Literatur

Eine Zeitreise in das Jahr 1972

„Es ist schön, Dinge zu machen, die man eigentlich nicht so macht“, steht in spitzer Mädchen-Schönschrift im Umschlag des schwarzen Schulheftes. Gegenüber eine Grau-in-Grau-Collage mit Wasserturm im Bindfaden-Regen. – Autorin Bea von Malchus weiß, wovon sie spricht: Seit 25 Jahren macht sie Erzähltheater, nun hat sie nach zwei Kochbüchern – Kultur-Lockdown sei dank – mit „Säwentitu“ ein schma-les, pralles und sehr persönliches Buch geschrieben.
Es ist eine Zeitreise in das Jahr 1972, ins Leben der 13-jährigen Bea – so der Rahmen dieser Sammlung von Minigeschichten: Alltagssprengsel um Freud und Leid, krude und weise, poetische und bissige, scharfsinnige und verwirrte Gedanken eines Mädchens im Körper einer verpuppten Frau, die alles hellwach und mit großer Intensität erlebt, davon beeindruckt, inspiriert und immer wieder aus der Bahn geworfen wird. Eine Spurensuche? Zum Teil. „Der Anstoß um Säwentitu zu schreiben waren tatsächlich ein paar im Chaos alter Kisten wieder aufgetauchte Gedichte, die ich mit 13 auf Rat meiner Deutschlehrerin ersonnen und dann aufbewahrt habe“, erzählt Bea von Malchus. Also eine biografische Spurensuche? Zum Teil. „Die Tagebuchform ist ein reiner Kunstgriff. Die Dinge sind erfunden. Mein Erinnerungsvermögen ist äußerst schlecht. Ich habe wohl eher Löcher und Gefühle zu einem schönen Muster zusammen gehäkelt.“, so die sibyllinische Antwort der Autorin.
Also doch fiktive Teenager-Rückschau? Auch das nur zum Teil. Denn wer nun amüsante Anekdoten aus dem Genre „Schule, Pickel, Liebeskummer“ erwartet, wird von dieser quicklebendigen, altklugen Erzählerstimme schnell in einen vielschichtigen, schnoddrig-geschliffenen Monolog eingesaugt und im Winter 1972 wieder ausgespuckt. Familie von Malchus ist gerade von Freiburg nach Dortmund gezogen, seitdem stottert Schwester Karin und Bea ist plötzlich kurzsichtig geworden, hat Heimweh, fälscht Papas Unterschrift und schreibt sich selbst Entschuldigungen. In kurzen Kapiteln mit Überschriften wie „Rot“, „Smoke“ oder „Mathe ist Folter“ erzählt sie von Schneeglöckchen-Glück und Flambier-Experimenten, sinniert über die bescheuerten Rollen von Männer und Frauen, nervt sich über ihre Familie, spürt ihrer Bravo-Allergie nach oder formuliert To-Do-Listen wie „Cool rauchen, Backen können, Gedichte schreiben“. Alles ist furchtbar schön, aufregend oder traurig.
Schon das hat viel Atmosphäre, Wiedererkennungs- und Unterhaltungswert. Gestreift und berührt wird diese Figur von Politik und Zeitgeist: Der Ketten rauchende Vater und das Gruselstigma seiner sibirischen Kriegsgefangenschaft, die allgegenwärtigen RAF-Fahndungsplakate, die Nachrichten über den nordirische „Bloody Sunday“, die Olympiade in München samt Attentat und Geiseldrama oder die Mondlandung. All das schafft bei der jungen Bea Meinung und Entwicklung. Denn sie spitzt zu: Langweiler oder eitle Gockel sind die Männer, schillernd und irritierend das weibliche Ensemble: Allen voran die furchterregend kluge, impulsive und scharfzüngige Bestimmer-Mutter und die mannstolle, versoffene Tante Ilse aus Norwegen…. Bebildert wird das mit vielen aquarellierten Collagen von der Freiburger Kostümbildnerin Sarah Mittenbühler: Manche davon sind großartig, viele aber haben den blass-verstaubten Illustrationsstil engagierter Kinder-und Jugendliteratur aus den 70ern. „Holen Sie sich was Schönes zum Trinken.“, rät Bea von Malchus. Und dann einfach beamen lassen…

Säwentitu wurde in kleiner Auflage auf Recyclingpapier in Emmendingen gedruckt und ist für 25 Euro bestellbar bei post@beavonmalchus.de
Lesungen: Güterhalle, Bleibach, Sa. 20. November 20 Uhr. Nellie Nashorn, Lörrach, So. 28. November um 18 Uhr. Rainhofscheune, Kirchzarten, Do. 9. Dezember um 19.30 Uhr

Bildquellen

  • Cover: Foto: Bea von Malchus