein und bei Neuem erst einmal nicht auf sofortige, allgemeingültige Definitionen hoffen. Ich finde es sinnvoll, hier eine Kategorie wie „Kunstverdacht“ parat zu haben, darüber habe ich geschrieben. Ob etwas Kunst ist oder nicht, ist eigentlich egal. Man sollte etwas als „Kunstverdächtiges“ ernst nehmen, wenn es einen irritiert, betrifft. Oder wenn einem etwas irgendwie klug erscheint, wenn man sieht, dass ein Künstler weiß, was er tut. Man sollte dem einfach erst einmal eine Chance geben.
UNIversalis: Die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts war eine der Ordnungssysteme, schreiben Sie, das zeitgenössische Kunstverstehen finde hingegen als offener Diskurs statt. Was hat dies zur Folge und was ist bei Neuer Kunst anders als bei traditioneller Kunst?
Angeli Janhsen: Göttliche Regeln und allgemeingültige Gesetze sind heute infrage gestellt von Selbstbezogenheit und Relativismus. Wenn man keinen Überblick haben kann und wenn jeder jeweils seine Perspektive verfolgt, entsteht leicht ein Dickicht, ein Netz, ein Rhizom, wo man hier und da einen Faden zu fassen kriegt oder einen Knotenpunkt ahnt, wo aber eigentlich jeder einzelne sich eher ausgeliefert und machtlos fühlt. Da nutzt es überhaupt nicht, so zu tun, als ob das nicht so wäre. Künstler haben ja heute auch keinen Überblick und keine Lösung, sie geben keine Utopie, sie zeigen oft keinen Ausweg, weil sie da selbst misstrauisch sind. Wenn Künstler jetzt eher jeden Einzelnen ansprechen, vielleicht Fragen wirklich angehen, vielleicht provozieren, vielleicht selbst exzessiv etwas ausprobieren, dann stellen sie Ordnungen in Frage.
UNIversalis: „Neue Kunst als Katalysator“ ist eines Ihrer Bücher betitelt, in dem Sie Arbeiten von rund 17 Künstlern vorstellen, darunter Sophie Calle, Yoko Ono, Jochen Gerz, Richard Long, Christian Boltanski. Wie ließe sich das Gemeinsame dieser Arbeiten umschreiben, was treibt sie an?
Angeli Janhsen: Alle diese Künstler gehören nicht in eine Kategorie wie „Expressionismus“ oder „Land Art“. Einen Begriff wie „Katalysatorkunst“ gibt es so noch gar nicht. Aber alle diese Künstler machen Kunst, die so funktioniert, dass sie sich an einzelne Rezipienten wendet und nicht an Kollektive. Und sie alle geben keine Botschaften, sondern ermöglichen den Rezipienten, selbst etwas zu entwickeln. Alle geben Anstöße. Alle intensivieren jeweilige Prozesse – eben wie Katalysatoren das tun. Was die 17 Künstler (und viele andere) antreibt, kann ich natürlich so gar nicht verallgemeinern, jeder ist da anders – aber ich kann als Kunsthistorikerin schon zeigen, dass diese Kunst gerade heute wichtig ist. Wenn es heute normal ist, dass jeder sich selbst optimiert, auf sich selbst vertraut, aber gleichzeitig unsicher ist, dann gibt es einen Bedarf an solcher Kunst. Mit dieser Kunst wird etwas auf die Spitze getrieben, so dass man eine Situation und sich selbst neu verstehen kann.
UNIversalis: In Ihrem Buch „Gut schreiben über neue Kunst“ stellen Sie Besonderheiten der Kunst seit dem 19. Jahrhundert vor und geben Hinweise, wie sich historische Veränderungen verstehen lassen. Wer z.B. über minimalistische, konzeptuelle oder performative Kunst schreiben will, kommt mit traditionellen Kategorien nicht weit. Welches Rüstzeug wollen Sie Ihren Studentinnen und Studenten an die Hand geben?
Angeli Janhsen: Ich möchte, dass Schreiber nicht alte Schemata auf das beschriebene Neue legen – bei neuer Kunst ist das noch falscher als bei alter – sondern von den Besonderheiten der jeweiligen Kunst ausgehen. Und weil neue Kunst, siehe oben, sehr oft subjektive Rezipienten anspricht, möchte ich Schreiber ermuntern, sich selbst zu trauen. Ich möchte sie aufmerksam machen. Und natürlich geht es bei solchen etwas schrägen, unerwarteten Problemen erst recht um genaue Sprache. Bei alldem finde ich entlastend, dass man in der Moderne ja weiß, dass Kommunikation so problematisch ist. Mit Aufmerksamkeit für die Sache und Vertrauen in sich selbst sollte viel gewonnen sein – jedenfalls gibt es nur dann, wenn man nicht, um welchen Preis auch immer, wiedererkennen und einsortieren und beherrschen will, eine Chance, das Neue zu verstehen. Neue Kunst ist keine Rätselaufgabe, die man lösen muss, sie ist Anstoß.
UNIversalis: In Ihrem Buch „Kunst selbst sehen“ regen Sie dazu an, einen individuellen Weg zu suchen, ohne sich durch Angebote wie Audioguides, Saaltexte und Führungen beeinflussen zu lassen. Woher diese Skepsis gegen Vermittlungsangebote?
Angeli Janhsen: Ich will ja überhaupt nicht, dass jemand nur seine eigenen Ideen verfolgt und im eigenen Saft schmort. Ich finde das Nutzen von Informationen gut. Aber jemand, der Kunst wie eine Rätselaufgabe versteht, verpasst das, was Kunst eigentlich kann: Irritieren, Neues zeigen, Sinn in Frage stellen, total Unerwartetes möglich machen. Die allermeisten Audioguides (und Führer und andere „Vermittlungs“-Instanzen) bleiben weit unter den Möglichkeiten von Kunst. Natürlich soll man zum Beispiel nachsehen, wo Yoko Ono ausgebildet ist oder wer Prometheus ist, man muss vielleicht wissen, was Richard Long oder Joseph Beuys oder Christian Boltanski sonst tun – aber wer sich nicht wirklich auf solche Kunst einlässt, verpasst alles. Ich habe oft gesehen, dass Kunst ganz unerwartet ist und dass sie ganz unerwartete Einsichten ermöglicht. Es kann doch nicht sinnvoll sein, etwas wirklich Neues nur durch die kleinen Filter zu betrachten. Pädagogische Angebote in Museen und anderswo können sinnvoll sein, Kunstvermittlung kann sinnvoll sein, aber es ist ganz unwahrscheinlich, dass ausgerechnet jemand, der dort vielleicht grad einen Job macht, einen Weltklassekünstler angemessen dolmetscht. Kunsthistoriker und Kunstvermittler sind doch auch beschränkt. Jedenfalls sollten Rezipienten sich nicht zu schnell „belehren“ lassen und jedenfalls selbst sehen und fragen lernen.
UNIversalis: Wie zuletzt Psychologinnen und Psychologen der Universität Basel herausgefunden haben, bleiben die meisten Rezipienten bei ihrem eigenen Geschmacksurteil, selbst nach ausführlicher Information. Entscheidend ist, ob ein Werk gefällt und welche Emotionen es hervorruft. Was aber ist dann die Aufgabe des Kunst-Wissenschaftlers und Kunstkritikers?
Angeli Janhsen: Heute sind Kunstwissenschaftler und -kritiker wichtig, weil Kunst für unsere Kultur einen großen Stellenwert hat. Vielleicht vertreibt man sich die Zeit in Ausstellungen, vielleicht findet man es irgendwie schön, vielleicht sucht man Sinn – jedenfalls interessieren sich heute viele Menschen für Kunst.
Aber es wäre falsch, Kunst einfach nur für irgendwie neu oder irgendwie schön zu halten. Oft redet man über Kunst und Politik und Sport, als wäre da jeder kompetent. Bei Ärzten, Piloten oder Ingenieuren erwartet man Kompetenz, deren Arbeit würde man nie selbst machen. Auch Kunst hat Voraussetzungen, Künstler sind vielleicht sehr spezielle Menschen. Kunsthistoriker sollten kompetent sein im Umgang damit. Es gibt gerade heute sehr anspruchsvolle Kunst. Es gibt aber eben auch viel anderes, was schnell gebastelt ist und eigentlich armselig ist. Da können oft erst einmal nur Kunsthistoriker und Kunstkritiker Angeberei oder Dekoration von Sinnvollem unterscheiden. Nur Fachleute haben Vergleichsmöglichkeiten und können große Zusammenhänge darstellen und vergleichen. Sie können Kriterien bereitstellen, Werte diskutieren. Nur Werbung und Interesse sind nicht genug. Nur die eigenen Kriterien, die man schon hatte, reichen eben nicht, um Neues zu sehen. Es wäre doch zu schade, wenn anspruchsvolle Kunst nicht wahrgenommen würde, weil man von einer simplen Kunsterfahrung schon wie hypnotisiert ist, sich zu früh zufrieden gibt – und auf Besseres gar nicht mehr kommt. Es wäre doch zu schade, wenn man etwas nicht schätzt, weil man die Perspektive nicht erwartet oder den Schlüssel nicht sieht. Da ist die Aufgabe von Kunsthistorikern, den vielen Kunstinteressierten nicht nach dem Mund zu reden, sondern Ansprüche zu stellen.
UNIversalis: Künstler haben in jeder Epoche eine andere Rolle und Funktion, im Mittelalter waren sie namenlose Handwerker, in der Renaissance Universalgenies, im Zuge des Aufbruchs der Moderne waren sie oft ruhmlose Neuerer, wie etwa van Gogh. Ganz anders haben sie sich wiederum im 20. Jahrhundert positioniert, etwa Klee, Kandinsky oder Beuys. Und was bleibt ihnen heute?
Angeli Janhsen: Ich finde nicht, dass „Bleiben“ und „Copyright“ so wichtig sind. Heute ist alles anders als in der Renaissance oder vor hundert Jahren. Ganz von selbst wiederholt sich heute kein Dürer und kein Van Gogh – heutige Künstler, die sein wollten wie van Gogh, wären ja ein bisschen beschränkt. Ältere Kunst interessiert uns auch heute, aber Dürer zum Beispiel lässt sich doch nicht in die Gegenwart beamen. Künstler sehen ja immer unter den Bedingungen ihrer Gegenwart. Dürer oder Kandinsky konnten die Atombombe nicht kennen, den zweiten Weltkrieg, den Klimawandel, unsere Art von Demokratie und Einsamkeit oder unsere Art von Selbstzweifeln. Heutige Künstler müssen sehen, was heute wichtig ist, was uns heute angeht. Vielleicht setzen sie sich mit unseren Kommunikationsstrukturen auseinander, vielleicht denken sie über politische Probleme nach. Vielleicht machen sie uns unsere Träume deutlich. Jedenfalls sollten Künstler heute auf ihre Art Kunst machen und nicht irgendwen nachahmen. Nachahmungen traut man ja sowieso nicht. Wenn wir das und uns selbst dann besser verstehen würden, wäre das ein ganz großer Gewinn.
UNIversalis: Wir bedanken uns für Ihre Ausführungen.
● Angeli Janhsen. Neue Kunst als Katalysator. Reimer-Verlag 2012
● Angeli Janhsen. Kunst selbst sehen – Ein Fragebuch. Modo Verlag 2013
● Angeli Janhsen. Was tun? Künstler machen Vorschläge, Modo Verlag 2018
● Angeli Janhsen. Gut schreiben über neue Kunst. Reimer-Verlag 2019