Corona Krise: Stilblüten und Erinnerungen für die Zukunft
In der Krise zeigt sich der Charakter. Man möchte beim Zusehen abwechselnd lächelnd Tränen der Rührung vergießen und dann wieder verzweifelt in die Tischkante beißen. Da gibt es Menschen, die einfach für die Nachbarn einen Kuchen backen und andere, die Hefe hamstern und zu astronomischen Preisen auf Ebay verhökern. In Dorfgemeinschaften hilft man sich, systemrelevante Eltern wissen ihre Kinder bei Nachbarn gut aufgehoben und man hilft sich gegenseitig beim Kochen. Doch selbst in dieser Situation hocken garstige Neider hinter den Gardinen, die der hilfreichen Freizeitköchin das Gesundheitsamt auf den Hals hetzen, weil sie mutmaßen, da könnte sich jemand ein paar Euros dazu verdienen. Neid muss furchtbar weh tun.
Wir müssen nicht in Amazonien bestellen
Da gibt es allerlei Hilfsfonds an die Menschen spenden können um die Corona-Krise zu überbrücken. Den absoluten Spitzenplatz unter den Stilblüten belegt der Fond des reichsten Mannes der Welt, Jeff Bezos, dem Chef von Amazon. Ja richtig, das Unternehmen, das seinen Beitrag zum Allgemeinwohl durch Steuervermeidung auf ein Minimum herunter drückebergert. Das Unternehmen das mehr als eine Trillion Dollar wert ist, möchte sich jetzt für die hundsmiserable Bezahlung von Paketboten und Lagerarbeitern offenbar etwas entlasten indem man die Öffentlichkeit mit Spendenaufrufen für einen Amazon-Notfallfonds belästigt. Man spricht von „Unterstützung von Amazon-Mitarbeitern und – Partnern“. Erst vor wenigen Wochen hatte sich der Boss, Jeff Besoz, die teuerste Immobilie der Welt für 165 Million US-Dollar gekauft. Ein Schnäppchen für rund 0,125 % seines Reinvermögens von rund 132 Milliarden US-Dollar, was etwa der Summe der Bruttoinlandsprodukte der drei Länder Island, Costa Rica und Afghanistan entspricht.
Wem an dieser Stelle das Adrenalin bis unter die Schädeldecke steigt, der möge aufmerksam die folgende frohe Botschaft lesen: Wir müssen unser Zeug nicht in Amazonien bestellen. Wir alle dürfen das gute Gefühl genießen, nicht ohnmächtiges, kleines Zahnrad in diesem brutalen Getriebe sein zu müssen. Machen wir‘s am Beispiel Bücher fest. Viele kleine Buchläden haben entweder einen online-shop oder gar eine Telefonnummer, unter der man das gewünschte Buch oder Hörbuch bestellen kann. Auch in Freiburg liefern Fahrradkuriere Kulturgut direkt ins Haus. Jetzt ist die Zeit, diesen Wert zu erkennen, damit der Laden auch noch da ist, wenn wir ihn mal ganz dringend brauchen. Vielleicht in dem Moment, da uns die Geburtstagseinladung plötzlich wieder einfällt.
Was heißt hier Freundschaftspreis?
Jetzt ist die Zeit, über den so genannten „Freundschaftspreis“ nachzudenken. Der Freundschaftspreis sollte doch der volle Preis sein, den wir unseren Freunden gerne zahlen, weil wir ja möchten, dass sie mit ihrem Geschäftsmodell (über-)leben. Wir wollen unsere befreundeten Kleinstunternehmer doch nicht in die Pleite und am Schluss gar in die Klauen der Amazonier in ihren Steuerparadiesen treiben, für die sie sonst knechten müssten.
Wer sich umhört bekommt gerade viele praktische Beispiele und Anregungen, wie wir alle von zu Hause aus zur Umleitung von Geldströmen beitragen können. Endlich wird der Bankwechsel in trockene Tücher gebracht, das Konto, das schon seit der eigenen Schulzeit unbeobachtet Geld in Kohleminen und Waffenschmieden versickern lässt, wird gekündigt. Zum Glück gibt es ja Banken mit ökologisch und ethischem Vorbildcharakter. Da werden Graustrom-Leichen aus dem Keller geholt und mit wenigen Klicks den stillen Unterstützern fossil-nuklearer Stromvergoldung zum Abschied gewunken. Hoflieferanten von regionalen Lebensmittel-Produzenten erfahren gerade erfreulichen Zulauf. Kaffee- und Mahlzeiten-to-go bekommt man nicht nur bei der unfreundlichen Steuerflüchtlings-Kette, sondern auch in einem der vielen kleinen Restaurant-Familienbetriebe, von denen übrigens nur einer „La Corona“ heißt.
Autokorrektur
Es werden Fahrräder gekauft, das Verkehrsmittel der Wahl zum Abstandhalten und zur Stärkung des eigenen Immunsystems. Im besten Fall kauft man beim Fahrradladen im eigenen Kiez, der natürlich noch da ist, wenn man ihn wegen einer Reparatur braucht – schließlich sichern wir ja mit unserem nachbarschaftlichen Fahrradkauf seine Existenz. Und tatsächlich, es werden binnen Kürze Fahrspuren für Autos gesperrt, weil der Bedarf für die Radelnden wächst. In Bogota und New York ging’s los, Berlin zieht nach, mal sehen, wer noch. Auf dass die guten Ideen viral gehen! Unterdessen stehen die Bänder großer Autokonzerne still, Lieferketten zwischen den Kontinenten brechen zusammen und die Verletzlichkeit unserer bis ins Groteske durchglobalisierten Wirtschaft wird durch die Macht der winzigen Viren ans Licht gezerrt. Eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet VW, der Konzern, dessen Dieselmotoren mit Betrugs-Software über Jahre illegal die Luft verschmutzt und Lungen strapaziert haben, nun 200.000 Atemschutzmasken für die Mitarbeiter im Gesundheitswesen spendet. Schade, dass die Zeitung mit den großen Buchstaben nicht nachlegt, und für die Verbreitung ihrer „Inhalte“ konsequenter Weise auf Druckerschwärze verzichtet. Ein weiterer Mangel könnte so behoben werden, unbedrucktes Toilettenpapier.
Während die Anhänger des ewigen „der-Markt-regelt-das“-Mantras mit unfassbarer Kreativität immer neue Formulierungen für Konzern-Subventionen und Staatshilfe in die Welt husten, sprechen amerikanische Apologeten des entfesselten Liberalismus offen aus, was hierzulande empört als infame Unterstellung zurückgewiesen würde: „Wir legen doch unsere Wirtschaft auch nicht lahm wegen der Zehntausenden von Leuten, die auf Autobahnen sterben“ erklärt der republikanische Senator Ron Johnson unverhohlen. Donald Trump behauptet, es gäbe mehr Autounfälle als die Zahlen, über die man in der Corona-Krise rede und sekundiert: “Deswegen verbieten wir auch nicht das Autofahren.” Es könne nicht sein, dass die Wirtschaft der Corona-Krise geopfert werde, sinnierte Gouverneur Dan Patrick in einem Fox News-Interview. Man müsse wenigstens diskutieren, ob nicht die älteren Bürger geopfert werden sollten. Wem beim Lesen dieser Zitate das Blut in den Adern gefriert, der möge sich kurz überlegen, warum Tausende Verkehrstote hierzulande nicht durch ein Tempolimit vermieden werden und warum wahrscheinlich noch nicht einmal ein temporäres Tempolimit durchsetzbar ist, sei es zur Entlastung der Krankenhäuser oder zur Überprüfung seiner Wirksamkeit. Auf ein paar Tote kommt‘s doch nicht an, Hauptsache die Wirtschaft brummt und der Schornstein raucht. Manchmal sagen auch notorische Lügner die Wahrheit, wenn auch nur aus Versehen.
Kipppunkte – auf einmal wird die Bedeutung klar
Bleibt die Frage, weshalb hierzulande die Regierung in der Corona-Krise anders als in der Klima-Krise auf die Wissenschaft hört und so verblüffend rational und zügig handelt. Einer der Scientists for Future, Prof. Volker Quaschning liefert einen hochplausiblen Erklärungsansatz: „Es geht nicht um die Rettung einzelner Menschenleben. Es ist die Angst vor dem Systemversagen“. Kein Politiker darf mit einem Gummistiefel-Bonus rechnen, wenn er als „Krisenmanager“ nackt im Chaos steht. Wenn das Gesundheitssystem kollabiert, den Zusammenbruch der Lebensmittel-Versorgung nach sich zieht, die Strom-, Gas- und Wasser-Versorgung zusammenbricht, weil tausende systemrelevante Fachkräfte im Bett oder unter der Erde liegen, wird er wahrscheinlich aus dem Amt gejagt. Die Kipppunkte des Systems sind so nah, dass die Wirtschaftskrise in Kauf genommen wird, um den Systemkollaps zu verhindern. Legen wir uns diese Erkenntnis auf Wiedervorlage. Als Erinnerung für die Zukunft.