Die Realität zeigt ihre Abgründe: Im Gespräch mit Alexander Kluge, Filmemacher, Autor und Philosoph (Lautpoesie Festival 2024)
Der Filmemacher, Drehbuchautor, Schriftsteller, bildender Künstler und Rechtsanwalt Alexander Kluge lenkt Zeit seines Lebens seinen scharfsinnigen Blick auf das aktuelle Zeitgeschehen – am 29. September, 11.05 Uhr zeigt er im Literaturhaus Basel (Jazzcampus) seinen für das Lautpoesie Festival konzipierten Dada-Film, im Anschluss findet ein Werkgespräch zwischen ihm und Stefan Zweifel statt. Elisabeth Jockers befragte Alexander Kluge im Vorfeld des Festivals.
Kultur Joker: Herr Kluge, 2020 haben wir zuletzt mit Ihnen gesprochen, damals über die Macht der Musik. Sie sagten, dass der Verstand nur dann gut ist, wenn er seine Wurzeln im Gefühl verankert. Wenn Sie die derzeitige Weltenpolitik betrachten, fehlt es uns an Gefühl oder Verstand? Und warum?
Alexander Kluge: Ein anderes Wort für Gefühl ist Empathie. Ich muss fremde Dinge und andere Menschen verstehen, nicht bloß mich selbst. Gefühl ist deshalb keine Schwärmerei oder subjektiver Überschwang, sondern der Kern des Unterscheidungsvermögens. Und damit ist das Gefühl ein Element auch des Verstandes. Für Verstand kann man auch sagen: Orientierung, Überblick. Bei Pascal heißt es: „Das Herz hat einen Verstand, den der Verstand selbst nicht versteht“. Gefühl und Verstand, die beiden Stämme der Erkenntnis, verstehen einander nicht von selbst. Man braucht etwas Drittes, das sie verbindet: das Vorstellungsvermögen, den „Tanzschritt des Geistes“, wie es Immanuel Kant nennt. Das herzustellen – mit Lust – dazu sind alle modernen Künste da.
Kultur Joker: Beim Lautpoesie Festival werden Sie einen für das Festival gemachten Dada-Film zeigen. Der Dadaist Hans Richter sagte einst, dass der Dadaismus einem Gewitter gleiche, das über die Kunst jener Zeit hereinbrach wie der Krieg über die Völker. Welche Blickwinkel muss die Kunst uns heute (wieder) öffnen?
Kluge: Der Vergleich von Dada mit einem reinigenden Gewitter ist treffend. Ich habe ja in meinen Minutenfilmen für Hans Richter, den großen Filmemacher und Dadaisten aus dem Bauhaus, extra eine Hommage hergestellt. Er war nicht nur Poet, Maler und Dadaist, sondern auch ein Überflieger und Flugzeugführer. Das Format der Groteske, das auch zu Richters Ausdrucksformen gehörte, ist in meinem Beitrag über Münchhausen wiedergeben. Die Szenen gibt es nur in der Londoner Originalausgabe, nicht in der deutschen Überlieferung. In einem der Minutenfilme hat Münchhausen gerade seinen Diener erschlagen. Als dessen Seele durch den Kamin zum Himmel fliegt, packt Münchhausen diese Seele an den Füßen und lässt sich zum Sirius tragen. Das ist dadaistische Raumfahrt und drastisch. Es geht für uns um „Verlässlichkeit in zerrissener Zeit“. Darauf kann man nicht belehrend antworten. In dem Minutenfilm „Eine Seele aus East-London“ gibt es ein Question & Answer auf einer Volksversammlung der Zulus. An einem Marterpfahl steht ein nackter britischer Soldat. Er macht eine unerwartete Erfahrung. Die Szene spielt 1879 im sogenannten Zulu-Krieg, in dem England das Volk der Zulus in Südafrika angreift und die Zulukrieger die Briten anfangs aufs Haupt schlagen. Eine wichtige Lernerfahrung für Europäer, die im Repertoire postkolonialer Erfahrung von Bedeutung ist. Ein anderer kurzer Filmbeitrag kommt nicht von Dada, sondern aus der Kriegskartothek von Aby Warburg: „Dorische Säulen, von Maschinengewehrsalven durchlöchert“. So etwas sind harte Kontraste. Die Antike ist hier nicht wie bei den Klassikern durch das Schöne, Gute und Wahre konnotiert. Kunst heute – und damit meine ich vor allem auch die Nahtstellen und Kooperationen zwischen den Künsten – sind über die Perspektiven von Dada hinaus „Büchsenöffner der Wirklichkeit“. Der Erzähler Wirklichkeit ist es, der die Disruptionen, die „zerrissene Welt“ produziert. Manchmal muss man nichts hinzufügen, weil die Realität selber ihre Abgründe zeigt. Manchmal muss man dafür nur die Verkleisterung durch das viele Reden in den Medien wegwischen.
Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne und seine Kriegskartothek, soweit sie nicht beim Angriff auf Hamburg verbrannte, gehören zu den ikonographischen Sammlungen, die ich für eine eigenständige Kunstgattung halte.
Kultur Joker: Am 8. April 1945, als Sie 13 Jahre alt waren und nur vier Wochen vor Kriegsende, überlebten Sie im Luftschutzkeller den Feuersturm auf Halberstadt, der den Ort niederbrennen sollte. Heute fegen wieder weltweit Bomben über die Köpfe von Kindern und Zivilisten. Das Lautpoesiefestival möchte auch zu diesen Themen einen Raum öffnen, Diskurse anregen. Was ist Ihnen vom 8. April geblieben?
Kluge: Feuersturm und Bombenangriffe zu Ende des Zweiten Weltkriegs sind nicht die einzige Erfahrung, die auf uns lastet und uns zur Arbeit herausfordert. Eine gewisse Leichtigkeit des Ausdrucks, die zu Dada gehört, ist mir manchmal heute fremd. Holocaust und die Wiederkehr des Dämons Krieg in vollatavistischer Gestalt in Osteuropa und im Nahen Osten toppen für mich alle Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Wie geht man damit um? Veranstaltungen wie das Lautpoesifestival sind eine gute Lockerungsübung. Man kann nicht von Erfahrungen berichten, wenn man zuvor die Lust am Erzählen umbringt. Wie kann man vom Nichterzählbaren dennoch berichten? Das ist die radikale Herausforderung an alle Kunst heute und – über die Künste hinaus – an unsere Fähigkeit, „sich in zerrissener Welt zu orientieren“. Orientieren müssen wir uns. Man kann nicht vorsätzlich straucheln.
Kultur Joker: Lieber Herr Kluge, herzlichen Dank für Ihre Ausführungen.
Bildquellen
- Alexander Kluge: © Markus Kirchgessner