Der Auszug aus dem Kapitalismus: Perspektiven auf neue Wirtschaftskonzepte und die Suche nach dem Sinn
Drei Unternehmer zeigen sich kritisch gegenüber dem bestehenden Wirtschaftssystem und geben Beispiele für ein neues Denken. Eine Akademie für Wirtschaftsbionik denkt derweil über eine Änderung des Währungssystems nach. Hinter beiden Vorstößen steckt die Suche nach Sinn in unserer Wirtschaft. Ein Streifzug zwischen Duftkerzen, Grundeinkommen und den Kreisläufen der Natur.
Der Baumeister kehrt in seine Klause ein und betet. Um ihn herum Wald, nur zu einer Seite blickt er hinab aufs Land. „Die Zivilisation mit ihren Lichtern, die in der Nacht da unten leuchten, und mit ihren Straßen, auf denen sich leuchtende Punkte bewegen.“ Seinen neuen Zufluchtsort sieht Robert Rogner nicht als Endstation, eher als Ort, an dem er Orientierung und Inspiration schöpfen kann, um dann zurückzukehren, in die Zivilisation da unten. Denn das Leben des Baumeisters soll nicht kontemplativ bleiben, sondern vom Spirituellen inspiriert zum guten Handeln führen. „Das Handeln aus dem Bewusstsein für unseren Kern heraus ist letztendlich das, was uns in all unserer Individualität zu einem guten Ganzen verbindet, das uns Kraft gibt und uns gemeinsam weiterbringt.“
Robert Rogner ist einer der drei Unternehmer hinter dem Buch „Eine Neue Wirtschaft. Zurück zum Sinn“. Zusammen mit Johannes Gutmann, Gründer des Bio-Unternehmens Sonnentor und Josef Zotter, Leiter des weltbekannten Unternehmens Zotter Schokolade, tritt der renommierte Baumeister für eine Neukonzeption der Wirtschaft ein. Ganzheitlicher soll sie werden, mehr an dem Menschen und seinen Bedürfnissen ausgerichtet. Gewünscht ist ein Modell jenseits neoliberaler Eigendynamiken und Selbstoptimierung. Keine unbedingt überraschende Perspektive, auch nicht aus der Position des wohlmeinenden Unternehmers. Denn der ist in den letzten Jahren zu verdächtiger Popularität gelangt. Allzu gängig ist es für Firmen mittlerweile „Fair Trade“ oder „Bio“, „nachhaltig“ oder „klimaneutral“ als Label auf ihre Produkte zu kleben. Sonderlich kritisch mutet die Verwendung solcher Begriffe heute nicht mehr an. Der Politik entwachsen sind sie zu vermarktbaren Lifestyle-Slogans geworden.Unternehmer*innen, die auf Besinnung plädieren, stehen also unter Rechtfertigungsnot, wollen sie sich nicht neben ökologisch und menschenfreundlich gewordene Unternehmen wie Coca Cola, Google oder H&M stellen.
Hilfreich ist da zumindest, dass alle drei Unternehmer nicht erst seit den weltweiten Klimaprotesten grüne Flagge zeigen. In den persönlichen Berichten, die ihren Thesen beiliegen, stellen alle ihr langjähriges Engagement für eine nachhaltige Unternehmenskultur heraus. Zotter ist bereits seit 2004 Vertragspartner von Fair Trade, Sonnentor vertreibt seine Produkte aus biologischem Anbau bereits seit Ende der 80er-Jahre. In seinem persönlichen Bericht schreibt Johannes Gutmann, wie die Arbeit auf seinem Bauernhof Anfang der 90er-Jahre an den Kreisläufen der Natur orientiert war. „Der Mensch nimmt nicht, sondern die Natur gibt, das wurde eine unserer zentralen Botschaften.“
Der Auszug Buddhas aus dem Neoliberalismus
Robert Rogners Karriere stand zunächst unter anderen Vorzeichen als denen eines naturnahen Wirtschaftens. Dank der erfolgreichen Revitalisierung eines denkmalgeschützten Gebäudes im damaligen Ostblock war der Baumeister in Österreich anerkannt. Bei der Suche nach neuen Anlegern für sein Unternehmen stieß er auf einen Mann, der vom Wirtschaftssystem gebeutelt, „zum Spielball der Mächte gemacht, denen er sich aus Leichtsinn und Größenwahn ausgeliefert hatte“. Hier setzt die innere Wandlung Robert Rogners an, die ein wenig an den Auszug Buddhas aus dem heimischen Palast erinnert. Der verwöhnte Prinz stößt auf die Bedingungen der Wirklichkeit und muss sich fragen: „Wozu das alles? Was sollte ich tun? Was war der Sinn meines Lebens?“ So Rogners Worte. In der Selbstbefragung wurde für ihn klar: Wie der gebeutelte Mann möchte er nicht enden. Weder sich selbst noch seiner Umgebung würde er damit helfen.
„Zurück zum Sinn“ fordert der Untertitel des Buchs. Und impliziert: Der aktuell bestehenden Wirtschaftsordnung fehlt es an Sinn. Dass Sinn zunächst etwas ist, das vom Individuum gegeben wird, verstehen die Autoren. Deshalb richten sie sich nach dem Individuum, konkret nach den Lesenden des Buchs, vor denen das Bild einer defizitären Wirtschaftswelt aufgefaltet liegt. Man möge dem Vorbild des sich selbst befragenden Robert Rogner folgen, da man liest: „Niemand fragt mehr: Was möchte ich eigentlich wirklich machen? Was erfüllt mich? Brauche ich das überhaupt?“ Die Wirtschaft hingegen flüstere uns ein: „Befolge meine Regeln, dann wird alles gut. Ideen sind ein Luxus, den du dir nicht leisten kannst, wenn du Erfolg haben willst.“ Die gewinnoptimierte Wirtschaft als entfremdetes, verführerisches Gegenüber. Ein Negativbild, das längst über die Popkultur verankert und konturlos geworden, sicherlich aber nicht unzutreffend ist. Fasst man den geflüsterten Begriff „Erfolg“ dabei etwas weiter als „Entlohnung“ wird recht schnell deutlich, warum. Schnell sind dann empfindliche Fragen berührt, die auch nicht bekennende Kapitalist*innen zur Unterstützung des bestehenden Wirtschaftssystems bringen. Im aktuellen Wahlkampf durften Grüne, aber auch Linke die Skepsis von Unternehmer*innen wie Bürger*innen spüren, die in Steuersätzen für Reiche eine Herabwürdigung der Leistungen einzelner sehen, eine Motivationsbremse für junge Innovative, wie es Wirtschaftsliberale vielleicht formulieren würden. Und weiter: Arbeitsplätze sind in Gefahr, wenn der Erfolg ausbleibt, Lebensgrundlagen. Wenn das Großunternehmen nicht wirtschaftet, hat auch der kleine Mann nichts mehr zum Leben. Thatchers Invisible Hand füttert die Ärmeren nicht mehr, lässt sie auf den Straßen verhungern. Bedeutet eine „Neue Wirtschaft“ da nicht pure Rücksichtslosigkeit?
Die Einkehr des Individuums
Orientiert am Wohlbefinden des Individuums setzt auch das Plädoyer der „Neuen Wirtschaft“ an: „Wirtschaft ist von den Menschen für die Menschen gemacht. Sie soll unseren Bedarf an Dienstleistungen und Gütern decken. Sie soll dafür sorgen, dass niemand hungern oder frieren muss.“ Dann aber beschreiten die Autoren andere Wege, beziehungsweise lassen diese beschreiten. Denn mit dem Blick auf die Bedürfnisse des Individuums fängt auch die Arbeit des Individuums an. Wir sitzen mit Robert Rogner vor einem desolaten Wirtschaftssystem und müssen nicht dieses, sondern uns selbst fragen: „Was ist der Sinn meines Lebens? Was empfinde ich als meinen inneren Auftrag? Wie kann ich ihn erfüllen?“ Und damit beginnt eine größere Bewegung.
Denn die Visionäre einer neuen Wirtschaft glauben an die Vorbildlichkeit ihrer Methode. Wer seine Sinnsuche mit anderen teilt, im Netzwerk handelt, stiftet andere zu ähnlichem Verhalten an. Das Beispiel der drei Unternehmerfiguren illustriert dies. Am Anfang all ihrer Bemühungen steht das Individuum mit seinen Visionen und am Ende ein Unternehmen, das diese verkörpert. Im Falle Robert Rogners begann das Netzwerken mit Mönchen, die regelmäßig ein Bad in Bad Blumau nahmen, dem Thermalbad, dem der Baumeister vorstand. Sonderlich erfolgreich war Rogner mit dem Bad nicht, wurde von den Mönchen aber darauf hingewiesen, dass das Wasser wertvoll sei. Ermutigt folgte er den Ratschlägen der Mönche und ließ Kerzen aufstellen, das Licht dimmen und Weihrauch im Bad verteilen. Gleichzeitig gestaltete Rogner das Bad grundsätzlich um, ließ die Gäste nicht mehr anhand von Hinweisschildern, sondern selbst auf Erkundungstouren gehen. Das Bad als meditativer Ort des Abenteuers. Nicht nur über die Mönche kam Rogner zu dieser Vision, sondern auch, indem er in den Raum hinein „horchte“: „Mir wurde klar, dass Menschen, Unternehmen und Orte so etwas wie einen inneren Kern haben, und dass, je näher wir diesem Kern kommen, sich alles immer dynamischer und immer richtiger fügt.“ Rogners Sinn des Lebens sei, das wurde ihm darüber klar, sich mit Beziehungen zu beschäftigten, zu sich, anderen Menschen, aber auch zu Orten, der Natur.
Wer nach konkreten Initiativen fragt, um der „Monsterwirtschaft“, wie sie Rogner nennt, entgegenzutreten, bekommt sie nachgereicht. Robert Rogner gründete eine „Gesellschaft für Beziehungsethik“, die Menschen und Unternehmen bei ihrer Selbstfindung begleitet. Am Ende steht die Aufklärung, die der Baumeister auf seinem Hügel für die Gesellschaft da unten bereithält. In jedem Fall eine, die zu mehr Gleichheit in der Gesellschaft führen soll: „Schuster, Tischler oder Verkäuferinnen sehen sich auf Augenhöhe mit Politikern und Firmenbossen, weil sie erkennen, dass ihre Arbeit ebenso wertvoll ist. […] In einer Wirtschaft, in der jeder seinem Sinn folgt und seine Schaffenskraft in den Dienst der Gesellschaft stellt, entsteht automatisch ein demokratisches Miteinander.“
Exkurs zum Schluss: Eine Neue Wirtschaft
Gleichbehandlung aller, Entlohnung auf Augenhöhe. Seltener werden die Probleme eines neoliberalen Wirtschaftssystems wie unserem deutlicher als bei dieser Problematik, die in der Corona-Krise noch deutlich verschärft wurde. Angesichts der schlechten wirtschaftlichen und damit sozialen Lage erreichen auch Botschaften mit visionären Ideen ein größeres Publikum. Ein solches wünscht sich nicht nur, sondern braucht die zwar international vernetzte, aber doch eher kleine Gradido-Akademie für Wirtschaftsbionik. In nichts Geringerem als einer internationalen Neukonzeption des Geldsystems sieht die Akademie die Lösung globaler Krisen. Bleibt ihr Ansatz auch deutlich konzeptorientierter als die mehr philosophisch grundierte Perspektive Gutmanns, Rogners und Zotters bleibt doch auch hier die metaphysische Idee einer Orientierung an den Kreisläufen der Natur. „Kern und Basis für das Gradido-Modell ist der natürliche Kreislauf von Werden und Vergehen.“ So die Botschaft aus einem Newsletter der Akademie.
Stetig ist das neue Geldprinzip, das sich als Abkehr vom Schuldprinzip sieht, tatsächlich. Initial dafür ist die Einführung des „Gradido“ (GDD) als neue Währungseinheit. Im Rahmen des so versprochenen „dreifachen Wohls“ erhält jeder Mensch monatlich 1000 Gradido als „Aktives Grundeinkommen“. Dafür solle sich jeder Mensch so für die Gesellschaft einbringen, wie er es seinen Neigungen nach gern möchte. Sinnsuche als Systemfaktor. Apropos System: Die Gemeinschaft erhält ebenfalls monatliche 1000 Gradido, wodurch Steuern überflüssig werden sollen. Und zuletzt: Weitere 1000 Gradido sollen monatlich für einen Umweltfonds geschöpft und dem Schutz und der Sanierung der Natur gewidmet werden. „Künftige Naturkatastrophen werden dadurch abgemildert und nicht mehr zwangsläufig zu wirtschaftlichen Katastrophen führen.“
Das neue Geldsystem der Gradido-Akademie könnte als Fallbeispiel im Anhang des Buchs „Eine Neue Wirtschaft“ stehen. Denn eine neue, neuartige Wirtschaft skizziert es definitiv. Dabei rückt die Ermöglichung der Sinnsuche und Sinnfindung in den Kompetenzbereich einer Wirtschaft, die Freiräume schafft. Der Gedanke ist deutlich: Erst durch die richtige finanzielle Umgebung können Mensch, Gesellschaft und Natur Raum zur Entfaltung finden. Und darum geht es doch letztlich, oder nicht? Wo auch immer man ansetzen mag, ob beim Individuum oder dem Geldsystem, das Verlangen nach Bedeutung, Ganzheitlichkeit, metaphysischer Begründung wächst und dürfte einen Indikator dafür geben, dass uns unsere käufliche Welt ganz schön schal geworden ist.
Johannes Gutmann, Robert Rogner, Josef Zotter, „Eine Neue Wirtschaft. Zurück zum Sinn“, edition a 2020.
Website der Gradido-Akademie: www.gradido.net
Bildquellen
- Der Auszug aus dem Kapitalismus: Perspektiven auf neue Wirtschaftskonzepte und die Suche nach dem Sinn: Credit: edition a Verlag
- Vom ökologischen Zugriff des Menschen: Foto: Alena Koval