Die Linke am Scheideweg: Radikaler Universalismus oder woke Identitätspolitik? Zwei fundamentale Bücher zu existenziellen Fragen solidarischer Gesellschaftspolitik
Seit den unruhigen Zeiten der zunächst antiautoritären Studentenbewegung und der hieraus entstandenen revolutionären Organisationen ab Ende der 60-er bis etwa Mitte der 80-er Jahre und der heutigen Situation der Linken hat sich vieles verändert. Trotz aller teils massiver ideologischer Differenzen der verschiedenen Strömungen war damals ein gemeinsamer Bezugspunkt weitgehend unstrittig: Es ging um die grundsätzliche Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems und die damit verbundenen Klassengesellschaften in den jeweils unterschiedlichen politischen Verfassungen und dies in internationalem Maßstab. Sämtliche Formen von ökonomischer Ausbeutung, Unterdrückung, geschlechtlicher Diskriminierung, rassistischer oder ethnischer Verfolgung oder imperialistischer Kriegsführung wurden auf Basis marxistischer Analyse als zwangsläufige Resultate und konstitutionelle Grundpfeiler dieses zutiefst destruktiven und jeglicher menschlichen Solidarität widersprechenden Systems erkannt.
Dieser mehr oder weniger vorhandene Grundkonsens oppositioneller Bewegungen oder Organisationen der Linken scheint heute abhandengekommen zu sein. Es gibt zwar nach wie vor zahlreiche Initiativen, Strömungen und sogar linke Parteien, die offenbar jedoch das „Ensemble der Verhältnisse“ (Karl Marx) aus den Augen verloren haben. Sie engagieren sich vor allem entweder als persönlich Betroffene oder in subjektiv als wesentlich erachteten Teilgebieten des Widerstands und kämpfen innerhalb dieses eingeschränkten Rahmens für Verbesserungen oder Reformen, was den Einsatz für das umfassende, „das letzte Gefecht“ (Die Internationale), den Sturz des Kapitalismus nämlich, objektiv schwächt.
Diese Entwicklung und Haltung weiter Kreise des „linken Lagers“, aber auch subkultureller, auf individualistische Selbsterfahrung oder -verwirklichung zielender Gruppen, hat zu deren schlagwortartiger Charakterisierung „Wokeness“ geführt und heftige ideologische Kontroversen in Wort und Schrift ausgelöst. Auf unterschiedlichstem Niveau wird die Auseinandersetzung unter dem begrifflichen Widerspruchspaar „Identitätspolitik versus Universalismus“, oder auch „Wokeness versus Klassenkampf“, ausgetragen.
Zwei Bücher, nicht mehr ganz neu, aber bedeutsame Beiträge zum Thema, von Jean-Philippe Kindler und Susan Neiman sollen hier im Kultur Joker vorgestellt werden. Das erste von Jean- Philippe Kindler in dieser Ausgabe, das Buch von Susan Neiman folgt im Septemberheft.
Jean-Philippe Kindler: „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ (rororo)
In seinem Buch schreibt Jean Philippe Kindler in der Einleitung: „Linke sind sehr gut darin zu sagen, was sie schlecht finden und trauen sich kaum mehr zu sagen, was sie gut finden, wofür sie streiten und was sie erkämpfen wollen.“
Er nennt dies „utopische Verlegenheit“, die es Konservativen und Neoliberalen leicht machten, „linke Konzepte, die auf Maximierung des Gemeinwohls zielen, rhetorisch abzuwerten und ins Reich der Phantasmen zu verbannen.“ Stattdessen würde dieser große Wurf allzuoft von „Politikkonzepten, die am Glück des Einzelnen ansetzen“, ersetzt. Anhand vieler Beispiele zeigt er auf, dass diese sich zwar gegen verschiedenste Formen der konkreten Diskriminierung von Minderheiten richten, aber diese identitätspolitischen Kämpfe um das Wohl des Einzelnen nie in Beziehung zu dem Kampf für das Wohl der gesamten unterprivilegierten Klasse stattfinden. „Es mangelt eklatant an ökonomischer Analyse“ urteilt Kindler und meint damit den unterlassenen Blick auf die materiellen Grundlagen jedweder dieser gesellschaftspolitischen Miseren. Führten diese Auseinandersetzungen im besten Fall zu Teilerfolgen, sei der Kapitalismus flexibel genug, zum Beispiel QuotenvertreterInnen aus Minderheiten etwa in Konzernvorständen und in der Politik zu berücksichtigen, materielle Zugeständnisse in Form von sozialpartnerschaftlichen Tarifabschlüssen abzusegnen oder auch den einen oder die andere MigrantIn auszubilden, ohne dass dies am System irgendetwas ändere. Denn der Kapitalismus könne auf eines nicht verzichten: Ökonomische Ausbeutung. Sein klassisch marxistisches Fazit: „Möchte man diese radikal überwinden, so wird das innerhalb kapitalistischer Produktionsverhältnisse nicht gelingen, weil diese im Kern darauf basieren, dass die einen im Besitz der Produktionsmittel sind, völlig unabhängig von ihrer Identität.“ Auf der anderen Seite stünden die, die nichts haben als ihre Arbeitskraft, die sie auf dem Arbeitsmarkt zu verkaufen versuchen. Er fragt ironisch, an die Linken gewandt: „Wollen wir, statt die Herrschaft abzuschaffen, diese diverser gestalten?“
Kindler weist auf den von Marx analysierten gesellschaftlichen Klassenantagonismus in „Ausbeutende und Ausgebeutete“ und kritisiert, dass auf Basis dieser grundlegenden Erkenntnis bei der heutigen Linken vielfach dementsprechendes Klassenbewusstsein fehle. Die meisten linksliberalen Diskurse zielten im Kern darauf, diskriminierten Individuen oder Gruppen „Zugang zu gesellschaftlicher Repräsentation zu ermöglichen“. Diese identitätspolitischen Interventionen entspringen nicht der Klarheit über das allgemeine Schicksal, vom Kapitalismus ausgebeutet zu werden, und deshalb werde gerade „Klassenkampf zur ersten Pflicht, weil es so schwierig geworden ist, seine Notwendigkeit politisch zu vermitteln.“
Wie das verändert werden kann – darüber hat Kindler eine klare Vorstellung und legt dazu in 6 getrennten Kapiteln zu den Themenbereichen „Armut“, „Glück“, „Klimakrise“, „Demokratie“, „Links sein“ und „Das gute Leben“, die sämtlich „repolitisiert“ werden müssten, gründlich fundierte Analysen vor. So gründlich und konkret, dass in einer Rezension nur beispielhaft auf einige Argumentationsmuster eingegangen werden kann.
Repolitisierung heißt für Kindler vor allem Klarheit schaffen durch Mythos-Bekämpfung, oder genauer durch analytische Widerlegung als sicher deklarierten ehernen Wahrheiten, die in etwa so klingen: „Der Kapitalismus ist nicht ideal, aber die beste aller bisherigen Gesellschaftsformen“- oder „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und selbst schuld, wenn er den gesellschaftlichen Aufstieg nicht schafft, weil ja schließlich alle dieselben Chancen hätten- oder „Der Staat kann nur so viel Geld ausgeben, wie er einnimmt“.
Da kommen noch viele weitere hinzu, etwa von der protestantischen Ethik (Max Weber) abgeleitete Vorstellungen bis zur Mär, die Reichen verdienten ihren Status, weil sie ja schließlich auch mehr leisteten. Denen geht er sämtlich argumentativ sauber und in vielfach höchst vergnüglich zu lesender Sprache an den Kragen, denn er ist ja nicht umsonst auch als erfolgreicher Satiriker auf Bühnen und in anderen Medien unterwegs.
Zum Beispiel in seiner Entlarvung eines fehlgeleiteten subjektiven Glücksempfindens, welches den Zugang zu einer überbordenden Konsumwelt oder zur Therapievielfalt sozialpsychologischer Selbsterfahrungsgruppen als adäquaten Ausgleich für die im Überlebenskampf des ausbeuterischen Arbeitsalltags erlittenen Schädigungen hält. Man könne ja weder den Burn-out, geschweige denn den Kapitalismus einfach „wegatmen“.
Im Hinblick auf die Klimakrise werden verschiedenste Versuche von Konzernen und Politik, die Verantwortung für die Abwendung der drohenden Katastrophe von sich auf das private Verhalten der Menschen abzuwälzen, beschrieben, obwohl erwiesenermaßen die hundert weltweit größten Konzerne 70% des ausgestoßenen CO₂ verursachen. Besonders signifikant in diesem Zusammenhang: Die globale PR-Kampagne für ein am persönlichen CO₂-Fußabdruck orientierten Verhalten der Menschen stammt vom britischen BP-Ölkonzern.
Angesichts des selbst von der neo-liberalen Wirtschaftswissenschaft anerkannten permanenten Wachstumszwangs des Kapitalismus und der deshalb akut drohenden Gefahr erdklimatischer Kipppunkte zur Irrreversibilität fordert Kindler eine nicht verhandelbare „radikale Poltik der Endlichkeit“.
Auch die weiteren Repolitisierungs-Kapitel werden ähnlich tiefgründend behandelt und unterfüttern jeweils ihrer Thematik entsprechend die Schlussfolgerungen Kindlers für die Aufgaben der Linken, vor allem in „Links sein“ und „Das gute Leben“.
In beiden bemüht er sich, den Graben zwischen linker Identitätspoltik und revolutionärem Universalismus noch einmal umfassend zu begründen, zugleich aber Wege und Bedingungen einer möglichen Zusammenarbeit auszuloten.
IdentitätspolitikerInnen wird das Verdienst zugeschrieben, ob aus eigener Betroffenheit oder Solidarität, die prekären Lebensbedingungen und Diskriminierungen marginalisierter Gruppen deutlich sichtbar gemacht, damit den politischen Diskurs bereichert und auch einzelne Erfolge an Teilfronten erzielt zu haben. Andererseits bleiben dabei die systemimmanenten und konstituierenden grundsätzlichen Klassenverhältnisse im Kapitalismus in der Regel mangelhaft oder ganz unreflektiert. Das ist der Grund, warum es bei vielen identitätspolitischen Aktivitäten vor allem um die gesellschafts- oder staatspolitische Repräsentation der eigenen Klientel geht. All dies hat natürlich handfeste Gründe und ist voll berechtigt, bleibt aber dennoch aus Sicht eines universalistischen Transformationsanspruchs auf dem Level der Symptombewältigung.
Da man aber auf die Verbesserung konkreter unzumutbarer Lebensbedingungen auch nicht „bis zur Revolution“ warten kann, scheint ein aufeinander Zugehen erforderlich. Für Kindler könnte dies ein gemeinsamer Weg der Radikalisierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sein. Ein denkbares Beispiel wäre etwa, dass am 8. März, dem Internationalen Frauentag, nicht nur Demos oder Kulturveranstaltungen abgehalten werden, sondern möglichst alle Frauen an diesem Tag kollektiv die Arbeit niederlegten. Dies wäre eine bewusste und spürbare Konfrontation mit dem System und Ausdruck eines gemeinsamen Kampfes nicht nur feministischer AktivistInnen. Solch radikalisierte Strategien sind für alle defizitären Politikfelder denkbar, allerdings nur unter der Prämisse, dass der Kapitalismus als ganzheitliches System der Ausbeutung und Unterdrückung gesehen wird. Der Autor resümiert gegen Schluss: „Linke müssen Meister der Erpressung werden. Das gute Leben ist etwas, was es aus der Masse heraus zu erkämpfen gilt“.
Hier konnten leider nur die wichtigsten Argumentationslinien aufgezeigt werden. Das Buch liefert noch weit mehr Anregungen zur eigenen Auseinandersetzung mit Fragen zu Theorie und Praxis radikaler gesellschaftlicher Veränderung. Es ist durchweg gut lesbar und engagiert geschrieben und somit uneingeschränkt zu empfehlen.
Jean-Philippe Kindler. „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“. Rororo.
Bildquellen
- Jean-Philippe Kindler: © Marvin Ruppert