Literatur

Die letzten Orangen aus Jaffa

Mit ihrem Hybrid aus Sachbuch und Roman „Orangen aus Jaffa. Eine wahre Geschichte über das Ende der goldenen Ära Paläestinmas“ erzählt Nadine Sayegh von der Vertreibung ihrer Familie im Vorfeld der Staatsgründung Israels. Ein weiterer Beitrag in der schwierigen Debatte um die sogenannte Nakba und eine vertane Chance um eine differenzierte literarische Betrachtung komplexer Verhältnisse.
Marcel Reich-Ranicki beschwerte sich einmal im „Literarischen Quartett“ darüber, dass manche Autor*innen Kinder zu Erzählfiguren ihrer Werke machen. Ein bisschen zu einfach würden es sich diese damit machen. Tatsächlich lassen sich auch schwierige Themen über die Kinderperspektive wunderbar unverfänglich angehen. Unverfänglich, weil Kinder gemeinhin als unschuldiger in ihren Betrachtungen gesehen werden und damit freier in ihren Urteilen agieren können. Ihr naiver Blick strahlt über die Verwerfungen der Geschichte und bietet unverhofft spielerische Annäherungen an schwierige Verhältnisse. Der junge Palästinenser Nicolas Sayegh ist ein solcher Spieler in schwierigen Verhältnissen. Nicolas Sayegh ist auch der Vater der Autorin Nadine Sayegh, die in ihrem real fundiertem Roman ihre eigene Familiengeschichte erzählt. Als Kind in den 1940ern erlebte Nicolas Sayegh die „Nakba“, ein Ereignis, das viele Pälestinenser*innen als Vertreibung aus ihrer Heimat beschreiben. Aufgewachsen ist Nicolas Sayegh in Jaffa, das heute als das israelische Tel Aviv oder Tel-Aviv-Jaffa bezeichnet wird.
„Im Jaffa Ende der Vierzigerjahre gehörten die Menschen zu den reichsten in ganz Palästina. Riesige Schiffe standen da und wurden mit Tonnen von Orangen, Zitronen und Mandarinen beladen. Ich kann mich noch genau an den Geruch erinnern, der dort allgegenwärtig war.“ Nicolas Sayegh lernt Jaffa als duftendes Tor zur Welt kennen, auch über seine kosmopolitisch geprägte Familie. Der Sohn soll wie der Vater ein großer Industrieller werden, mit jenem angemessenen Stil, den seine wohlhabende Familie in Orientierung an französische oder britische Gepflogenheiten entwickelte. Nicht zuletzt trägt Nicolas selbst einen Namen, der vor allem in europäischen Kulturkreisen Verwendung findet. Gleichzeitig ist der junge Palästinenser den Verhältnissen nicht enthoben, prügelt sich mit einem anderen Jungen, schleicht sich heimlich ins Kino, genießt mit seinen Freunden das wilde und entdeckungsreiche Leben einer Kindheit in Jaffa. Von seinem Vater bekommt Nicolas viele Anekdoten zu hören, nicht selten mit moralischem Unterton, denn wichtig bleibt für den Kosmopoliten, seinem Sohn einen respektvollen Umgang fürs Leben mitzugeben.

Eine beinah neue Geschichtsschreibung

Respekt will auch Nadine Sayegh ihrem Vater und seinem schweren Schicksal zukommen lassen. Zwischen die Kapitel der Erzählung um Nicolas setzt die Autorin über Dokumente und Berichte eine „Historie im Hintergrund“, die belegen soll, dass die „Nakba“, die schließlich auch den jungen Nicolas einholen wird, einen „eindeutigen Fall einer ethnischen Säuberung“ darstelle. Der naiven Perspektive des jungen Palästinensers steht damit eine sachlich vermittelnde Interpretation der Ereignisse zwischen 1947 und 1949, also im Vorfeld der Gründung des Staates Israel gegenüber.
Die Verwendung des Begriffs der „ethnischen Säuberung“ gilt als umstritten. Entsprechend zeigt sich das Buch bemüht, Belege für diese These zu liefern. Originell ist es darin nicht. Am Ende des Buchs verweist Nadine Sayegh auf das Sachbuch „Die ethnische Säuberung Palästinas“ des israelischen Historikers Ilan Pappe von 2006, das ihren Ausführungen als maßgebliche Quelle dient. Pappe wird gemeinhin zur Gruppe der Neuen israelischen Historiker gezählt, die auf Basis von israelischen Archivfunden um die Jahrtausendwende eine neue, kritische Geschichtsschreibung des Staates Israel etablierten. Auch wenn innerhalb der Gruppe verschiedene Zugänge bestehen, sind diese doch geeint in ihrer Abkehr von der offiziellen israelischen Geschichtsschreibung. Statt von einer freiwilligen Migration wird aus Perspektive der Neuen israelischen Historiker, vergleichbar mit dem Narrativ der „Nakba“, von einer Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung gesprochen. Die Verantwortung für den bis heute andauernden Nahostkonflikt wird damit auch Israel zugewiesen.
Zunächst mag überraschen, dass sich ein Buch aus palästinensischer Perspektive auf das Werk eines israelischen und nicht etwa auf das eines palästinensischen Forschers bezieht. Tatsächlich gibt es eine vergleichbare kritische Archivarbeit auf arabischer Seite nicht, dort ist eine „Oral History“ vorherrschend. Auch kollektive Erinnerungen sind entscheidend für die Erfahrung einer „Nakba“. Nadine Sayeghs Buch wagt den Spagat aus wissenschaftlicher Auseinandersetzung und familiärer Oral History. Für eine wissenschaftliche Reflexion ist der junge Nicolas Sayegh in jedem Fall noch nicht bereit. Für Abenteuer im sonnenstrahlenden Jaffa dafür umso mehr.

Eine beinah idyllische Kindheit

Obwohl „Orangen aus Jaffa“ keine 200 Seiten Text enthält und davon nur etwa die Hälfte den Abenteuern des „palästinensischen Tom Sawyer“ (Pressetext) gewidmet ist, überrascht es doch, dass Nicolas Sayegh mit den Konflikten im Kontext einer „Nakba“ nur wenig Berührung hat. Den Berichten zu einem bei den UN-Teilungsverhandlungen ignorierten Palästina, zu einem Überfall des Dorfs Khisas durch zionistische Paramilitärs 1947 und generell der „systematischen und vollständigen Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat“ stehen die harmlosen Abenteuer eines Kindes gegenüber. Wenn auch elegant geschrieben und mit interessanten Hintergründen zur Geschichte Jaffas garniert, bleibt das launische Kindheitsabenteuer doch seltsam unmotiviert neben den detaillierten Untersuchungen zu Gewaltverbrechen und Vertragsbrüchen stehen.
Ein zweiter Blick lässt aber ahnen: Die Freundlichkeit und Konturlosigkeit der Erzählung hat Methode. Die schöne Welt des jungen Nicolas stellt das sorgfältig rein gehaltene Gegenüber zu den kommenden Ereignissen einer „Nakba“ dar. Bereits der Untertitel des Buchs spricht von einer „goldenen Ära Palästinas“. Vollkommen entpolitisiert spielen sich die Konflikte in Nicolas‘ Welt in Gestalt von Prügeleien mit Klassenkameraden oder einem unerlaubten Kinobesuch ab. Nicolas ist so unschuldig, dass in seinen Augen selbst die Beschreibung des Holocaust zu einer beiläufigen comichaften Betrachtung verkommt: „In Europa waren schreckliche Dinge passiert. Irgendetwas mit den Juden und einem verrückten Mann mit einem viereckigen Schnauzbart, der die rechte Hand schräg nach oben ausstreckte.“ Auch die tatsächliche Vertreibung der Familie Sayegh ganz am Ende der Erzählung bleibt weitgehend konturlos. Waffenlärm und Berichte von einer meist ungreifbaren Bedrohung machen erst den Nachbar*innen und schließlich der Familie selbst Angst, sodass diese schließlich flieht. Direkten Kontakt mit den Repräsentant*innen einer israelischen Politik hat die Familie nicht. Erst als Nadine Sayegh mit ihrem Vater viele Jahre später in ihre Heimat zurückkehrt, erleben beide kaltschnäuzige Grenzbeamte und ein Jaffa mit heruntergekommenen Häusern, ein konsequent negatives Gegenbild zum Kindheitsidyll: „Wie ein anderes Jaffa, jenes in einer Parallelwelt.“ Erst angesichts dessen kritisiert der nun 81-Jährige Nicolas Sayegh explizit: „Wir waren verwurzelt wie Bäume. Man hat uns ausgerissen.“ Sein junges Ego 69 Jahre früher äußert dagegen nur: „Mit Politik hatten wir nicht viel am Hut. Unser Metier war die Orange. Alles richtete sich danach aus. Wir konnten unser Glück schälen.“
Natürlich bleibt das dem jungen Nicolas nicht vorzuwerfen, schließlich ist er ein unbedarftes Kind, das für die politischen Konflikte seiner Zeit keine Verantwortung trägt. Die Wahl dieser Perspektive hingegen bleibt weniger unbedarft, sondern entbehrt nicht eines gewissen rhetorischen Geschicks. Ein Kind seine geliebte sonnenhelle Heimat verlieren zu sehen angesichts einer ungreifbaren Bedrohung schafft ein Gut-Böse-Verhältnis mit klarer Identifikation. Die Vertreibung aus dem Paradies Jaffa könnte in dieser Fassung auch Märchenstoff sein, eine Kindergeschichte. Der komplexen Realität des Israel-Palästina-Konflikts steht sie denkbar fern. Oder etwa nicht? Möglicherweise war Nicolas Sayeghs Kindheit wirklich so idyllisch, möglicherweise kam der Konflikt wirklich so unsichtbar und plötzlich über seine Familie, möglicherweise beruht den Eindruck eines „Gut-Böse-Schemas“ auf realen Begebenheiten oder bildet gar einen falschen Kurzschluss.
Auch in diesem Fall bleibt es in literarischen wie historischen Belangen unbefriedigend, dass Nadine Sayegh für ihre fundamentale Kritik an der israelischen Geschichtsschreibung selbst eine so schwache Geschichtsschreibung ins Feld führt. Ihre palästinensische Oral History bietet die Romantisierung einer vergangenen Zeit, keine Neuverhandlung des komplexen Verhältnisses zweier Konfliktparteien. Mit Muriel Asseburgs Sachbuch „Palästina und die Palästinenser. Eine Geschichte von der Nakba bis zur Gegenwart“ ist dieses Jahr eine Darstellung erschienen, die verschiedene Persönlichkeiten der palästinensischen Geschichte portraitieren soll. Das ist schon einmal erfreulich und dürfte zumindest vor einer weiteren Kinderperspektive bewahren, die es allen Lesenden doch wieder nur einfach machen will.

Nadine Sayegh, „Orangen aus Jaffa. Eine wahre Geschichte über das Ende der goldenen Ära Palästinas“, edition a 2021.

Bildquellen

  • Arab refugees stream from what was then Palestine, on the road to Lebanon in northern Israel to flee fighting in the Galilee region in the Arab-Israeli war, November 4, 1948.: CREDIT: Associated Press.