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Das Wirken der NS-Justiz in Freiburg: Im Gespräch mit Dr. Thomas Kummle, Präsident des Amtsgerichts a.D.

Thomas Kummle © privat

Im Flur des Amtsgerichts Freiburg lässt sich seit Dezember 2020 ein wenig bekannter Aspekt der NS-Diktatur kennenlernen: Eine Ausstellung befasst sich dort mit der damaligen Justiz, wozu nun überdies ein detaillierter Katalog im Oktober 2023 erschienen ist. Initiiert vom früheren Amtsgerichtspräsidenten Dr. Thomas Kummle, der das Forschungs-Projekt in Kooperation mit dem Historiker Dr. Michael Hensle und dem Staatsanwalt Dr. Dominik Stahl leitet, wird hier eine wichtige Tatsache der Stadtgeschichte analysiert, nämlich das Wirken der NS-Justiz vor Ort. In diesem Zusammenhang werden auch NS-Verbrechen in Bezug auf das annektierte Elsass-Lothringen und das besetzte Frankreich sichtbar, etwa Verfahren gegen Mitglieder der französischen Widerstandsorganisation „Réseau Alliance“. Drei spezielle NS-Gerichte haben in Freiburg getagt: Das Sondergericht Freiburg, das Reichskriegsgericht und der Volksgerichtshof, was ansonsten an keinem anderen Justizstandort in Baden-Württemberg der Fall war. Ausstellung und Katalog, die schließlich noch den Umgang mit der NS-Justiz nach 1945 pointieren, enthalten Fotos und Originaldokumente zu den historischen Vorgängen. Unsere Mitarbeiterin Cornelia Frenkel hat Dr. Thomas Kummle zum Thema befragt.

Kultur Joker: Herr Kummle, wie kam es zu dem Forschungsprojekt? Wie sind Sie darauf gestoßen, dass das Reichskriegsgericht und der Volksgerichtshof, die ihren Sitz in Berlin hatten, auch in Freiburg Unrecht gesprochen haben?

Thomas Kummle: Aufgrund eines Hinweises des französischen Vereins „Le Souvenir Français“ – er entspricht der deutschen Kriegsgräberfürsorge – wurde bekannt, dass das Reichskriegsgericht im Justizgebäude am Holzmarkt Militärgerichtsverfahren durchgeführt hatte. Bei meinen Recherchen machte ich in der Folge die überraschende Entdeckung, dass auch der berüchtigte Volksgerichtshof hier Sitzungen abgehalten hatte.

Kultur Joker: Was sind die wesentlichsten Ergänzungen im neu erschienenen Katalog?

Thomas Kummle: Der Katalog „NS-Justiz in Freiburg“ dokumentiert und erläutert zahlreiche einzelne Gerichtsverfahren. Insbesondere werden alle Richter und Staatsanwälte der beteiligten Verfahren sowie beim Volksgerichtshof und beim Reichskriegsgericht sämtliche Angeklagten erwähnt. Zum Sondergericht Freiburg sind wegen der hohen Zahl von über 1.000 Angeklagten lediglich die zum Tode verurteilten Angeklagten zur Erinnerung festgehalten. Ausführlich wird zudem die Entnazifizierung der Justiz nach 1945 kritisch beleuchtet.

Kultur Joker: Das Reichskriegsgericht in Freiburg hat insbesondere Verfahren gegen Mitglieder der französischen Widerstandsorganisation „Réseau Alliance“ durchgeführt. Ist die Zahl der Gerichtsverfahren und deren Ausgang bekannt?

Thomas Kummle: Das Reichskriegsgericht verhandelte 27 Militärgerichtsverfahren gegen 67 Mitglieder der „Réseau Alliance“ in Freiburg – es gab bis zu fünf Angeklagte in einem Verfahren. 58 Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, neun zu langjährigen Freiheitsstrafen. Freisprüche gab es nicht. Die Verurteilungen erfolgten jeweils wegen Spionage. Die „Réseau Alliance“ betätigte sich hauptsächlich als Nachrichtendienst, indem sie Regierungskreise und Kommandanturen abhörte sowie deutsche Verteidigungslinien auskundschaftete – sie leistete auch Fluchthilfe für französische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter.

Kultur Joker: Vor das Reichskriegsgericht in Freiburg waren die Angeklagten aufgrund des sogenannten Nacht- und Nebel-Erlasses verschleppt worden. Gab es weitere Verfahren?

Thomas Kummle: Das spurlose Verschwindenlassen von Menschen war im Nacht- und Nebel-Erlass geregelt. Es war ein Mittel zur Terrorisierung, das auch gegen den französischen Widerstand eingesetzt wurde. In den Listen der Freiburger Verfahren des Reichskriegsgerichts sind weitere 47 Widerstandskämpfer erwähnt. Sie wurden ohne Gerichtsverhandlung entweder in Konzentrationslager verschleppt oder direkt ermordet.

Kultur Joker: Beim Thema Volksgerichtshof denkt man vor allem an seinen Präsidenten Roland Freisler; kannte er die Verhandlungen in Freiburg oder wer hat ihn vertreten?

Thomas Kummle: Roland Freisler wurde im Jahr 1942 Präsident des Volksgerichtshofs und Vorsitzender des 1. Senats. Dieser Senat verhandelte im Jahr 1944 Strafverfahren in Freiburg. Die Fälle lagen daher im Zuständigkeitsbereich von Freisler, er leitete jedoch nicht die Hauptverhandlungen in Freiburg. Sein Vertreter war Landgerichtsdirektor Martin Stier. Der Senat wurde durch den zweiten Berufsrichter Dr. Erich Schlemann sowie durch drei Volksrichter komplettiert. Volksrichter waren regimetreue Laienrichter und gehörten der NSDAP und deren Gliederungen an.

Kultur Joker: Gab es im NS-Justizsystem, das zum Instrument der organisierten Willkür wurde, noch unabhängige Richter?

Thomas Kummle: Ausstellung und Katalog „NS-Justiz in Freiburg“ dokumentieren Verfahren der NS-Ausnahmegerichte während der Kriegszeit. Das Sondergericht Freiburg verhandelte sein erstes Strafverfahren am 13. Oktober 1939, das Reichskriegsgericht war ab Dezember 1943 und der Volksgerichtshof ab Mai 1944 in Freiburg. Die Nationalsozialisten hatten bereits im Jahr 1933 mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums – nach ihrem Sprachgebrauch – mit einer „personellen Säuberung“ von jüdischen Beamten und Richtern begonnen. In der Folgezeit nahm das Reichsjustizministerium fortlaufend stärkeren Einfluss auf die Rechtsprechung, wozu insbesondere die Besetzung der Spitzenämter mit strammen Nationalsozialisten zählte. Weitere Maßnahmen zur Lenkung der Justiz waren beispielsweise neu geschaffene Berichtspflichten oder Vor- und Nachschauen, bei denen der Richter oder Staatsanwalt Fälle vor und nach der Sitzung mit seinem Behördenleiter besprechen und ggf. rechtfertigen musste. Bei dem massiv ausgeübten äußeren Druck kann für die Kriegszeit sicher nicht von einer richterlichen Unabhängigkeit gesprochen werden.

Kultur Joker: Zahlreiche Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer aus Frankreich und dem Elsass wurden in badischen Städten wie Kehl, Rastatt, Offenburg, Freiburg, Bühl, Gaggenau und Pforzheim hingerichtet. Wurden diese Verbrechen nach 1945 geahndet?

Thomas Kummle: Die erwähnten Verbrechen geschahen in zeitlichem Zusammenhang mit den von Westen heranrückenden Streitkräften der Alliierten. Bereits anlässlich der Räumung des im Elsass befindlichen Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof und dessen linksrheinischen Außenlagern kam es in der Nacht vom 1. auf den 2. September 1944 zu einer Massenerschießung durch die Gestapo. 107 im „Sicherungslager“ Schirmeck-Vorbruck inhaftierte Widerstandskämpfer wurden in das KZ Natzweiler verbracht und erschossen. Am Tag der Befreiung von Straßburg, 23. November 1944, setzte die Gestapo ihr mörderisches Treiben auf der rechtsrheinischen Seite fort. In der sogenannten Schwarzwälder Blutwoche wurden bis zum 30. November 1944 70 Mitglieder der „Réseau Alliance“, die in Gefängnissen der erwähnten Städte inhaftiert waren, ermordet. Julius Gehrum, Leiter der für die Verfolgung der Widerstandskämpfer zuständigen Gestapo-Sektion in Straßburg, nahm selbst an den Massakern teil. In Freiburg wurden drei Widerstandskämpfer, die wie alle anderen nicht verurteilt waren, vor der Justizvollzugsanstalt erschossen. Eine Gedenktafel an der Außenmauer des Gefängnisses erinnert heute an die drei Franzosen Edouard Kauffmann, Emile Pradelle und Jean-Marie Lordey.
Am 17. Mai 1947 wurde Julius Gehrum von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt und im November 1947 in Straßburg hingerichtet. Dem Leiter der Gestapo in Straßburg, Helmut Schlierbach, konnte von der bundesdeutschen Justiz eine nahe liegende Verantwortung für die 70 Morde nicht nachgewiesen werden. Er wurde wegen anderer Delikte durch ein britisches Militärgericht zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein französisches Militärgericht verurteilte ihn 1954 in Abwesenheit zum Tode, er wurde als deutscher Staatsangehöriger aber nicht an Frankreich ausgeliefert.

Kultur Joker: Der letzte Teil „NS-Justiz in Freiburg“ thematisiert, wie es nach 1945 weiterging und zu Legendenbildung kam. Warum scheiterten Aufarbeitungsversuche?

Thomas Kummle: Die Verfolgung von NS-Straftätern lag nach Ende des Krieges zunächst in den Händen der vier Hauptsiegermächte. Sie übten die oberste Regierungsgewalt und damit die Justizhoheit aus. Am bekanntesten ist der gemeinsam geführte Hauptkriegsverbrecherprozess vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, danach verhandelten die US-Amerikaner alleine zwölf sogenannte Nürnberger Nachfolgeprozesse. In der französischen Besatzungszone richtete die Militärverwaltung ab 2. März 1946 ein Tribunal General in Rastatt ein. Dieses Gericht verhandelte Strafprozesse gegen über 2.000 Angeklagte, die nach heutigem Stand der Forschung allerdings zu keiner Verurteilung von Justizjuristen führten.
Die strafrechtliche Ahndung von NS-Justizverbrechen in der Bundesrepublik Deutschland kann nur als gescheitert qualifiziert werden. Letztlich wurde kein NS-Justizjurist, der Todesstrafen beantragt oder gefällt hatte, rechtskräftig belangt. Die in Baden-Württemberg im Juli 1960 eingesetzte „Kommission zur Überprüfung von Vorwürfen gegen Richter und Staatsanwälte wegen ihrer früheren Tätigkeit bei Sondergerichten“ riet nach der Sichtung von Todesurteilen in der Regel von strafrechtlichen Schritten ab. Dies beruhte insbesondere auf der damaligen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die praktisch zu einem Ausschluss der Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung für ehemalige NS-Richter führte. Diese Rechtsprechung war auch Folge einer hohen personellen Kontinuität im Justizbereich: Der Anteil der ehemaligen NSDAP-Mitglieder war in den fünfziger und sechziger Jahren an manchen Gerichten höher als im Jahr 1939. Das sog. „131er-Gesetz“ – beruhend auf Artikel 131 Grundgesetz – machte nämlich im Jahr 1951 die politisch motivierte Entlassung vieler Beamten und Richter wieder rückgängig und gewährte diesen einen Rechtsanspruch auf Wiedereinstellung.
Als Legendenbildung sind schließlich die vielen verharmlosenden Stellungnahmen und Leumundszeugnisse in den Entnazifizierungsverfahren zu qualifizieren. So bezeichnete der für die Freiburger Sondergerichtsverfahren zuständige Oberstaatsanwalt Dr. Weiß sich als aktiven Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, und der allein an acht Todesurteilen beteiligte Sonderrichter Dr. Künstle begehrte Wiedergutmachung als NS-Opfer, weil er in der NS-Zeit nicht befördert worden sei. Tatsächlich waren beide Exponenten einer menschenverachtenden NS-Justiz.

Kultur Joker: In der frühen Bundesrepublik war anscheinend sogar Mainstream, die Urteile der „Nürnberger Prozesse“ abzulehnen?

Thomas Kummle: Die deutsche Bevölkerung stand den Alliierten Strafgerichten wie beispielsweise in Nürnberg, Lüneburg oder Rastatt, wie Umfragen der US-Militärregierung zwischen Oktober 1945 und August 1946 zeigen, anfangs nicht ablehnend gegenüber – zumal die Verfahren hauptverantwortliche Nationalsozialisten betrafen. Wie bei anderen Kriegsverbrecherprozessen findet man aber auch den allgemeinen Vorwurf der „Siegerjustiz. Allerdings bleibt bei diesem Einwand die Frage unbeantwortet, wer sonst die Prozesse hätte führen sollen. Den weiteren politischen Säuberungen stand die deutsche Bevölkerung skeptisch bis ablehnend gegenüber. Angesichts der allgemeinen Notlage und der veränderten politischen Rahmenbedingungen sah man keine weitere Notwendigkeit für Entnazifizierungen. Bereits ab 1946/47 begann eine „Schlussstrichmentalität“. Auf politischer Ebene fand dies in Amnestierungen in den Jahren 1949 und 1954 seinen Niederschlag, die auch Auswirkungen auf die Verfolgung und Aburteilung von NS-Verbrechen hatten.

Kultur Joker: Sehr geehrter Herr Kummle, wir bedanken uns für Ihre Auskünfte.

Literatur:
• NS-Justiz in Freiburg. Katalog zur Dauerausstellung im Amtsgericht Freiburg. Thomas Kummle (Hrsg.). Mit Texten von Thomas Kummle, Dominik Stahl und Michael P. Hensle. Rombach Verlag 2023
Die Ausstellung „NS-Justiz in Freiburg“ kann Montag bis Freitag von 9-12 Uhr sowie nach Vereinbarung am Holzmarkt 2 im 1. Obergeschoß besichtigt werden.

Bildquellen

  • Thomas Kummle: © privat
  • NS-Justiz in Freiburg. Katalog zur Dauerausstellung im Amtsgericht Freiburg. Thomas Kummle (Hrsg.). Mit Texten von Thomas Kummle, Dominik Stahl und Michael P. Hensle.: Rombach Verlag 2023