Expressionismus im Zeitgeist
Das Museum für Neue Kunst zeigt das Werk von Hermann Scherer in einer Einzelschau, aber nicht als Solitär
1924 macht Ernst Ludwig Kirchner ein Foto von seinem Haus in Davos. Mehrere Skulpturen sind darauf abgebildet, alle scheinen aus einem Holzblock gearbeitet. Doch nur eine dieser Arbeiten stammt von ihm, es ist die Darstellung einer Mutter mit ihrem Kind. Alle anderen sind von Hermann Scherer. Ihre Freundschaft begann 1923 und intensivierte sich durch Besuche Scherers in Davos und das gemeinsame Arbeiten in den Schweizer Bergen. Dann, nur ein Jahr später der Bruch. Was Scherer mache, sei eine „sklavische Nachahmung seiner Kunst“, so Kirchner. Das Gemälde „Berglandschaft Sertigtal-Davos“ Hermann Scherers etwa ist 1923/24 entstanden und zeigt die charakteristischen exaltierten Kirchner-Farben. Blau trifft da auf Violett, ein Orange auf Grün und das Gebirge wirkt derart dynamisch als sei es gerade im Entstehen begriffen.
Vermutlich hat Kirchners Urteil Hermann Scherer hart getroffen. Sein Werk ist auf wenige Jahre beschränkt, als ob er es geahnt hatte, arbeitete er zwischen 1923 bis 1926 sehr intensiv. Die Begegnung mit Kirchner 1923 bestärkt ihn, zu malen. In den Jahren zuvor hatte Hermann Scherer, der 1893 in der Nähe von Lörrach geboren wurde, eine Lehre als Steinmetz gemacht und wird im Anschluss nach Basel ziehen, um Assistent des Bildhauers Carl Burkhardt zu werden. 1927 stirbt er in Basel, wo ein Jahr später in der Kunsthalle eine Retrospektive seiner Werke stattfindet. Hermann Scherer ist ein Maler, der gleichermaßen als deutscher und Schweizer Künstler wahrgenommen wird.
Im Museum für Neue Kunst, wo neben 18 Bildern einige Skulpturen und über 70 Papierarbeiten gezeigt werden, geht man mit dem Vorwurf Scherer sei lediglich ein Schüler Kirchners kreativ um. „Expressionist Scherer. Roher, direkter, emotionaler“ lautet der Ausstellungstitel. Ernst Ludwig Kirchner ist hier die Vergleichsdistanz. Bei den grafischen Auftritten des Museums ist das „direkter, roher, emotionaler“ sogar als Stempel gesetzt. Es soll, so Direktorin Christine Litz, als „Gütesiegel“ verstanden werden und zum Nachdenken über Klischees anregen. Tatsächlich ist es kaum dazu geeignet, dem Vorwurf des Eklektizismus den Wind aus den Segeln zu nehmen. Was ironisch gemeint zu sein scheint, wirkt wie ein flapsiger Marketinggag.
Was sich am Werk von Hermann Scherers zeigt, ist die Ungleichzeitigkeit der Kunstszenen in Deutschland und der Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Was sich in Deutschland längst durchgesetzt hatte, war in der Schweiz Neuland. Die Künstlergruppe, zu der neben Scherer auch Paul Camenisch und Albert Müller gehörten, durfte sich als Avantgarde fühlen. In der Silvesternacht 1924/25 werden sie sich in Basel den Namen Rot-Blau geben.
Was diese Ausstellung über selten gezeigte Arbeiten hinaus sehenswert macht, ist der Zeitgeist. Scherers Werk ist durch die charakteristisch expressionistischen starken Farbkontraste bestimmt, die Gesichtszüge tragen Spuren des Lebens. Insbesondere seine Selbstporträts, die in den letzten beiden Jahren vor seinem Tod entstehen, hinterlassen den Eindruck einer inneren Tragik. Dazu passt, dass Scherer 1926 einen Grafikzyklus veröffentlicht, der sich mit Fjodor Dostojewskis Roman „Verbrechen und Strafe“ beschäftigt. Die einzelnen Blätter konzentrieren sich in expressiver Weise auf die Gewissensnöte des Mörders Raskolnikow, der am Ende seine Schuld eingesteht. Die Ausstellung gewährt zudem einen Blick hinter die Kulissen, indem sie vielfach Bilder von beiden Seiten zeigt. Leinwand war teuer und oft spannte Scherer die Bilder ab, um die andere Leinwandseite zu bemalen. Man sieht, was er verwirft und bekommt so auch einen Einblick in die konkrete Arbeit im Atelier.
Expressionist Scherer. Roher, direkter, emotionaler. Museum für Neue Kunst, Marienstr. 10a, Freiburg. Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr. Bis 15. März 2020.
Annette Hoffmann