Eine Ethik des Könnens und Wollens: Dr. Martin Dornberg im Gespräch über das Thema Sorge / Care
Der Freiburger Psychosomatiker und Philosoph Dr. Martin Dornberg hat sich mit dem virulenten Begriff von Sorge / Care auseinandergesetzt, in philosophischer wie pragmatischer Hinsicht. Sein frisch erschienenes Buch gibt eine durchaus optimistische Perspektive auf das Thema. Dem allumfassenden Leid in unserer gegenwärtigen Welt soll eine Ethik gegenübergestellt werden, die ermutigt und ermuntert, sorgend tätig zu werden. Für diesen Zugang hat Dornberg unterschiedliche Denker:innen befragt, von Heidegger bis Judith Butler. Fabian Lutz hat den Autor zum Gespräch getroffen.
UNIversalis: Lieber Herr Dornberg. Gab es einen Auslöser, der Sie zum Schreiben des Buchs gebracht hat? Ihre gemeinsam mit Daniel Fetzner konzipierte Ausstellung „Erde/Erbe“ (2021 im Kunstverein Freiburg) wird ja bereits im Prolog erwähnt.
Dr. Martin Dornberg: Unmittelbarer Auslöser war die Corona-Krise. Das Thema Sorge wurde da in der Öffentlichkeit breit diskutiert, auch in meiner persönlichen Umgebung, etwa an den Freiburger Kliniken. Für meinen philosophischen und psychosomatischen Zugang ist das Thema ebenfalls sehr naheliegend. Zudem haben wir uns intensiv mit den Themen Umwelt, Erde, Klimakatastrophe, auch in Zusammenarbeit mit dem Soziologen Bruno Latour, beschäftigt, was unter anderem zu der von Ihnen gerade erwähnten Ausstellung führte. Nachdem ich 2021 ein Seminar zum Thema Sorge an der Universität Freiburg angeboten hatte, dachte ich mir: Da kann ich eigentlich auch über das Thema etwas schreiben und meine Auseinandersetzung dadurch weiter vertiefen.
UNIversalis: Ihr Buch stellt die unterschiedlichsten Theorien und Denkansätze zum Thema Sorge/ Care vor. Dazwischen stehen immer wieder einzelne, eindringliche Aussagen von Ihrer Seite, etwa die, dass über Liebe im Kontext Sorge viel zu wenig gesprochen würde. Fangen wir also bei der Liebe an.
Martin Dornberg: Liebe und Sorge haben eine Fülle ganz unterschiedlicher Existenzweisen. Das Sprechen über Liebe findet meist in begrenzten Räumen statt. Im partnerschaftlichen Raum oder in der Literatur. Wie wichtig Liebe aber etwa in der Kindererziehung ist, in Freundschaften oder in pflegerischen Verhältnissen – darüber wird viel weniger und viel oberflächlicher gesprochen. Das finde ich schade. Eine wesentliche These meines Buchs ist die, dass wir aus positiven Bezügen schöpfen können und auch schöpfen sollten. Ein solcher ist die Liebe. Liebe, Sorge, aber auch Kummer und Leid sind, wie auch zum Beispiel Judith Butler betont, leider oft „unsichtbar“, wie die sogenannte „Hausfrauenarbeit“, oder werden dazu gemacht. Dem stellt das Buch sich entgegen.
UNIversalis: Allzu idealistisch wollen Sie aber auch nicht werden. Am eher theoretischen Sorge-Begriff Heideggers kritisieren Sie die fehlende Empirie, den praktischen Bezug. Sorge, möglicherweise auch der liebevolle gegenseitige Bezug, sei „strukturell oft nicht möglich“, gerade aufgrund materieller Engpässe, etwa an deutschen Krankenhäusern.
Martin Dornberg: Bei Heidegger wird ein solches empirisches Denken vom fundamentalphilosophischen Denken streng getrennt. Für mich ist das Wechselspiel zwischen Theoretisieren und praktischer Erfahrung dagegen eminent wichtig. So einen Ansatz gälte es gerade in der Praxis, aber auch für die Theorie fruchtbar zu machen. Das hieße: Theorie als Praxis und Praxis als Theorie. Dies gilt besonders etwa im Bereich der Psychotherapie oder der sogenannten künstlerischen Forschung, mit der ich mich seit 2008 durch unsere künstlerisch-philosophischen Projekte intensiv beschäftige.
UNIversalis: Care, vor allem Pflege, hat nicht unbedingt den besten Ruf. Sie gilt als schmutzig und prekär. Sehen Sie hier eine besondere Herausforderung, in die Praxis zu kommen?
Martin Dornberg: Gerade die feministische Bewegung hat sich bemüht, den Bereich Care aufzuwerten, ihn im eben genannten Sinn „sichtbarer“ zu machen. Tatsächlich denken viele Menschen, dass Pflege schmutzig und viel Arbeit sei, dass man die Leute eher dazu zwingen muss und das ganze definitiv einseitig sei. Mein Buch appelliert hingegen dafür, nicht von einer Ethik des Sollens oder Müssens auszugehen, sondern von einer Praxis beziehungsweise einem Ethos des Könnens und des Wollens. Natürlich sind Krankenpflege oder Kindererziehung anstrengende Tätigkeiten, können aber auch unglaublich bereichernd wirken. Durch einen Ethos, auch durch Theorien des Könnens und des Wollens werden konkret Kräfte freigesetzt. Dafür sprechen auch Befunde aus der Psychotherapieforschung, auf die ich mich auch im Buch beziehe.
UNIversalis: Welche Rolle spielt die Kunst in Ihrer Auseinandersetzung mit Sorge? In Bezug auf Ihre interdisziplinäre Kooperation mit Daniel Fetzner, aber auch auf die Beispiele, die Sie im Buch bringen. Joseph Beuys ist für Sie auch ein biografisch wichtiger Bezugspunkt.
Martin Dornberg: Das Buch ist stark von meiner Zusammenarbeit mit Daniel Fetzner beeinflusst. Unser seit 2014 laufendes künstlerisch-philosophisches Projekt DE/GLOBALIZE versucht, dem komplexen Zusammenspiel von Mensch, Ding, dem „More than Human“ nachzuspüren und andere, bereichernde Lebens- und Sichtweisen aufzutun. Diese umfassende, künstlerische Perspektive habe ich in meiner Kindheit in der Auseinandersetzung mit den Kunstwerken Beuys‘ kennengelernt. Beuys lebte nämlich nur vier Häuser weiter von meinem Zuhause in Düsseldorf-Oberkassel entfernt. Auf seine Arbeit, die ebenfalls zwischen Kunst und Philosophie/Anthropologie situiert ist, wird im Buch auch eingegangen. Ähnlich wie andere Denker:innen im Buch zeigt er, dass von Fürsorge/Care, aber auch von Leiden, Kummer und Sorgen auszugehen, unsere Bezüge zu uns und zur Erde vertiefen und vervielfältigen kann. Dies umfasst auch die Ökonomie: das Thema einer „Sorgeökonomie“ wird im Buch ebenfalls angerissen.
UNIversalis: Lieber Herr Dornberg, ich bedanke mich bei Ihnen für das Interview!
Bildquellen
- Martin Dornberg, „Sorge/Care. Wirkmacht und Kontexte eines Paradigmas“, Tectum 2023.: Tectum 2023
- Dr. Martin Dornberg: Foto: privat