Im Gespräch: Andreas Urs Sommer – Philosoph, Autor und Befürworter der direkten Demokratie
Die Welt ist im Krisenmodus. Was hilft? Laut dem Freiburger Philosophieprofessor Andreas Urs Sommer die direkte Demokratie. Sein neues Buch trägt den konfrontativen Untertitel „Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört“. Fabian Lutz nahm das zum Anlass und hat nachgefragt, warum. Ein Gespräch über moderne
politische Ohnmacht, neue Wahlsysteme und die Verschweizerung der Welt.
UNIversalis: Lieber Herr Sommer, schön Sie wieder zu sprechen. Aufmerksame Lesende der UNIversalis erinnern sich vielleicht noch an das Interview, das wir beide zum Anlass der Basler Nietzsche-Ausstellung 2019 geführt haben. Wie kommen Sie von Ihrer Nietzsche-Forschung zur direkten Demokratie?
Andreas Urs Sommer: Einerseits gar nicht. Friedrich Nietzsche hat sich zu seiner Zeit vor allem als Verächter demokratischer Entwicklungen präsentiert. Andererseits ist Nietzsche ein Denker der menschlichen Selbstermächtigung. Damit steht er in aufklärerischer Tradition. Ich sehe auch nicht ein, warum nur einige wenige das werden sollen, was Nietzsche große Individuen oder „Übermenschen“ nennt. Auch im Sinne von Nietzsches Logik sollte das für jede und jeden gelten. Wir alle unterliegen einer Weltgestaltungspflicht. Das betrifft auch die Gestaltung des Rahmens unserer politischen Welt.
UNIversalis: Wie Nietzsche sind auch Sie kein Politikwissenschaftler, sondern Philosoph. Wo sehen Sie den Wert der Philosophie für die Politik?
Andreas Urs Sommer: Die Philosophie hat dem politischen Denken schon immer wesentliche Impulse gegeben. Zudem geht Politik nun einmal uns alle an und ist nicht nur eine Frage der Expertise. Wir sind alle dazu aufgefordert, politisch denkend und handelnd zu partizipieren, das dürfen auch die Philosophen und Philosophinnen, die Spezialisten für Schrägansichten.
UNIversalis: Wir wenden uns der Politik mit der Frage nach Repräsentation zu. Die steht in Ihrem Buch zu Beginn. Das Krisenempfinden vieler Menschen führen Sie dort zunächst nicht nur auf klassische, externe Faktoren wie Klimakatastrophen oder Kriege, sondern auch auf die „Krise der Nichtbeteiligung“ zurück. Was ist das für eine Krise?
Andreas Urs Sommer: Mir scheint, dass es da eine gewaltige Diskrepanz gibt. Auf der einen Seite haben wir uns in den letzten Jahrhunderten durch Aufklärung und Bildung ein besonderes Selbstwertgefühl angeeignet. Wir haben die Überzeugung, unser eigenes Leben in die Hand nehmen zu können und den Ausgang aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu finden, um Kants berühmte Aufklärungsformel zu zitieren. Auf der anderen Seite leben wir in einer seltsamen Ohnmacht, weil uns die Mitgestaltungsmöglichkeit im Rahmen unserer sozialen Existenz weitgehend versagt bleibt. Daraus resultieren diverse Krisen, aber auch Protestbewegungen, ob von links oder rechts. Die Ohnmacht besteht darin, dass wir zwar, im doppelten Sinne des Wortes, unsere Stimme „abgeben“ und unsere politischen Vertreter und Vertreterinnen wählen können. Aber damit ist auch unsere Stimme für die nächste Legislaturperiode „abgegeben“, weg. Diese Idee der Repräsentation hängt einer mittelalterlichen Form des politischen Denkens an.
UNIversalis: Wie meinen Sie das?
Andreas Urs Sommer: Ich meine damit ganz grundsätzlich den Gedanken, dass uns andere Menschen repräsentieren können. Ich würde dagegen argumentieren, dass wir mittlerweile viel zu individuell geworden sind, als dass uns noch jemand vertreten könnte. Eine Form der situativen Repräsentation, also eine Repräsentation dann, wenn einem Individuum die Expertise in einem bestimmten Bereich fehlt, halte ich durchaus für sinnvoll, nur eben nicht die einer generellen Repräsentation, die ein Abtreten aller politischen Mitbestimmungsmöglichkeiten bedeutet.
UNIversalis: Ihre Auseinandersetzung mit Repräsentation beginnt im Internet, einem Ort, der durch die Vielfalt von Stimmen geprägt ist, aber eben auch durch die Dissonanz, die dadurch entsteht. Ist hier bereits eine Vorform der direkten Demokratie entstanden?
Andreas Urs Sommer: Zu Beginn des Internetzeitalters gab es einen großen Optimismus: Dass jetzt alle zu Wort kommen könnten, ohne mediale Entscheidungsinstanzen als „Gate Keeper“, dass sich die Demokratie auf völlig neue und einzigartige Weise verwirklichen könne. Mein Eindruck ist, dass sich dieser Optimismus nicht nur verflüchtigt hat, sondern das Gegenteil nun im Raum steht: Das Internet als Demokratieverhinderungsanstalt. Ich bevorzuge da eine etwas distanziertere, ausgewogenere Betrachtungsweise. Natürlich wird im Internet viel Mist verbreitet. Andererseits ist die Möglichkeit, seine Stimme zu erheben, egal, welchen sozialen Hintergrund oder welche Rolle man im außerdigitalen Raum hat, eine besondere Freiheits- und Ermächtigungserfahrung. Diese Redemacht spiegelt sich nur eben nicht in einer realweltlichen Handlungsmacht. In meinen Augen hat die Verbreitung von Unflätigkeiten im Internet wesentlich mit dieser Ohnmachtserfahrung zu tun. Wobei Dissonanz in der Kommunikation auch zur Demokratie gehört. Wir sollten uns von der Idee verabschieden, dass Demokratie immer auf einen Konsens hinauslaufen sollte.
UNIversalis: Können Sie das ausführen?
Andreas Urs Sommer: Gerade aufgrund der stärkeren Individualisierung werden wir den Dissens, ob in einem rein repräsentativen oder in einem direkt-partizipativen System, nicht vermeiden können. Das ist auch nicht schlimm. Wichtig ist nur, dass die Dissense „fluid“ bleiben. Ein Beispiel: Eine Person kann für, eine gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine sein. Aber vielleicht sind beide Personen einer Meinung, wenn es um die Frage des Tempolimits auf Autobahnen geht oder um die Abschaffung fossiler Energieträger in unseren Hausheizungen. Gerade hier setzt die direkt-partizipative Demokratie an, weil es dort je nach Abstimmungsschwerpunkt um andere Dinge geht. Heute entscheiden wir über Waffenlieferungen, morgen über die Heizung. Heute haben wir einen Dissens, morgen einen Konsens. Das ist zunächst unproblematisch.
UNIversalis: In Ihrem Buch machen Sie deutlich, dass eine direkte Demokratie Gewissheiten stets zur Disposition stellen würde. Das steht der Vorstellung vieler Menschen von Politik als einem durch Konsens, Gemeinsamkeit und Ordnung geprägten Raum tatsächlich entgegen. Wie kann man einen solch skeptischen Zugang auch Menschen ohne Nietzsche-Vorliebe schmackhaft machen?
Andreas Urs Sommer: (lacht) Ja, das ist eine ungemütliche Vorstellung. Felix Heidenreich, ein Stuttgarter Politikwissenschaftler, hat Demokratie in seinem Buch als „Zumutung“ beschrieben. Das gilt unbedingt auch für die direkte Demokratie. Sicher sind Menschen eine Spezies, der eine gewisse Trägheit innewohnt, ein Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit. Auf der anderen Seite sind sie stets mit ihresgleichen konfrontiert, also Menschen, die andere Sichtweisen haben und diese Ruhezone herausfordern; und dann gibt es noch das sonstige beunruhigende Geschehen auf der Welt. Natürlich gibt es Systeme, die definitive Ruhe und Sicherheit garantieren, aber so ein nordkoreanisches Friedhofsmodell scheint mir wenig attraktiv.
UNIversalis: Also besser das Gegenmodell: Verantwortung für alle Menschen?
Andreas Urs Sommer: Gerade, weil wir nach Kontrolle und Ordnung streben, sind wir gut beraten, die Kontrolle über das politische Handeln in die eigene Hand zu nehmen und diese nicht zu delegieren. Jedenfalls nicht, was Grundsatzentscheidungen betrifft.
UNIversalis: Also doch ein bisschen Repräsentation?
Andreas Urs Sommer: Selbstverständlich sieht auch mein Modell eine Exekutive vor, die im Falle kurzfristiger Entscheidungen ohne vorangehende Volksabstimmung handelt. Eine Stimmungsdemokratie nach dem antiken Athener Vorbild steht mir auch nicht vor Augen. Nach diesem Modell würde eine permanente Bürgerversammlung aus dem Affekt heraus politische Entscheidungen treffen. Geschickte Demagogen könnten darauf leicht Einfluss nehmen. In einer partizipativen, direkten Demokratie sollte es immer Verzögerungshürden geben. Wir entscheiden also nicht heute über das, was uns gerade aus Zeitung oder Internet entgegenspringt, sondern haben bis zur Entscheidung noch ein Vierteljahr Zeit – Zeit, um verdammt viel zu diskutieren. Und das ist für dieses Modell entscheidend: Dass wir den Diskurs über die Sache gemeinsam führen.
UNIversalis: Das setzt Offenheit voraus.
Andreas Urs Sommer: Ja, wir müssen auch offen dafür sein, uns vom Gegenüber eines Besseren belehren zu lassen. Das Ganze braucht zudem Training. Wir müssen lernen, dass wir diese Entscheidungskompetenzen haben sollen und haben werden. Das geht nur durch regelmäßige Abstimmungen. Sonst passiert das, was beim Brexit passiert ist: Man projiziert alles in eine einmalige Entscheidung hinein und ja – Sie kennen das Ergebnis.
UNIversalis: Sollte man diese Diskursräume nicht besser vorstrukturieren, formalisieren?
Andreas Urs Sommer: Die Diskussion selbst würde ich gar nicht regulieren wollen. Die Rahmenbedingungen sollten aber gesetzt sein. In der Schweiz zum Beispiel wird vor der Abstimmung ein Büchlein verteilt, in der die Abstimmungssache objektiv erklärt wird. Jede wählbare Position wird dann auf jeweils zwei Seiten dargestellt. Man sollte vielleicht auch einen gerichtlichen Vorbehalt einräumen, sodass evident menschenrechtswidrige Vorschläge nicht zur Abstimmung gebracht werden dürfen. Eine neue Kammer im Bundesverfassungsgericht könnte eine solche Prüfung vornehmen. Ebenso kann man über die ökonomische Verteilung nachdenken. Für den Fall, dass eine Partei weit mehr Kapital hat und mehr Werbung für ihren Vorschlag machen kann als eine, die weniger Ressourcen hat. Hier könnte ein Limit für die finanziellen Aufwendungen im Abstimmungswahlkampf eingerichtet werden.
UNIversalis: Haben Sie ein politisches System, das für Deutschland als Vorbild einer direkten Demokratie dienen könnte? Die Schweiz liegt in Ihrem Falle ja nahe. Am Ende Ihres Buchs zitieren Sie auch Ihren Landesgenossen Dürrenmatt: „Die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern.“
Andreas Urs Sommer: (lacht) Zwar habe ich durch meinen Hintergrund eine gewisse Sympathie für das schweizerische System. Das könnte aber auch die typische Verklärung des Auslandsschweizers sein, der idealisierend auf die längst verlassene Heimat blickt. In der Schweiz ist keineswegs alles so rosig. Dürrenmatt meinte seinen Satz polemisch. „Verschweizern“ war für ihn nur eine andere Form von Untergang. Immerhin scheint in der Schweiz die Praxis des Mitentscheidens so selbstverständlich geworden zu sein, dass sich viele der Ängste, von denen wir vorher sprachen, als unbegründet erwiesen haben. Das mag sicher auch mit dem strukturellen Konservatismus der Menschen zusammenhängen, wobei ich nicht glaube, dass eine direkte Demokratie dazu führen muss. Das hat eher mit anderen, speziell schweizerischen Faktoren zu tun. Aber wir müssten sowieso eigene Wege finden.
UNIversalis: Wenn wir jetzt damit anfangen wollen, eigene Wege zu finden – wo könnten wir ansetzen?
Andreas Urs Sommer: Zum Beispiel auf kommunaler Ebene. Hier sind bereits Möglichkeiten innerhalb der Gemeindeverfassungen gegeben, die man im Sinne einer partizipativen, direkten Demokratie stärker nutzen könnte. Die Gemeinde wäre demnach ein Laboratorium des neuen Modells. Die Entscheidung über eine neue Fahrradschnellstraße zwischen Freiburg und Gundelfingen könnte beispielsweise ein Einstieg sein.
UNIversalis: Lieber Herr Sommer, vielen Dank für das Gespräch!
Andreas Urs Sommer: „Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert. Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört“, Herder 2022.
Bildquellen
- Andreas Urs Sommer: „Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert. Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört“,: Herder 2022.
- Gehört die Bühne dem Volk?: © Wikimedia Commons / Pexels
- Prof. Dr. Andreas Urs Sommer: Foto: Hugo Knies