Countdown einer Ehe
Henrik Ibsens „Nora“ beim Sommer-Open-Air der Immoralisten
Als Henrik Ibsen 1879 sein Theaterstück „Nora oder Ein Puppenheim“ verfasste, waren die Geschlechterrollen noch klar definiert: Der Ehemann verdiente das Geld und sorgte für Ehefrau und Familie, weshalb ihm auch die Entscheidungsgewalt über alles oblag. Im Gegenzug erzog die Ehefrau die Kinder, führte ansonsten ein sorgenfreies Leben und kümmerte sich ums Aus- und Ansehen. Ein veraltetes Arrangement, wie es auch heute existiert und funktioniert.
Frauen (oder Männer) wie die Protagonistin Nora, die sich für ihren Partner aufopfern, ihn dies aber nicht spüren lassen, um seine (Mannes-) Ehre nicht anzukratzen, gibt es noch immer. Daran ist nichts auszusetzen, ist dies doch ein wirklicher Liebesdienst, der aus dem Herzen kommt. Unwesentlich, wer darin der Mann oder die Frau ist. Wenn das Opfer des einen aber nicht (an)erkannt wird, dann bleibt anderen nur noch eines: Zu gehen. Ein Zurück in die alten Rollen kann es dann nicht mehr geben, der Rückweg ist endgültig verbaut.
Auch dem Ehepaar Nora und Torvald Helmer geht es etliche Jahre richtig gut. Die beiden lieben sich. Ihre Rollen sind klar, jeder erfüllt seinen Part. Der designierte Bankdirektor behandelt seine Nora wie ein Püppchen, nennt sie „Eichkätzchen“ oder „Singlerche“. Die Welt des Puppenheims, in dem sie die Barbie und er den Yuppie gibt, scheint perfekt. Bis Noras Betrug aufzufliegen droht, den sie vor Jahren beging, um ihren vom Burnout bedrohten Mann auf eine große Erholungsreise schicken zu können. Vor ihrem Gatten hatte sie sich wie ein Luxusweibchen gebärdet, um mit seinen Zuwendungen heimlich den Kredit abzuzahlen. Keinesfalls wollte sie seine Rolle des starken Mackers gefährden. Sie war die Starke, doch ihr war immer bewusst: Dieses Spiel funktioniert nur, solange er das nicht weiß.
Das zwischen Liebe, Macht und Egozentrik, Mann und Frau hin- und her mäandernde Stück nimmt beim Sommer-Open-Air der Immoralisten vor allem dadurch so richtig Fahrt auf, dass die Rollen andersherum, also die der Nora mit einem Mann und die des Helmer mit einer Frau besetzt werden. Nicht wegen der illustren Bebilderung, vielmehr hätten ihre Rollen gar nicht optimaler besetzt werden können.
Mit großer Lust kostet jeder das jeweils andere in sich aus: Auf der einen Seite der leidenschaftlich agierende Jochen Kruß, der die ganze Gefühlsbreite seiner Nora, jede noch so kleine Regung aufs Feinste und Treffendste in Gestik und Mimik umzusetzen versteht. Ihm gegenüber die schöne, stark unterkühlte (neu aus Wien zum Ensemble gestoßene) Lisa-Lena Tritscher, die ihren Helmer so souverän, so glaubwürdig gibt, dass man geneigt ist zu vergessen, wer nun die Frau oder der Mann ist. Und genau das ist die große Stärke dieser Inszenierung, Emanzipation hin oder Gender her: Denn wie die Machtverhältnisse innerhalb einer Beziehung gelagert sind, das hat mit Männer- oder Frauenrollen gar nichts zu tun.
Dies zeigt sich gerade auch am Schluss, da Nora ihren Mann in Männerkleidern verlässt, während er in ihren Bademantel gehüllt wie ein Häufchen Elend zurückbleibt. Neben ihnen treten Verena Huber als Noras Freundin Christine Linde, Uli Winterhager als Hausfreund Doktor Rank und Florian Wetter als skrupelloser Anwalt Krogstadt auf. Der lang-anhaltende Premierenapplaus gilt einer großartigen Regie (Manuel Kreitmeier), einer tollen Kulisse (ein kalifornisches Weihnachts-Sommermärchen von Manuel Kreitmeier, Markus Wassmer und Sebastian Ridder) und vor allem dem rundum phänomenalen Ensemble.
Friederike Zimmermann
Weitere Termine bis 9. September. Theater der Immoralisten, Ferdinand-Weiß-Straße 9-11, Freiburg. Tel. 0761/3181212
www.immoralisten.de