Der Mann am Klavier
Das Staatsorchester Stuttgart bestreikt die Premiere von „Eugen Onegin“
Wenn der Pianist nach einer Opernpremiere den größten Beifall erhält, dann muss etwas Besonderes vorgefallen sein. Eine Stunde vor Premierenbeginn hatte Korrepetitor Thilo Lange erfahren, dass er wegen des kurzfristig anberaumten Orchesterstreiks den „Eugen Onegin“ an der Stuttgarter Staatsoper vom Klavier aus zum Leben erwecken muss. Lange besteht seine Feuerprobe mit Bravour, folgt hinhörend dem Dirigenten Marc Soustrot, beschränkt sich bei Tuttistellen auf das Wesentliche und hämmert die großen Orchestercrescendi wie am Ende der Ballszene im zweiten Akt, nachdem Lenski seinen Freund Eugen Onegin zum Duell aufgefordert hat, mit solcher Energie in die Tasten, als spielte er um sein Leben.
Lange Zeit fehlt nichts bei diesem „Eugen Onegin“. Regisseurin Waltraud Lehner verlegt die Geschichte vom frühen 19. ins späte 20. Jahrhundert. Die Hausherrin Larina kocht keine Marmelade ein wie im Libretto, sondern rollt Architekturpläne aus. Die große Plakatwand im Hintergrund (Bühne: Kazuko Watanabe) zeigt eine braune Mietskaserne. Die Dorfbewohner bringen keine Erntegaben, sondern sind sichtlich ungehalten darüber, dass Larina sie aus ihrer Wohnung schmeißt und dafür mit ein paar Geldscheinen abspeist. Nach und nach hält der Kapitalismus Einzug in dieses spätkommunistische Ambiente. Der wenig ansehnliche Wohnblock wird, Papierbogen für Papierbogen, überklebt mit einer schicken Villenanlage, die Frauen des Dorfes brezeln sich auf (Kostüme: Werner Pick). Nur ein paar Überbleibsel wie der verknitterte Triquet (berührend: Heinz Göhrig) zeugen noch von der alten Zeit.
Trotz der knalligen Bilder gelingt es Waltraud Lehner in den ersten beiden Akten, sich den komplexen Gefühlswelten der Protagonisten anzunähern. Das Drama wird dicht erzählt, die Personenführung ist schlüssig. Bei der Briefszene schreibt Tatjana ihre Liebeserklärungen an Eugen Onegin auf die am Bauzaun montierten Werbetafeln. In ihrer plötzlich erweckten Leidenschaft legt die schüchterne Tochter alle Hemmungen hab. Halbnackt steht Tatjana träumend auf der Bühne, ehe ihre Ekstase in Scham umschlägt und sie beim Erblicken Onegins ihre Bluse wieder anzieht. Karine Babajanyan singt diese Tatjana mit geschmeidigen Linien und dunkler Tiefe. Auch Tajana Rai als jüngere Schwester Olga, Cornelia Wulkopf als Amme Filipjewna und Trine Øien in der Rolle der Larina verfügen über die notwendigen Mezzofarben, so dass Tschaikowskis schwermütiger, mit großen Emotionen beladener Opernton Gewicht erhält. Die sängerische Entdeckung des Abends ist Roman Shulackoff, der Lenski mit tenoraler Wucht ausstattet, ohne dabei an Zwischentönen einzubüßen. Nur die Titelfigur bleibt blass. Shigeo Ishinos Onegin ist zwar solide. Manche Passagen erscheinen jedoch zu gepresst, die große kantable Linie fehlt. Bei der dramatischen Schlussszene fehlen Ishino auch die darstellerischen Möglichkeiten, um sein letztes Liebeswerben um Tatjana glaubwürdig zu machen.
Warum Waltraud Lehner den fragilen Schlussakt in einen Skiort verlegt, bleibt schleierhaft. Die beeindruckend singenden Choristen (Einstudierung: Johannes Knecht) sind hier in fesche Skianzüge gesteckt und nippen an einem Glühwein. Hier zerbricht die lyrische Oper unter der Last der Bilder. Und die emotionale Wärme tendiert zum Gefrierpunkt.
Weitere Vorstellungen: 3./6./ 10./18./23. Jan.
www.staatstheater.stuttgart.de
Georg Rudiger