Literatur

Erstaunliche Künstlerleben konzentriert erzählt: Spannende Buchtipps zum Herbst

„Die Pariser Jahre“ – Tagebuch von Thea Sternheim
Über einen Zeitraum von 65 Jahren hat Thea Sternheim (1884-1970) Tagebuch geschrieben, insgesamt 30.000 kleinformatigen Seiten, begonnen 1905; aus diesem Konvolut ist nun eine Auswahl veröffentlicht worden, entstanden ab 1932, als sie von Berlin nach Paris in die Emigration geht. Mit ihren Notizen verarbeitet sie die drückende Vorkriegsahnung, die Zeit im NS-besetzten Frankreich und zudem die schwierigen Jahre nach 1945. Die Autorin hat rund zwei Drittel des 20. Jahrhunderts kommentiert, mit präzisen Sätzen und diszipliniert auf identischem Papier und losen Blättern geschrieben, jeweils an ihrem Geburtstag zwischen Kartondeckel geheftet. Sternheims Tagebuch ist ein einmaliges Zeitzeugnis. Man erfährt viel über ihre innere Entwicklung, ihr Verhältnis zu Männern, zu ihren drei Kindern. Sie beschreibt Menschen, mit denen sie Kontakt pflegte, von André Gide bis Klaus Mann, und beurteilt künstlerische und politische Ereignisse. Eingefügt sind Abschriften von Briefen, zudem erhellende Zeitungsartikel. Thea Sternheim schrieb nicht für Publikum, sondern um sich selbst zu vergewissern. Sie brauchte dieses „unnütze Tagebuch“, um bewusst atmen zu können, sagte sie einmal; später diente es der Erinnerung. Man staunt über diese Frau, die historische Erschütterungen sowie dramatische Familien-Ereignisse, Trennungen, Drogenabhängigkeit zweier Kinder und Deportation ihrer Tochter, mit Fassung getragen hat. Keine leichte Kost.
Thea Sternheim. Die Pariser Jahre. Aus den Tagebüchern 1932-1949. Thomas Ehrsam (Hg.). Die Andere Bibliothek 2024

„Auf den Einzelnen kommt es an“ – Lebensbild Hermann Hesse
Volker Michels ist einer der besten Kenner Hermann Hesses (1877-1962), was ihm ermöglicht hat, ein konzises und spannendes Porträt des Autors zu zeichnen, das gleichzeitig durch dessen Werk führt: „Auf den Einzelnen kommt es an“, lautet der treffende Titel. Ohne Zweifel hat Hesse Widerstand gegen die destruktiven Denkweisen seiner Zeit geleistet. Wie sich auch im Zuge von zwei Weltkriegen die Suche des Dichters nach spirituellen Alternativen in Schrift, Malerei und Biographie niedergeschlagen haben, vermittelt das Lebensbild von Volker Michel eindrücklich. Selbst wer zentrale Bücher wie „Steppenwolf“, „Glasperlenspiel“ und „Unterm Rad“ nicht gelesen hat, findet in diesem konzentrierten Essay über H. Hesse, der sich als „Mensch des Werdens und der Wandlungen“ versteht, eine gewinnbringende Lektüre. Von Anfang an stieß der sensible und engagierte Einzelgänger, stets unabhängig von der Konjunktur, bei vielen Zeitgenossen auf Abwehr und Schmähung, erlangte indessen aber das Verständnis vieler Zeitgenossen und wird bis heute in aller Welt gelesen. Er schonte sich nicht, hat Exilsuchende und Kriegsopfer unterstützt und tausende von Leserbriefen beantwortet, ohne seine Bittsteller zu bevormunden. Gleichzeitig mied er die Öffentlichkeit, nahm sogar den Literaturnobelpreis nicht persönlich entgegen. Der Geist und das Denken, Aufgabe des Einzelnen und nicht delegierbar, waren seine Passion!
Auf den Einzelnen kommt es an. Hermann Hesse. Ein Lebensbild von Volker Michels. Suhrkamp 2024

„Dem Traum folgen“ – Briefwechsel Christoph Meckel, Lilo Fromm, Johannes Bobrowski
Kaum übertrieben kündigt der Verlag an: „Ein packender deutsch-deutscher Briefroman aus den Zeiten des Kalten Krieges“. Mit dieser Edition hat der Philologe Jochen Meyer eine Finesse vollbracht, indem er aus Quellen im Literaturarchiv Marbach den Briefwechsel zwischen Johannes Bobrowski (1917-1965), der in Ost-Berlin wohnte, mit den jungen West-Berlinern Christoph Meckel (1935-2020) und Lilo Fromm (1928-2023) herausgegeben hat; dort wo die Korrespondenz zwischen dem Trio Lücken aufweist, hat er sie durch Meckels unveröffentlichte Tagebücher geschlossen. Wir erfahren hier, wie sich drei passionierte Personen in der Nachkriegszeit mit Fragen des Zeichnens und Schreibens befassen und teils abenteuerlich leben. Bobrowski veröffentlichte Gedichte, weltoffene Erzählungen und Romane, doch eines Tages darf er im Ost-Berliner Union-Verlag keine Besucher mehr empfangen. Lilo Fromm war seit den sechziger Jahren erfolgreiche Kinderbuchautorin und Malerin, ihre Briefe sind Kunstwerke; sie inspirierten Christoph Meckel, Schriftsteller und Grafiker, der erst bekannt wurde, als Bobrowski längst verstorben war. Anschaulich wird in diesem Kontext auch die Berliner Boheme um Günter Grass, Uwe Johnson, Günter Fuchs sowie die Hinterhofgalerie „Zinke“. Zudem taucht das Markgräflerland auf, zeitweise Quartier von Meckel und Fromm, wo sie „ungeheuer gerne“ lebten. Weitere Schauplätze sind Rom, Paris, Amsterdam, London.
„Dem Traum folgen“. Christoph Meckel und Lilo Fromm im Briefwechsel mit Johannes Bobrowski 1960-1965. Herausgegeben und kommentiert von Jochen Meyer. Wallstein 2024

„Unterwegs sind wir alle“ – Biographie zu Peter Härtling
Der ehemalige Lektor von Peter Härtling (1933-2017) hat unter dem Titel „Unterwegs sind wir alle“ eine Werkbiographie verfasst, die erahnen lässt, wie sehr die stetige Entwicklung des Denkens ein Leitmotiv für diesen Autor war. Sein Leben begann mit einer Odyssee, von Hartmannsdorf bei Chemnitz zog die Familie während des Kriegs nach Olmütz in Nordmähren, der Vater arbeitete als Rechtsanwalt; dann erfolgte die Flucht nach Wien; 12-jährig strandete er mit der Mutter im schwäbischen Nürtingen. Der Vater starb in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, 1946 wählt die Mutter den Freitod. Peter Härtling wächst bei Verwandten auf. Er bricht die Schule ab und findet – auf seiner Suche nach Verstehen und Gerechtigkeit – zur Literatur. Der Maler Fritz Ruoff wird zum Freund, Vaterersatz und Mentor; hinzu kommt die Liebe seiner Frau Mechthild. Unermüdlich aktiv und an den Tatsachen der Existenz interessiert, arbeitet Härtling als Journalist in Heidenheim, Stuttgart, Köln und Berlin, überdies als Lektor und Verlagsleiter. Schließlich lässt er sich bei Frankfurt nieder und schafft als freier Schriftsteller ein vielfach ausgezeichnetes Werk: Gedichte, Prosa, Roman-Biografien, Essays und Texte fürs Radio; er befasst sich mit Hölderlin und Verdi, mit „Nachgetragener Liebe“ zum Vater, schreibt Kinderbücher und Erinnerungen („Leben lernen“). Zudem wirkt er in Akademien und unternimmt, obwohl kränklich, zahllose Lesereisen. Für die Leser:innen macht er stets plastisch erfahrbar, wie sich Zeitumstände auf Einzelschicksale auswirken.
Klaus Siblewski. Unterwegs sind wir alle. Peter Härtling. Eine Biographie. KiWi 2023

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  • Lesetipps: Foto: lil artsy