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Harald Welzer fordert in seinem neuen Buch „Nachruf auf mich selbst“ eine radikale Strategie des „Aufhörens“

Der Soziologe, Sozialpsychologe und Zukunftsarchitekt Harald Welzer legt in seinen theoretischen Gesellschaftsanalysen größten Wert auf die konkrete Darstellung praktischer Veränderungsstrategien sowohl auf individueller wie auch politischer Ebene. In seinem Buch „Selbst denken“ (2014) lud er zum Widerstand gegen den überbordenden Konsumwahn als Teil eines gelingenden Lebens ein, in „Alles könnte anders sein“ (2020) entwarf er eine optimistisch-positive Gesellschaftsutopie und deren Voraussetzungen, die freilich wiederum nur durch konsequentes gesellschaftspolitisches Handeln erreichbar sei. In seinem im vergangenen Oktober erschienenen Buch „Nachruf auf mich selbst“ spitzt er seine kritische Analytik noch weiter zu und verbindet dies erstmals mit sehr persönlichem Erleben aufgrund seiner Nahtoderfahrung durch einen Herzinfarkt.

Tote Masse contra Leben
Welzer eröffnet mit einem Hammer: Unter Berufung auf das israelische Weizmann Institute of Science zeigt er auf, dass im Jahre 1900 die Masse der von Menschen hergestellten Objekte etwa drei Prozent der Biomasse, also all dessen, was lebt, betragen hat. Dieses Verhältnis verdoppelte sich etwa alle 20 Jahre. „Im Jahr 2020 hat die tote Masse – also Häuser, Asphalt, Maschinen, Autos, Plastik, Computer usw. usf. – die Biomasse erstmals übertroffen. Die Biomasse aller Wildtiere ist in den letzten Jahren dagegen um mehr als vier Fünftel geschrumpft.“ Veranschaulicht bedeute dies, dass in jeder Woche „für jeden Menschen auf der Welt Produkte geschaffen werden, die seinem Körpergewicht entsprechen.“ Diese Menge künstlicher Produkte besteht selbstverständlich aus Substanzen, „die den lebendigen Böden, den Wäldern, den Meeren und Flüssen entnommen werden.“ Welzer charakterisiert diesen „tippingpoint“: Die Welt wird „von einer lebendigen in eine tote umgewandelt. Hergestelltes schlägt Biomasse. Totes schlägt Lebendiges.“
Ein fataler Umstand, welcher aber den heutigen Generationen kaum bewusst ist, denn sie sind wie selbstverständlich in eine kulturelle Entwicklung hineingewachsen, in der man „alles immer und immer alles haben kann“, ohne zu fragen, wo denn alles herkomme. Deshalb werde die eingeschlagene „falsche Richtung“ nur schwer erkannt, aber: „Eine Kultur, die wie unsere ihre eigenen Voraussetzungen konsumiert, muss im Irrtum sein.“

Dialektik der Aufklärung
Welzer untermauert diese Feststellungen in Anlehnung an die Kritische Theorie von Adorno und Horkheimer mit einer gründlichen sozialphilosophischen Betrachtung.Die mit der Aufklärung verknüpfte, immer weiter fortschreitende Entwicklung der Produktivkräfte und der damit aufkommende Mythos der totalen Naturbeherrschung haben ein Verhältnis des Menschen zur Natur geschaffen, das keinen Eigenwert der Dinge mehr anerkannte, alles der Verwertbarkeit unterwarf. Die Endlichkeit der Natur wurde aus dem Blick verloren und schließlich wurde noch vergessen, dass der Mensch selbst ein Teil von ihr ist. Innovationen durch immer neue Produkte, Dienstleistungen und stetiges Wirtschaftswachstum wurden als zivilisatorischer Fortschritt missverstanden und dabei verdrängt, dass ein solcher nur durch soziale Intelligenz mit Bezug auf einen normativen Zweck, der bestimmt nicht grenzenloser Konsum heißt, erreicht werden kann.

Strategie des Aufhörens
Mit Blick auf den galoppierenden Klimawandel und den oben beschriebenen „tippingpoint“ geißelt Welzer alle Hoffnungen, die Erderwärmung durch technologische Optimierungen begrenzen zu können, als Illusion. Optimiertes Falsches bleibe immer noch falsch. Die von der Politik parteiübergreifend propagierte Praxis, „dass man konventionelle Produkte ergrünen lässt, was am Ende einen riesigen Stadtgeländewagen mit Hybridantrieb genauso als ,klimafreundlich‘ erscheinen lässt wie ein Kreuzfahrtschiff mit Gasantrieb“ erklärt er für absurd, weil diese nur dann nachhaltig seien, wenn es sie gar nicht gäbe. Auch die permanent sich ändernden und auf allerlei internationalen Konferenzen verhandelten und in ferne Zukunft verschobenen Zielsetzungen für den Klimaschutz finden keine Gnade. Sie blockierten nur den Weg, aktuelle Probleme aktuell zu lösen. „Mit der Natur kann man nicht verhandeln“. Deshalb erfordere das 21. Jahrhundert eine Strategie und Methodik des bewussten Aufhörens und dies sofort.
Zuvor hatte er die besonderen und für ihn sehr glücklichen und lebensrettenden Umstände der medizinischen Betreuung bei seinem Herzinfarkt im April 2020 beschrieben. Das drastisch vermittelte Bewusstsein von der eigenen Endlichkeit habe ihm gezeigt, wie kolossal wichtig es ist, darüber nachzudenken, was man mit seinem Leben mache. Und er verallgemeinert fragend: „Und könnten wir nicht, wenn wir jetzt von meinem Fall in die Gesellschaft zurückblenden, viel besser und womöglich auch schöner auf unsere ökologischen Herausforderungen reagieren, wenn wir sie als Endlichkeitsphänomene akzeptieren und endlich Konzepte des Aufhörens entwickeln würden, als immer nur wie in einer immerwährenden Beschwörung und Grenzenlosigkeit weiterzumachen und zu optimieren, was man in Wahrheit aufgeben müsste?“
In einem eigenen Kapitel stellt er im Buch eine ganze Reihe Geschichten des Aufhörens oder genauer Menschen, die eine Haltung des bewussten Aufhörens entwickelt haben, vor.

Fiktiver Nachruf zu Lebzeiten
Im Zusammenhang seiner Reflexionen über den Tod und den mit ihm oftmals verbundenen Nachrufen stellt Welzer fest, dass diese ja nur für die noch Lebenden bedeutungsvoll sind, denn jeder sinnvolle Satz setze eine zukünftige Welt voraus. Deshalb empfiehlt er jedem und jeder, noch zu Lebzeiten einen Nachruf auf sich selbst zu schreiben, „denn in gewisser Weise würde man sich ja selbst verpflichten, so werden zu sollen, wie man gewesen zu sein gehofft hatte“. Dieser Vorschlag scheint plausibel, denn er birgt die Chance, dass ein vorgezogener Nachruf auf diese Weise zu einem Weckruf wird. Welzer geht am Schluss mit gutem Beispiel voran und widmet seinem eigenen „Nachruf auf sein zu lebendes Leben“ ganze 50 hochinteressante und zum eigenen Nachdenken und Nachahmen animierende Seiten.
Das Buch ist ein aufrüttelnder Appell, sich unmittelbar, direkt und persönlich der destruktiven unbegrenzten Konsum- und Wachstumslogik unseres Denk- und Wirtschaftssystems zu widersetzen. Es enthält noch viel mehr als die beschriebenen Aspekte und ist wie alle Welzer Bücher von A bis Z in einem flüssigen, zuweilen kurzweiligen und allgemein verständlichen Stil geschrieben und vermittelt trotz seines bitterernsten Inhalts eine positive, vorwärtsgewandte Grundstimmung und verweigert apokalyptischer Trübsal jeglichen Raum.

Erschienen im S. Fischer Verlag und unter der ISBN-Nummer 978-3-10-397103-3 im Buchhandel für 22 € erhältlich.

Bildquellen

  • Harald Welzer fordert in seinem neuen Buch „Nachruf auf mich selbst“ eine radikale Strategie des „Aufhörens“: Foto: S. Fischer Verlag
  • Harald Welzer fordert in seinem neuen Buch „Nachruf auf mich selbst“ eine radikale Strategie des „Aufhörens“: © Debora Mittelstaedt