„Ich mochte immer das Rebellische“: Jean Paul Gaultiers „Fashion Freak Show“
Wenn man durch das Eingangstor in den Innenhof der Boury Studios im Süden London tritt, ist man zunächst ein wenig verwirrt. Dort toben nämlich Kinder in Schuluniformen herum. Es stellt sich heraus: Die Boury Studios teilen sich ein Gebäude mit einer Schule. In der oberen Etage tummelt sich Jean Paul Gaultier mit seinem Ensemble. Um die Mittagszeit laufen die Proben für die „Fashion Freak Show“ bereits auf Hochtouren. Geleitet werden sie von der Tänzerin und Choreografin Marion Motin. Mal gibt sie auf Englisch Anweisungen, mal auf Französisch. Sie lässt die Tänzer, die noch ganz leger ihre Trainingskleidung tragen und erst nachmittags in ihre Kostüme schlüpfen werden, einen Hüftschwung einstudieren. Oder fordert sie auf, ihre Arme möglichst kraftvoll zu zeigen. Eine Tänzerin konzentriert sich aufs Twerken, während einer ihrer Kollegen in einer Ecke Liegestützen macht.
Wer seine Bewegungen überprüfen will, kann einen Blick in die Spiegel werfen, die vor der Fensterfront stehen. Von der Decke ranken sich grüne Blätter, sie brechen den Industriecharme dieser Örtlichkeit auf. Während man noch grübelt, was es wohl mit diesem Dekor auf sich hat, werden geschwind vier Podeste aufgebaut. Für jeweils ein bis zwei Tänzer. Sie lassen sich von Culture Clubs „Karma Chameleon“ antreiben. Ganz offensichtlich spielt die Musik aus den Achtzigerjahren eine essenzielle Rolle in dieser Inszenierung. Immer wieder erklingen aus den Lautsprechern altvertraute Songs wie der Eurythmics-Klassiker „Sweet Dreams“ oder David Bowies „Let‘s Dance“.
Der Designer Jean Paul Gaultier, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, beobachtet dieses Treiben einfach. Er sitzt still auf einem Stuhl am Rand und mischt sich nicht ein, jedenfalls nicht unmittelbar. Der Franzose, geboren 1952 in einem Pariser Vorort, ist der Schöpfer, Autor, Regisseur und Kostümbildner der „Fashion Freak Show“. Uraufgeführt wurde sie 2019 im Folies Bergère in Paris. Nicht ohne Grund wählte Jean Paul Gaultier gerade dieses Varieté-Theater aus. Seitdem er als Neunjähriger zum ersten Mal eine Folies-Bergère-Premiere im Fernsehen gesehen hatte, träumte er von einer eigenen Revue. In der taucht jetzt sogar Josephine Baker in ihrem legendär gewordenen Bananenröckchen auf. Als Hommage an das Folies Bergère. Von dort aus ist die „Fashion Freak Show“ in andere Länder exportiert worden. Sie wurde inzwischen in London und Tokio gezeigt, nun kam sie erstmals nach Deutschland. Die Premiere fand am 20. Juli in der Isarphilharmonie in München statt.Fragt man Jean Paul Gaultier, wer sich die „Fashion Freak Show“ angucken solle, antwortet er: „Menschen, die Mode lieben. Oder auch Musical-Fans, die Diskomusik mögen.“ Primär geht es ihm um visuelle Effekte: „In meiner Show ist die Mode wichtiger als meine Geschichte.“ Die Initialzündung gab jedoch seine Biografie. Er war ein kleiner Junge, der unbedingt Modeschöpfer werden wollte – das reflektiert diese Produktion durchaus. Vor allem in jener Szene, in der sein transsexueller Teddybär Nana in jenem Kegel-BH auftritt, den Madonna 1990 unsterblich gemacht hat. Verwunderlich ist diese Episode eigentlich nicht, ursprünglich hatte der 71-Jährige dieses Kleidungsstück tatsächlich für sein Stofftier entworfen. Von ihm hat er sich bis heute nicht getrennt. Nana, erzählt er, liege in einem Schuhkarton, sie sei nicht im besten Zustand und habe eine Operationsnarbe: „Als ich Professor Bernards Herzoperation im Fernsehen gesehen habe, habe ich meinen Teddybären am offenen Herzen operiert.“
Wenn sich Jean Paul Gaultier solche Geschichten wieder ins Gedächtnis ruft, purzeln die Worte förmlich aus ihm heraus. Er redet gern und viel. Etwa über seine nicht immer einfache Kindheit. „In der Schule galt ich als Sonderling, weil ich nicht Fußball gespielt habe“, räumt er ein. „Ich wurde abgelehnt.“ Doch irgendwann fing er an zu zeichnen. Eines Tages nahm er seine Zeichnung einer Sängerin mit Federschmuck aus dem Folies Bergère mit in die Schule. Sein Lehrer war entsetzt, er wollte ihn dafür bestrafen. Jean Paul Gaultier musste sich seine Skizze auf den Rücken heften und damit durch die Klassen laufen. Auf diese Weise sollte er bloßgestellt werden, aber ein gegenteiliger Effekt wurde ausgelöst: „Die anderen Kinder baten mich, etwas für sie zu zeichnen. Seither habe ich für mein Talent immer ein Lächeln bekommen.“
Aus seiner Zeichenbegabung entwickelte sich schließlich der dringliche Wunsch, Designer zu werden. Nachdem Jean Paul Gaultier den Film „Falbalas“, der von einem jungen Pariser Modemacher handelte, gesehen hatte, ließ er sich von diesem Plan nicht mehr abbringen: „Ich war nie daran interessiert, etwas für mich zu entwerfen. Ich wollte andere Menschen einkleiden.“ Trotzdem studierte er nicht Modedesign. Stattdessen schickte Jean Paul Gaultier seine Skizzen an ein paar namhafte Designer. Da Pierre Cardin von seinen Fähigkeiten beeindruckt war, engagierte er ihn 1970 als seinen Assistenten: „Bei Cardin habe ich nichts kritisiert, ich fand alles fantastisch. Er war praktisch meine Schule.“
Danach arbeitet Jean Paul Gaultier für Jacques Esterel und für Jean Patou. Er versuchte manchmal, einige Verbesserungsvorschläge anzubringen: „Meiner Ansicht nach hatte das Haus Patou keinen eigenen Stil. Darum schlug ich vor, die Kollektion von wechselnden Designern entwerfen zu lassen. Die Antwort war: Das ist zu teuer!“ In der Konsequenz emanzipierte sich Jean Paul Gaultier. Er brachte 1976 seine erste eigene Kollektion heraus. Zwei Jahre später gründete er Jean Paul Gaultier SA. Ab 1997 kreierte er unter dem Namen Gaultier Paris auch Haute-Couture-Kollektionen. Er entwarf den Rock für den Mann oder gestreifte Pullover, die sogenannten Marinières. Selbstredend begegnet man diesen Kreationen in der „Fashion Freak Show“. Neben dem Kegel-BH.
All diese Sachen ließ Jean Paul Gaultier schon vor Jahrzehnten auf dem Laufsteg gern von Menschen präsentieren, die nicht unbedingt Modelmaße hatten. Er schickte Männer und Frauen in allen Altersklassen über den Runway. Mit völlig unterschiedlichen Körpern, mit verschiedenen Haut- und Haarfarben. Einige waren gepierct, andere tätowiert. In seiner Schule, erinnert er sich sei ein Mädchen mit einer Afrofrisur gewesen: „Ihre Haut war schneeweiß, ihre Haare rot. Ich fand sie schön, weil sie so anders gewesen ist.“ Etwas Einzigartiges zu haben, das fasziniert ihn: „Es hat mich nie gestört, dass ich so große Ohren habe.“ Sein Motto ist: „Wenn du mit offenen Augen durchs Leben gehst, kannst du Schönheit dort entdecken, wo andere nur etwas Negatives sehen.“
Sein Hang zum Schrägen brachte Jean Paul Gaultier den Ruf ein, das Enfant terrible der Modeszene zu sein. Mit diesem Image lebte er gut. Es brachte ihm Aufträge von Kylie Minogue oder Lady Gaga ein – er entwarf ihre Bühnenoutfits. Zudem designte er für Filme Kostüme. Etwa für Luc Bessons „Das fünfte Element“. Trotz seiner Popularität entschied er aber, sich 2020 offiziell aus der Modewelt zurückzuziehen. Ob ihm das Loslassen schwergefallen ist? Nein, sagt er: „Wenn es vorbei ist, ist es vorbei.“ Er habe einen eigenen Stil entwickelt, diesen könne er nun von anderen Designern interpretieren lassen: „Ich werde auf jeden Fall auch junge Designer anfragen. Eine Kooperation mit Vivienne Westwood ist ja leider nicht mehr möglich.“
Jean Paul Gaultier selbst konzentriert sich nun auf andere Projekte. Neben seiner „Fashion Freak Show“. Er wird abermals mit dem Friedrichstadt-Palast in Berlin zusammenarbeiten. Er kuratiert dort die Show „Falling in Love“, er zeichnet auch für die visuelle Gestaltung verantwortlich. Ebenso war er Gast-Juror bei „Germany‘s Next Topmodel“. Für diese Sendung findet er durchaus warme Worte. Letztens, lobt er, sei eine ältere Frau dabei gewesen. Das habe ihm gefallen: „Das Alter ist eines der letzten Tabus. Wir müssen dafür kämpfen zu zeigen, dass es Schönheit in jedem Alter gibt.“ Seiner Ansicht nach können auch Falten schön sein. Zuweilen würden sich die Parameter eben verschieben: „Manchmal sieht man Fotos von Leuten, die in ihrer Jugend gar nicht so schön waren. Aber wenn sie älter werden, macht sie das, was in ihnen steckt schöner – ihre Erfahrungen, ihre Psyche.“
Über seine Definition von Schönheit könnte Jean Paul Gaultier stundenlang dozieren. Er erzählt von Farida Khelfa, einem algerischstämmigen Model, das er für seine erste Show gebucht hatte: „Sie war sehr schön, sehr besonders, irgendwie anders. Farida hatte eine Haltung, die mir gefiel. Ich habe immer starke Frauen gesucht.“ Denn er konnte sich nie mit jenem Klischee anfreunden, das behauptet, Frauen sollten möglichst sexy und feminin sein: „Wer sagt denn, dass Frauen nicht intelligent und mächtig sein können? Oftmals treffen sie die wesentlichen Entscheidungen, nicht die Männer. So war es zumindest in meiner Familie.“
Jean Paul Gaultier mag auf jeden Fall starke Persönlichkeiten, zu ihnen zählt er Shade oder Amy Winehouse. Gerade ihren augenfälligen Stil schätzt er: „Ein Look sagt viel über eine Person aus. Sich eigenwillig zu kleiden, das erfordert Mut. Denn das ruft Hater genauso auf den Plan wie Bewunderer.“ Gerade in der Musikszene sollte das Äußere mit den Songs in Einklang stehen, erklärt er: „Ich mochte immer das Rebellische. Zum Beispiel die Punk-Bewegung in England oder im geteilten Berlin. In den USA dagegen wurde Punk nur kopiert, das war ein Fake-Punk.“
Bildquellen
- Das Enfant terrible der Modeszene: Jean Paul Gaultier war nie daran interessiert, etwas für sich zu entwerfen – er wollte andere Menschen einkleiden: © Jean Paul Gaultier - Fashion Freak Show
- „In meiner Show ist die Mode wichtiger als meine Geschichte.“: © Luke Austin
- Gaultier entwarf ab 1997 den Rock für den Mann oder gestreifte Pullover, die sogenannten Marinières: © Mark Senior