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Freiheit für die Kunst: Im Gespräch mit Mathieu Jaton, Direktor des Montreux Jazz Festivals

Das Montreux Jazz Festival gilt als eines der besten Musik-Events der Welt. Dieses Jahr fand es vom 5. bis 20. Juli zum 58. Mal statt. Der Dokumentarfilm „They All Came Out to Montreux“ widmet sich jetzt der Geschichte der Festspiele am Genfer See und damit dem Lebenswerk von Claude Nobs. Regisseur Oliver Murray zeichnet nach, wie der 2013 verstorbene Spiritus Rector die Veranstaltungsreihe zu einer weltweit bekannten Marke und einem für Stars wie Quincy Jones, Miles Davis oder Prince sehr persönlich geprägten Ereignis machte. Mit seinem Nachfolger Mathieu Jaton sprach Olaf Neumann über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des hochkarätigen Festivals

Kultur Joker: 2013 wurde Claude Nobs Nachlass zum Montreux Jazz Festival in das Weltdokumentenerbe-Register der Unesco aufgenommen. Dieses Archiv von Live-Musik von 1960 bis heute soll umfangreicher sein als das der BBC. Hat Regisseur Oliver Murray sich das komplette Material angesehen?

Mathieu Jaton: Ja. Es sind etwa 97 Prozent der Konzerte seit 1967 mitgeschnitten worden, und zwar auf technisch hohem Niveau. Das war die wichtigste Entscheidung von Claude Nobs, als er das Ganze ins Leben rief. Denn ein Festival in einer kleinen Stadt wie Montreux in der Schweiz zu gründen, war 1967 etwas Besonderes. Claude war ein Visionär in Bezug auf das, was wir heute als internationale Marketing-Markenentwicklung bezeichnen würden. Seine Leidenschaft war es, Montreux in der ganzen Welt bekannt zu machen.

Kultur Joker: Im Film sind viele Stars zu sehen, aber der eigentliche Hauptdarsteller ist der 2013 verstorbene Claude Nobs, der von Deep Purple den Spitznamen Funky Claude erhalten hat. War er als Konzertveranstalter singulär?

Claude Nobs und Muddy Waters 1974 © Montreux Jazz Festival

Jaton: Seine Einzigartigkeit lag nicht in der Organisation von Konzerten, sondern darin, dass er Menschen um sich und seine Leidenschaft versammelte. Er war verliebt in die Künstler, er kochte für sie, beherbergte sie, gab ihnen die Möglichkeit, drei, vier oder fünf Nächte in einem Hotel in Montreux zu verbringen. Er schenkte ihnen eine Art von Freiheit, die sie normalerweise nicht hatten, weil sie dauernd auftreten und Aufnahmen machen mussten. Ich hatte die Gelegenheit, mehr als 25 Jahre mit Claude zu verbringen, ich begann mit 18 Jahren bei ihm zu arbeiten. Später bat er mich, Generalsekretär zu werden, und als er starb, übernahm ich seinen Job. Für uns andere war es manchmal ziemlich knifflig, weil er Dinge wollte, von denen wir dachten, dass sie schwer zu realisieren sein könnten. Es war aber unmöglich für ihn, das zu hören. Wenn man mit jemandem wie Claude Nobs zusammenarbeitet, erkennt man, dass alles möglich ist. Der Film zeigt das.

Kultur Joker: Im Film erfährt man, wie es dem Musikliebhaber Nobs gelungen ist, ein Umfeld für Künstler zu erschaffen, in dem sie sich frei ausdrücken können. Haben Sie ein Beispiel für sein zutiefst leidenschaftliches Engagement parat?

Jaton: Zum Beispiel, was mit David Bowie und Queen und der Aufnahme von „Under Pressure“ oder Deep Purples Song „Smoke on the Water“ passiert ist. Als Claude mit Freddie Mercury und David Bowie zu Abend aß, schaute er sie sehr naiv an und sagte: „Hey Jungs, warum macht ihr nicht etwas zusammen? Ich habe unten ein Studio, geht hin und spielt!“ Mal ehrlich, wer sonst hat die Chuzpe, diese Superstars zu fragen, ob sie zusammen einen Song machen wollen? (lacht) Aber so war Claude. Als er das Festival ins Leben rief, lud er Quincy Jones ein. Das war erstaunlich, aber auch irrational, denn Claude hat das Festival fast in den Bankrott getrieben. Aus finanzieller Sicht war es ein Alptraum, die weltgrößten Künstler nach Montreux zu holen. Aber für ihn ging es nicht darum, Geld zu verdienen, sondern darum, etwas ganz Besonderes zu machen.

Kultur Joker: Leitender Produzent des Films ist Quincy Jones. Hat der mittlerweile 91-Jährige das Projekt von Anfang bis Ende überwacht?

Jaton: Er war von Anfang an in das Projekt eingebunden. Quincy Jones hat sich ausführlich mit Regisseur Oliver Murray unterhalten. Die Tatsache, dass er sich bereit erklärt hat, ausführender Produzent zu werden, bedeutet nicht, dass er jeden Tag hinter dem Computer saß. Er ist der Pate des Festivals, und so war es für uns wichtig, ihn auch als Paten des Films zu haben. Claude war einer seiner engsten Freunde. Sie standen sich so nahe, dass es für Quincy eine sehr schwere Zeit war, als Claude verstarb.

Kultur Joker: War Quincy Jones der internationale Botschafter des Montreux Jazz Festivals?

Jaton: Ja. Er war 1991, 1992 und 1993 Co-Produzent des Festivals und dann war er definitiv der Botschafter von Montreux. Quincy Jones rief die Künstler persönlich an und selbst in den letzten Jahren, als ich Mühe hatte, einen Act zu buchen, der viel Geld verlangte, rief Quincy manchmal den Manager oder den Künstler selbst an oder schickte ihm einen Brief: „Du weißt, wie sehr ich Montreux liebe, das ist sehr wichtig für mich“. Auch bei den Hip-Hop- und Pop-Künstlern ist er immer noch hilfreich für uns. Jeder in der Musikbranche weiß, dass Quincy sehr eng mit Montreux verbunden ist und das Montreux das Festival für ihn ist. In Interviews nennt er es den Rolls Royce unter den Festivals. Das ist ein Geschenk für uns. Weitere Botschafter waren Miles Davis und Prince, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere sechs Konzerte hintereinander auf der kleinen Bühne im kleinen Montreux spielte, was einzigartig war. Prince wollte für uns tun, was der Pate getan hat.

Kultur Joker: Deep Purple,Alice Cooper, Kraftwerk, Dionne Warwick, Lenny Kravitz und Sting treffen diesmal auf Newcomer wie The Yussef Dayes Experience, Noname oder Kokoroko.

Jaton: Das ist genau der Geist von Montreux. Wir bieten den Künstlern immer an, für eine oder zwei Nächte im Montreux Palace zu bleiben und die Zeit hier zu genießen. Das schafft eine Situation, in der sich die Künstler zu Jamsessions oder ähnlichem treffen können. Wenn ein Hip-Hop-Künstler auf einer kleinen Bühne spielt, möchte er vielleicht anschließend hinter die große Bühne gehen, um seinen Mentor zu treffen.

Kultur Joker: Voriges Jahr war Bob Dylan einer der Top-Acts. Wie haben Sie ihn persönlich erlebt?

Jaton: Es ist ziemlich schwierig, sich ihm zu nähern. Aber für mich geht es nicht darum, mit Bob Dylan zu sprechen, sondern darum, dass er sich in Montreux so wohl wie möglich fühlt. Und genau das ist mit Dylan passiert. Wir haben alles getan, damit Montreux für ihn der reibungsloseste Ort auf dem Planeten ist. Genau das tun wir mit allen Künstlern. Ich gehe nicht hinter die Bühne und klopfe an ihre Tür und sage: „Hey, ich bin der Festivalleiter!“ Ich komme aus der Hotellerie und dem Gastgewerbe, ich schaffe eine Situation, in der ich da bin, wenn der Künstler Zeit mit mir verbringen möchte und etwas Besonderes erleben will.

1970: Die Poolside Bühne beim Montreux Jazz Festival © Georges Braunschweig

Kultur Joker: Das Montreux Jazz Festival ist als Stiftung organisiert und muss kein Geld verdienen. Spielen große Stars bei Ihnen für weniger Geld?

Jaton: Zunächst einmal bin ich froh, ein Festival zu leiten, das kein Privatunternehmen ist, sondern eine Stiftung. Das macht einen großen Unterschied, weil ich mich auf die künstlerischen Projekte konzentrieren kann, anstatt Geld für die Anteilseigner zu verdienen. Unsere Kapazität beträgt nur 5000 Zuschauer für die große Bühne. Natürlich ist es uns nicht möglich, die Gagen zu zahlen, die manche Künstler auf großen Festivals mit 70.000 Besuchern erhalten. Manchmal haben wir eine bestimmte Gage zur Verfügung und machen ein Angebot, und sehr oft funktioniert es und das Management akzeptiert es. Aber oft sind die Kosten für die große Produktion einer Tournee einfach hoch und wir kommen nicht zusammen. Manchmal kommt es jedoch vor, dass ein Künstler zu uns kommt, nachdem er seine große Tournee beendet hat, und er spielt dann eine kleinere Produktion exklusiv für uns.

Kultur Joker: Die Musikindustrie hat sich zu einem lukrativen Geschäft entwickelt. Würde ein Festivalleiter Claude Nobs in der heutigen Veranstalungswelt existieren können?

Jaton: Claude war zuletzt sehr traurig über die Situation, denn das Musikgeschäft hatte sich verändert. Es war nicht mehr so wie früher, als er zum Beispiel einfach Carlos Santana anrufen konnte. Der Künstler steht jetzt bei Live Nation unter Vertrag und hat Verpflichtungen mit ihnen. Ich erinnere mich an eine Situation im Jahr 2012, ein Jahr vor Claudes Tod. Er kam gerade von einem persönlichen Treffen mit Carlos Santana in Los Angeles zurück und teilte uns mit, dass der Künstler sechs aufeinanderfolgende Konzerte in Montreux geben würde. „Spezielle Produktion, spezielle Promotion, spezielle Gäste. Das wird der Wahnsinn!“ Aber Santana hatte da bereits sein Management gewechselt und am Ende kam es nie dazu, weil er auf anderen Festivals spielen musste. Nicht, weil er nicht zu uns wollte, sondern weil Claudes Spezialprojekt einfach zu kostspielig für Santanas Management war. Als ich Claude bat, Carlos zu fragen, ob er dennoch nach Montreux komme, lautete die Antwort des neuen Managements: „Claude, wir lieben dich, aber es tut uns leid, wir werden nicht in Montreux spielen“. Das war sehr schmerzhaft für Claude.

Kultur Joker: Hat er das Nein akzeptiert?

Jaton: Dann bat Claude das Management um ein reguläres Konzert, und es antwortete: „Wenn ihr das einen Monat vorher gesagt hättet, wären wir natürlich nach Montreux gekommen“. Das zeigt, dass die Art und Weise, Einzigartigkeit zu schaffen, heute ein wenig anders ist. Für Claude war es das Wichtigste, den Künstler direkt anzurufen und es geschehen zu lassen, denn das war sein Leben. Jetzt können wir es immer noch schaffen, aber es ist viel schwieriger geworden, müssen wir doch mit den Agenten, den Managements, den Produktionsfirmen und den Plattenfirmen zusammenarbeiten. Sechs Monate bevor Claude starb, sagte er zu mir: „Warum gehen wir nicht zurück zu einem sehr kleinen Festival mit Jazzmusikern. Ich habe keine Lust mehr auf diesen ganzen Kram mit 250000 Besuchern und Budgetproblemen.“ Für mich war es ziemlich bizarr, das von Claude zu hören, aber ich wusste, was er meinte: Er wollte, dass ich ihm innerhalb des Festivals eine Blase der Freiheit schaffe, in der er einfach nur spielen und mit den Künstlern reden kann, ohne finanzielle Probleme zu haben. Zu dem Zeitpunkt, als Claude alle Anerkennungen von den besten Veranstaltern der Welt erhielt, ist er plötzlich verstorben. Das war sehr traurig für mich und das Team, aber die Marke war da schon so stark geworden, dass wir weitermachen konnten.

Kultur Joker: Sie haben seit fünf Jahren einen Nachhaltigkeitsmanager, der an der Verbesserung des CO2-Fußabdrucks arbeitet. Mit welchen weiteren Technologien wollen Sie das Festival in die Zukunft bringen?

Jaton: Claude zum Beispiel kämpfte für die Qualität des Videobildes, aber heute besteht die Innovation nicht in einer hochmodernen Kamera, sondern in der Art und Weise, wie ein Konzert aufgenommen wird, in der Produktion, im Vertrieb, im Geschichtenerzählen und in den digitalen Plattformen. Die Botschaft ist viel wichtiger als die Art der Technik, die man einsetzt. Aus diesem Grund habe ich 2019 die Firma Montreux Media Ventures gegründet, die sich auf die Erstellung, den Vertrieb und die redaktionelle Bearbeitung der Inhalte von Montreux spezialisiert hat. Dieses Unternehmen wird von Nicolas Bonard geleitet, der vorher CEO der Vice Media Group France war. Das ist für mich die beste Innovation in Montreux.

Kultur Joker: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Bildquellen

  • Claude Nobs und Muddy Waters 1974: © Montreux Jazz Festival
  • 1970: Die Poolside Bühne beim Montreux Jazz Festival: © Georges Braunschweig
  • Quincy Jones & Sting: © Montreux Jazz Festival