Theater

Das Erfolgsmusical „Anatevka“ ist in der französischen Version „Unviolonsur le toit“ in Straßburg zu sehen

Zwischen Leichtigkeit und Tiefe

Nur ein Schrank steht auf der leeren Bühne. Ein Junge mit Skateboard und Kopfhörer kommt vorbei, macht die Tür auf und holt eine Violine heraus, auf der er das Thema des Musicals „Anatevka“ spielt, das hier in der französischen Fassung „Unviolonsur le toit“ gegeben wird. Dann klopft es von innen und der Milchmann Tevye, die Hauptfigur des Stücks, erscheint mit Schläfenlocken, Bart und Mütze. Kurze Zeit später stürzt die ganze Dorfgemeinschaft aus dem Schrank – und wir befinden uns im SchtetlAnatevka im zaristischen Russland im Jahr 1905, als sich die ersten Judenpogrome  ereigneten.

„Anatevka“ ist in der französischen Version „Unviolonsur le toit“

Als Kind hat Regisseur Barrie Kosky gerne den Kleiderschrank der Eltern geöffnet und sich mit den Pelzmänteln verkleidet, mit denen der Vater handelte. Auch Koskys Vorfahren wurden genau in diesem Jahr aus Weißrussland vertrieben und wanderten über Deutschland nach Australien aus. Seine Inszenierung des Musicals, die 2017 an der Komischen Oper Berlin entstand und nun in Straßburg zu sehen ist, hat deshalb einen starken autobiographischen Bezug. Der Regisseur, der für seine temporeichen, schrägen Operetteninszenierungen bekannt geworden ist, hält bei dieser höchst unterhaltsamen, aber auch tief berührenden Produktion (szenische Einstudierung: Esteban Munoz) die Balance zwischen Leichtigkeit und Tiefe. Schränke dienen nicht nur zu überraschenden Auf-und Abtritten, sondern erzählen auch, mit Kommoden und Stühlen zu Türmen gestapelt, vom Provisorischen der jüdischen Stadtviertel (Bühne: RufusDidwiszus). Ein Schrank wird auch zum Ehebett für Tevye(mit Witz und großer Musikalität: Olivier Breitman) und seine Frau Golde (schön lakonisch: Jasmine Roy)umfunktioniert, wenn ein virtuos getanzter, mit Totenmasken inszenierter Alptraum (Kostüme: Klaus Bruns) dazu dient, der Gattin die Trauung der ältesten Tochter Tzeitel (präsent: NeimaNaouri) mit dem armen Schneider Motel Kamzoil (Alexandre Faitrouni) schmackhaft zu machen. Da hat die resolute Heiratsvermittlerin Yente, der Cathy Bernecker eine raue Stimme und derben Humor mitgibt, das Nachsehen. Die französischen, Deutsch übertitelten Dialoge sind perfekt getimt. Die Gesangsnummern und energiegeladenen Tanzszenen (Choreographie: Otto Pichler, Einstudierung: Silvano Marraffa) werden wie selbstverständlich szenisch eingebunden. Unter der Leitung von KoenSchootsinterpretiert das Orchestresymphonique de Mulhouse die zwischen Broadway und Klezmer, zwischen russischer Folklore und symphonischem Pathos wechselnde Musik von Jerry Bock mit großer Präzision und leuchtenden Farben.

„Anatevka“ ist in der französischen Version „Unviolonsur le toit“

Neben den großartigen gesungenen (Chor: Alessandro Zuppardo) und virtuos getanzten Massenszenen hinterlassen gerade auch die ruhigen Momente einen starken Eindruck. Wenn mitten in der ausgelassenen Hochzeitsstimmung ein russischer Schlägertrupp vorbeikommt und die Festgemeinde mit Milch übergießt, dann ist die Schockstarre der Familie tief bewegend. Die Töchter Hodel (Marie Oppert) und Chava (AnaisYvoz) sind zerrissen zwischen der Liebe zum Vater und den Gefühlen zu ihren von den Eltern nicht akzeptierten Verlobten: dem belesenen Revolutionär Perchik (Sinan Bertrand) und dem Christen Fyedka (Bart Aerts). Überhaupt wird dieses Musical nach der Pause immer nachdenklicher. Der Schnee, der in Straßburg vom Theaterhimmel fällt, schafft eine einsame, vereiste Landschaft ohne jede Hoffnung. Am Ende muss die Familie fliehen – und wird in alle Himmelsrichtungen versprengt. Der Junge mit der Violine (Joachim Zimmermann) spielt nochmals das Anfangsthema, endet dabei aber auf dem vorletzten Ton. Ein offener, trauriger Schluss.

Georg Rudiger

Weitere Termine:  17. Dez., 20 Uhr. 15. Dez., 15 Uhr (Straßburg/Operá). 10. Jan., 20 Uhr, 12. Jan., 15 Uhr (Mulhouse/La Filature). Infos unter www.operanationaldurhin.eu

 

Bildquellen

  • Le Violon sur le toit: Klara Beck
  • Le Violon sur le toit: Klara Beck