Buchtipps: Lektüre für prickelnde Momente und gegen Einsamkeit
Die Buchmesse hat dieses Jahr weitgehend digital stattgefunden, was uns glücklicherweise nicht am Lesen von Büchen hindert, etwa denen von Olga Tokarczuk; für ihre „erzählerische Vorstellungskraft“ wurde ihr der Nobelpreis für Literatur zuerkannt. Beeindruckt hat die Jury u.a. ihr Text „Unrast“, der sich mit dem Reisen und Nomadentum des modernen Menschen befasst, und das „Dazwischen“ sowie den „namenlosen Ort“ als Metapher für unsere Welt begreift. Tokarczuks Vorlesungen zur Preisverleihung, veröffentlicht in dem Band „Der liebevolle Erzähler“, enthalten u.a. den eindrücklichen Essay „Wie Übersetzer die Welt retten“. Hier entfaltet sie im historischen Rückblick, wodurch der intellektuelle Reichtum der Antike vor barbarischen Angriffen bewahrt wurde und was die Zivilisation der arabischen Abbasiden-Dynastie sowie der Übersetzerschule von Toledo zu verdanken hat. Übersetzer verbinden Menschen durch „Sprachen, aber auch über Sprachgrenzen hinweg“. Tokarczuk ist stets Gesellschaftskritikerin, sogar in dem sanftmütig schlichten Buch „Die verlorene Seele“.
Wie sehr Übersetzer auch dazu beitragen, unseren Wortschatz aufzufrischen, das zeigt die witzige Neuübertragung des französischen Klassikers „Zazie dans le métro“ von Raymond Queneau (1903–1975) durch Frank Heibert. In diesem geht es um die 13-jährige Göre Zazie, die mit ihrer Mutter, die in Paris einen Liebhaber treffen will, in die französische Hauptstadt kommt und ihrem Onkel Gabriel übergeben wird. Dieser erweist sich nicht, wie behauptet, als Nachtwächter von Beruf; vielmehr tritt er in einem Kabarett als „danseuse de charme“ auf, ist aber verheiratet. Das entfacht die Neugierde von Zazie, die ihren Onkel piesackt, um herausbekommen, ob er „hormosessuel“ ist, ohne zu wissen, wovon sie spricht. Da Zazie unbedingt Metro fahren will, doch diese bestreikt wird, gerät sie definitiv zur Nervensäge, was voller Sprachspiele erzählt wird.
Katharina Hacker, bekannt durch ihren Roman „Die Habenichtse“, legt mit dem kleinen Buch „Darf ich dir das Sie anbieten?“ eine Reihe minimalistischer Sentenzen vor, „Minutenessays“ genannt, die allesamt der Anfang einer Geschichte sein könnten. Wie ein Notizheft versammelt es feine, kluge Beobachtungen und Gedanken zu Freundschaft, Kindern, Wohlwollen, Streit, Phantasie u.a. Hier werden Sachverhalte, die eine nachdenkliche Strecke durchlaufen haben, in knappen Sätzen schwerelos verdichtet, sodass blitzartig eine neue Perspektive entsteht, ein Blick in ungeahnte Fernen – und Platz für eigene Gedanken.
Philosophische Gedankensplitter, meist Aphorismen genannt, haben Tradition, von Lichtenberg über Schopenhauer bis Franz Kafka. Letzterer hat einst zwei apodiktische Sätze formuliert, die es in sich haben: „Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit”. Unter diesem Titel hat der Experte Reiner Stach die erste kommentierte Ausgabe von Franz Kafkas Aphorismen ediert, deren Lektüre zum Innehalten bringt, wenn es etwa heißt: „Alle menschlichen Fehler sind Ungeduld, ein vorzeitiges Abbrechen (…)“.
Peter Handke hat sein Schaffen einmal in die Worte gefasst „Wer sagt denn, dass die Welt schon entdeckt ist?“ Mit dieser Überschrift sind fünf seiner wichtigen Prosawerke neu ediert worden, darunter „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, „Wunschloses Unglück“ und „Versuch über den geglückten Tag“. Handke befasst sich seit den 1960er Jahren mit der Wahrnehmung von Alltäglichem und Randständigem, wie u.a. seine Journale belegen. Unverkennbar ist die Poetik dieses Schreibens, doch liegt jedem seiner rund 70 Werke ein eigenes literarisches Verfahren zugrunde, was sich zuletzt in „Das zweite Schwert“ zeigt.
Wie Christa Wolf die Zeit von 1989/90 reflektiert hat, lässt sich durch den Band „Umbrüche und Wendezeiten“ erfahren, er enthält Interviews, Reden und Essays, die Hoffnungen und Niederlagen in den letzten Jahren der DDR bezeugen. Im Zuge der Wende war Christa Wolf kurzzeitig auf der politischen Bühne präsent, musste aber bald kapitulieren. Doch es gab noch glückliche Momente, so die Vortragsreihe „Nachdenken über Deutschland“, wo sie mit Walter Jens, Hans Mayer, Lew Kopelew u.a. über die Zukunft einer möglichen Einheit nachdachte.
Als Meister der Verknappung erweist sich Hans Magnus Enzensberger mit seinem Gedichtband „Wirrwarr“, dem hintersinnige Bilder von Jan Peter Tripp eine zusätzliche Dimension verschaffen. Es ist ein Vergnügen, ihm auf seiner stets mit ironischem Abstand vollbrachten Tour durch den „Wirrwarr“ des Lebens zu folgen und bei den skurrilen visuellen Zutaten zu verweilen. Einspruch vergebens, Sprache und Bild, abgeklärt, hart und tröstlich zugleich, treffen ins Schwarze.
Mitten hinein in aufregende Lebenskämpfe gerät man hingegen in den „Malinois“ betitelten Prosastücken des Dramatikers Lukas Bärfuss, der hier der Liebe folgt, vorwiegend in ihrer Auswirkung auf Männer, die irrational und blind alltäglich am Abgrund zu schrammen scheinen. Seitenhiebe gegen den Literaturbetrieb geben dem Text zusätzlich Pfiff.
Das Tolle an all diesen Büchern ist: sie versetzen den Leser in einen prickelnden Zustand, lassen ihn aber in Ruhe, wobei er dennoch nicht einsam ist – so kann ich sie nur empfehlen.
● Olga Tokarczuk. Der Liebevolle Erzähler. Vorlesungen. + Die verlorene Seele. Kampa Verlag 2019
● Raymond Queneau. Zazie in der Metro. Aus dem Frz. von Frank Heibert. Suhrkamp 2019
● Katharina Hacker. Darf ich dir das Sie anbieten? Minutenessays. Berenberg 2019
● Franz Kafka. „Du bist die Aufgabe“. Aphorismen. Nachwort Reiner Stach. Wallstein 2019
● Christa Wolf. Umbrüche und Wendezeiten. Thomas Grimm (Hg.). Suhrkamp 2019
● Peter Handke. Wer sagt denn, dass die Welt schon entdeckt ist? Suhrkamp 2019
● Lukas Bärfuss. Malinois. Erzählungen. Wallstein 2019
● Hans Magnus Enzensberger. Wirrwarr. Gedichte. Gestaltet von Justine Landat mit Bildern von Jan Peter Tripp. Suhrkamp 2020
Bildquellen
- Buchtipps: Promo