Theater

Die Opéra national du Rhin wird zum Opernhaus

“Wem ich nie begegnete, das bin ich”

Echte Partystimmung kommt im Straßburger Opernhaus nicht auf, als nach der französischen Erstaufführung von Philip Venables Oper „4.48 Psychosis“ der „Opernwelt“-Chefredakteur Albrecht Thiemann gemeinsam mit Bertrand Rossi, stellvertretender Geschäftsführer des Hauses, die Bühne betritt, um die Elsässische Rheinoper (Straßburg, Colmar, Mulhouse) gemäß der Jahresumfrage von 50 Kritikern als „Opernhaus des Jahres“ auszuzeichnen.

Zu heftig waren die vergangenen neunzig Minuten, in denen die Hauptfigur von ihren Depressionen erzählt, in denen das Publikum mit extremen musikalischen Mitteln die äußeren und inneren Vorgänge in einer Psychiatrie vor Augen und Ohren geführt bekommt. Gerade wegen dieser mutigen, klugen, breit gefächerten Programmauswahl der am 30. Mai im Alter von 47 Jahren verstorbenen Intendantin Eva Kleinitz geht dieser wichtige Kritikerpreis zum ersten Mal überhaupt nach Straßburg. Die kommenden zwei Spielzeiten hat die profilierte, umtriebige Theatermacherin noch geplant. Eine ähnlich innovative Nachfolge für sie zu finden, wird schwierig sein.
„4.48 Psychosis“ ist das letzte Drama der englischen Autorin Sarah Kane, die sich kurz nach dessen Fertigstellung im Februar 1999 das Leben nahm. Auch die Protagonistin des Stücks wählt am Ende den Freitod, auch sie hat wie die Autorin Depressionen. Das autobiographische Drama erzählt von Selbsthass und Verzweiflung, von Panik und Apathie. Philip Venables hat aus diesem aufwühlenden Psychogramm eine einaktige Oper gemacht, die der Protagonistin (bewegend: Gweneth-Ann Rand) noch fünf weitere Frauen (Robyn Allegra Parton, Susanna Hurrell, Samantha Price, Rachael Lloyd, Lucy Schaufer) zur Seite stellt – Ärztinnen, Mitpatientinnen oder auch Spiegelungen des Ichs. Alle tragen die gleiche Kleidung: Jeans, T-Shirt und Weste (Ausstattung: Hannah Clark). Nach der deutschen Erstaufführung der Oper in Dresden im Frühjahr des Jahres ist in Straßburg die originale Londoner Uraufführungsproduktion vom Royal Opera House Covent Garden aus dem Jahr 2016 in der Regie von Ted Huffmann (Wiedereinstudierung: Elayce Ismail) zu sehen. Das aus Streichern, Flöten, drei Saxofonen, Klavier und Synthesizer, Akkordeon und Schlagzeug bestehende Philharmonische Orchester Straßburg (Leitung: Richard Baker) ist auf dem Dach der Psychiatrie platziert. Die entspannte Lounge-Musik, die zu Beginn über die Lautsprecher im Zuschauerraum erklingt, wird bis zur Schmerzgrenze hochgedreht, ehe „4.48 Psychosis“ mit einer heftigen Selbstanklage beginnt. Gweneth-Ann Rand wechselt zwischen Stöhnen, Sprechen und Singen. „Ich bin eine totale Versagerin. Ich kann nicht essen, ich kann nicht lieben. Um 4.48 Uhr werde ich mich umbringen.“ Sirenen treffen auf ruppige Saxofone. Die Musik wechselt zwischen heftigen Attacken und Schockstarre, wenn die Spannung in einem tiefen Flötenton nachklingt.
Die Musik von Philip Venables setzt auf radikale Zuspitzung. Manche Einwürfe sind, was die Lautstärke angeht, allerdings nicht ohne Gehörschutz zu ertragen. Die sechs Frauen können sich zum Chor formieren oder sich zu Einzelstimmen aufsplitten. In diesem Gesang ist noch ein Rest an Menschlichkeit und ein wenig Hoffnung zu spüren. Die Dialoge zwischen der Patientin und der Ärztin werden dagegen stumm geführt. Die einzelnen Worte erscheinen, von zwei Schlagzeugerinnen präzise gehämmert, an der weißen Wand. Sprache wird zu bloßem Rhythmus. Die Empathie ist gleich Null. Auch die nüchternen Gesprächsprotokolle, die um die Medikation kreisen und kühl die Symptomatik der Patientin beschreiben, werden zu rhythmischen Strukturen. Am Ende zitiert der Komponist das „Agnus Dei“ aus Johann Sebastian Bachs h-Moll Messe. „Wem ich nie begegnete, das bin ich!“, lauten die letzten Worte der Protagonistin. Dann stellt sie sich auf einen Tisch, um sich zu erhängen.

Georg Rudiger

Bildquellen

  • 4.48_PSYCHOSIS_PhotoKlaraBECK_9097: Klara Beck