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Ein neuer Blick auf die Alchemie des Lebens / Der italienische Philosoph Emmanuele Coccia

„Dank der Pflanzen wird die Erde endgültig zum metaphysischen Raum des Atems. Die Ersten, die die Erde besiedelten und bewohnbar machten, waren Organismen, die zur Photosynthese fähig waren: Die ersten vollständig terrestrischen Lebewesen haben die Atmosphäre am stärksten verwandelt. Umgekehrt ist die Photosynthese ein großes atmosphärisches Labor (…).“
Emanuele Coccia, 2016

Unsichtbare Atmosphäre

Es darf als bekannt gelten, dass Lebewesen in kosmische Vorgänge eingebunden sind, doch ist uns dies alltäglich bewusst? Der italienische Philosoph Emanuele Coccia, der in Paris lehrt, ruft es uns systematisch ins Gedächtnis. In seinem Essay „Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen“, soeben ins Deutsche übersetzt, plädiert er für einen neuen Blick auf die Alchemie des Lebendigen und der Pflanzen, die für ihn nicht nur in den Bereich der Botanik gehört, sondern in den der Philosophie. Des Weiteren macht er in seinem Buch „Sinnenleben“ deutlich, wie wichtig hier unser sensorisches Vermögen für ein Verständnis ist. Wir unterschätzten die Abhängigkeit unserer Existenz, da wir vor allem menschen-, tier- und geozentriertdenken, befindet Coccia und will aus dieser Perspektive herausführen. Bereits viele Wissenschaftler und Philosophen haben sich auf diesem Terrain versucht; gibt es auch nichts wirklich „Neues unter der Sonne“, wie es landläufig heißt, so lassen sich den Essays von Emanuele Coccia doch zivilisationskritische Denkanstöße entnehmen, die zu Skepsis einladen.

Pflanzen sind die Magier des Lebendigen

Machen wir es uns ausreichend klar? Pflanzen schaffen die vegetative Atmosphäre, in der wir atmen, indem sie Luft und Sonnenlicht verwandeln; sie verfügen zwar nicht wie Mensch und Tier über Nerven, Neuronen und Gehirn, werden aber von elektrischen Signalen durchquert und sind aktiv, wenn auch auf spezifische Art (Coccia vermenschlicht diese Vorgänge nicht, wie Peter Wohlleben in „Das Leben der Bäume“). Zwar haben Pflanzen kein Gehirn, vermögen sich aber auf viele Weisen zu orientieren, wenn ihre Wurzeln z.B. Hindernissen ausweichen. Amphibisch leben sie in der Erde und in der Luft, verwandeln Kohlenstoff, Licht und Wasser in Atmosphäre. Zwar an einen Standort gebunden, breiten sie ihre Samen, das „Denken“ ihrer Zellen, über den gesamten Erdball aus, nehmen Wind, Wasser und Insekten in ihren Dienst.

„Dank der Pflanzen wird die Sonne zur Haut der Erde, ihre äußerste Schicht, und die Erde wird ein Gestirn, das sich von Sonne ernährt, sich aus ihrem Licht konstruiert. Sie verwandeln das Licht in organische Substanz und machen das Leben zu einem prinzipiell solaren Faktum.“

Sonne – „Haut der Erde“

Die Sonne, Coccia bezeichnet sie als „Haut der Erde“, ist die unerlässliche Energiequelle aller Lebewesen; deshalb ist der menschliche Leib kein bloß chemisches Faktum, sondern „kosmogonisch“, radikal eingeflochten in einen extraterrestrischen Stoffwechsel. Emanuele Coccia wirft einen systematischen Blick auf das menschliche In-der-Welt-Sein und weist auf die Zusammenhänge unseres Planeten; der Mensch hat Einfluss auf diesen, begreift ihn aber zu oft nur als Technosphäre (man denke an die hohe CO₂-Emissionen und den klimaverändernden Treibhauseffekt). „In-der-Welt-Sein bedeutet zwangsläufig Welt machen“, mitwirken in einem Gewebe des miteinander Vermengt-Seins, der Atmosphäre oder „Ursuppe“, für Coccia die Quintessenz der Welt, in der die Erde ein partieller Aggregatzustand ist.

„Es gibt ein materielles, aber nicht neuronales Gehirn, einen Geist, der der organischen Materie an sich innewohnt (…). Die ersichtlichste Form dieser elementaren Form der „Zerebralität“ verkörpert der Samen.“

Geist und Materie

An den für die Photosynthese verantwortlichen Chloroplasten und in der Wurzel wirkenden Plastiden zeigt sich die Bindung des Organischen an das Energiezentrum Sonne deutlich.Welche Rolle aber spielt das Bewusstsein im Universum? Coccia behauptet: „Materie hängt von Geist ab“, und wenn Geist aus der gleichen Materie wie Wolken und Berge besteht, warum sollten Berge und Wolken dann umgekehrt nicht Geist besitzen? In uns und den Pflanzen steckt mehr als Botanik, Biologie und Physik zeigen können. Wie aber gelangt „Geist“ in die lebendigen Abläufe? Eine Pflanze, so Coccia, ist ein Mechanismus, der die Erde an den Himmel bindet. Begreift man nun das Gehirn als eine Art Samen (darauf weist das Wort „Seminar“), so nimmt man an, es sei wesentlich nicht-anatomisch, also kein Organ; infolgedessen wären Geist oder Bewusstsein ein Merkmal der Materie, nicht etwa im Organ Gehirn von der Gesamtexistenz trennbar: „Wo es eine Form gibt, gibt es einen Geist, der Materie strukturiert, das heißt, die Materie existiert und lebt als Geist (…).“Von der Physik zur Metaphysik?

Sinnenleben

Emanuele Coccia ist bestrebt, nicht nur dem Vegetativen, sondern auch den Sinnen in der Philosophie zu mehr Bedeutung zu verhelfen, was er in seinem Essay „Sinnenleben“ in Auseinandersetzung mit der Geistesgeschichte von Aristoteles bis Merleau-Ponty, von Nikolaus von Kues bis Helmuth Plessner darlegt. Er will gegen ein Ich-zentriertes Weltbild antreten, weshalb er die sinnliche Wahrnehmung als etwas Drittes zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem wahrgenommenen Objekt begreift. Die Aktivität der Sinne definiert die Existenz des Menschen ganz wesentlich, indem er kontinuierlich – über Medien und Bilder – eine „Verbindung zwischen Geist und Wirklichkeit, Welt und Seelenleben“ herstellt. Täglich versieht er seinen Körper und seine Lebenswelt mit Formen, Farben und Gerüchen, wählt Stoffe, Aromen und Musik, reist in andere Länder, um neue Landschaften zu sehen.Das Sinnlichen ist so elementar, dass Coccia esmit einer alten These besser zu verstehen sucht; er situiert es nämlich im Raum zwischen Subjekt und Objekt, so wie das Spiegelbild dort existiert, wo sich weder das spiegelnde Objekt befindet, noch der Betrachter. Die Idee, dass das Sinnliche in den Zwischenräumen existiert, war weit verbreitet, bevor René Descartes sie abgelehnt hat, um den Geist von „jenen kleinen, durch die Luft flatternden Bildern“(„espècesintentionelles“) zu erlösen. Damit waren Subjekt und Objekt getrennt und das Individuum konnte sich als unabhängig begreifen. Nimmt man aber die „Zwischenräume“ ernst, wird das Sinnliche als geistige Verbindung zwischen Menschen deutlich, als Membran der Übermittlung von Gedanken; diese kann nur stattfinden, wenn Gedanken für andere wahrnehmbar sind, also versinnlicht in einem Medium, in Sprache, Bild, Mode, Musik oder Gestik: „Jede Form unseres Innen-, Geistes-, höheren Lebens, der Wille des Einzelnen ebenso wie der gemeinschaftliche Wille, kann nur in etwas Sinnlichem Gestalt annehmen.“Der Geist ist darauf angewiesen, sich zu „objektivieren“, in sinnfällige Realität zu verwandeln. Nichts Neues unter der Sonne, außer der Sonne selbst und der lebendig organisierten Natur? Coccia Essays, seine suchenden Denkbewegungen, regen diesbezüglich zu Fragen an.

Emanuele Coccia. Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen. Hanser Verlag 2019
ders. Sinnenleben. Übersetzt aus dem Italienischen von Caroline Gutberlet. Edition Akzente Hanser. München 2020

Bildquellen

  • Das Sinnesleben der Pflanzen: promo