Autor Benjamin von Stuckrad-Barre im Interview
“Zwischen Rausch und Ruhm”
Bereits sein Debütroman „Soloalbum“ entwickelt sich zum Bestseller, doch der Autor zerbricht am Leben zwischen Rausch und Ruhm – und wird nach Jahren im Nebellabyrinth auf wundersame Weise von seinem Jugendidol Udo Lindenberg gerettet. Benjamin von Stuckrad-Barres neuester Coup „Panikherz“ ist ein fast 600 Seiten starkes Hybrid aus Autobiografie, Bildungsroman und analytischer Nabelschau. Ein berührendes Buch über mythische Orte, Rock’n’Roll, Drogen-abstürze, Essstörungen, Freundschaft und Freiheit. Olaf Neumann traf einen gut gelaunten Stuckrad-Barre in Hamburg zum Comeback-Interview.
Kultur Joker: Was gab Anlass, bereits mit 40 Ihr Leben aufzuschreiben?
Benjamin von Stuckrad-Barre: Das tue ich eigentlich, seit ich diesen Beruf mache. Aber „Panikherz“ ist natürlich trotzdem keine Autobiografie. Die äußeren Daten stimmen zwar mit meinem Leben überein, aber für eine reine Autobiografie bin ich weder alt noch berühmt genug. Ich wollte etwas erzählen, was ich erlebt habe und es dann behandeln wie einen Roman.
Kultur Joker: Hat Musik Ihnen beim Schreiben geholfen?
B. v. Stuckrad-Barre: Viel mehr als Fotos, die behindern eher, weil sie durch Konkretion einengen. Um mir verschiedene Jahre und Phasen wachzurufen und mich zurückzuversetzen in mein damaliges Denken und Sein, habe ich einerseits Playlists erstellt, und andererseits der Parfümerie Douglas Besuche abgestattet. Ich muss mir nur den billigen Deppenduft Jil Sander Sun aufs Handgelenk sprühen, schon kann ich das Jahr 2002 von April bis Oktober durcherzählen. Und zwar nicht, wie es genau war, sondern was davon wichtig ist.
Kultur Joker: Mit welchen Erinnerungstechniken haben Sie Ihre Drogenjahre rekapituliert?
B. v. Stuckrad-Barre: Es gilt natürlich die alte Falco-Regel: Wer sich noch an die 80er Jahre erinnern kann, war nicht dabei. Aber man kann es hochrechnen. So gesehen, ist der Vorteil an einer Sucht, dass sie wahnsinnig langweilig ist. Du kannst dir einen Abend merken und die nächsten 40 sind ungefähr genauso. Das Prinzip des Drogennehmens ist Wiederholung und Vergessen. Ein Text folgt eigenen Gesetzen. Dieses ganze Junkie-Jahr 2003 schnurrt auf den Moment zusammen, in dem ich im Spiegel-Titelbild erwache und denke: „Wann war jetzt eigentlich der zweite Irakkrieg?“ Über dieses Bild kann ich meine Gesamtverfasstheit in der Zeit erzählen und ableiten. Der Rest ist Schreiben.
Kultur Joker: Ihr musikalisches Erweckungserlebnis hatten Sie mit Udo Lindenberg. Was haben Sie als Spätgeborener in dem Jugendidol der 70er Jahre gesehen?
B. v. Stuckrad-Barre: Eine Mischung aus ideellem älteren Bruder und Freund. Mit 12 kennt man noch nicht den Trick, sich über Musik zu stilisieren. Es war bloß eine alte Udo-Live-Platte aus den 70ern, aber für mich war diese Musik und Sprache völlig neu: eine Märchenplattenwelt. Durch Udos damals schon sehr umfangreiches Werk ging eine ganz neue Welt für mich auf, und ich konnte mich darin rückwärtsbewegen. Ich versank völlig in seinen Erzählungen aus der großen weiten Welt und war von Beginn an entflammt von seinem spielerischen Umgang mit Sprache.
Kultur Joker: Ihr erstes Interview führten Sie mit Rio Reiser in Göttingen, wo Sie 1994 Ihr Abitur machten. Hatten Sie sofort das Gefühl, das ist die Welt, in die ich hineinwill?
B. v. Stuckrad-Barre: Ich bin immer schon ein irrer Fan gewesen und wollte den Leuten, die ich toll fand, so nahe kommen wie möglich. Nur deswegen bin ich Musikjournalist geworden: um Musiker treffen zu können und um gratis Platten und Konzerttickets zu bekommen.
Kultur Joker: In Ihrer Zeit als Produktmanager bei Motor Music in Hamburg waren Sie u.a. für Element Of Crime und Phillip Boa zuständig. Ein Traumjob?
B. v. Stuckrad-Barre: Das war furchtbar für die Künstler! Ich war Anfang 20 und ein Fan, der sich in der Tür geirrt hatte. Es war die Zeit, als die Musikindustrie noch im Geld schwamm und fröhliche Verschwendung feierte und alles ein bisschen egal war. Ich weiß gar nicht so genau, warum ich das gemacht habe. Zuvor war ich ein Jahr beim Rolling Stone gewesen und wurde gefragt, ob ich nicht bei einer Plattenfirma arbeiten wolle. Warum nicht! Aber ich hatte dabei kein Ziel, ich fand einfach nur immer diese Welt so anziehend, die Musikwelt.
Kultur Joker: Was haben Sie damals über Künstler und ihre Macken gelernt?
B. v. Stuckrad-Barre: Von diesen Macken konnte ich gar nicht genug kriegen! Wenn es hieß, der Künstler dreht durch, dachte ich: Ich möchte doch sehr drum bitten! Es ist doch furchtbar, wenn der Künstler kein Problem ist. Ich war für Phillip Boa zuständig, den ich schon seit meiner Schulzeit toll fand. Auch zuständig war ich für Element Of Crime, eine Band, die ich ebenfalls immer schon sehr verehrte, aber ich konnte das Handwerk gar nicht, habe mich da mehr so durchgeschummelt. So richtig hilfreich für die Künstler war ich nicht. Das einzige, was ich ganz gut konnte, war Bandbiographien und Platteninformationszettel schreiben. Ich wusste sowieso, dass ich langfristig nur das tun möchte: schreiben. Ich wollte Autor werden, wusste nur nicht genau, wie man das macht. Deshalb habe ich einfach angefangen.
Kultur Joker: Im Zuge des Erfolgs Ihres Debütromans „Soloalbum“ bekamen Sie täglich Liebesbriefe, Nacktfotos und Telefonnummern. Wie fühlte sich das an?
B. v. Stuckrad-Barre: Es spricht überhaupt nichts dagegen, Nacktfotos zu kriegen. Ich fand das toll. Ganz viele Leute hatten mein Buch gelesen und kamen zu meinen Lesungen – das war super. Und dann wird es ziemlich schnell ernst, wenn man weitermacht. Dann fängt es an, schwierig zu werden. Der naive Anfang passiert einem eher so.
Kultur Joker: Was hat Sie so anfällig für Drogen gemacht?
B. v. Stuckrad-Barre: Das möchte ich gar nicht mit der Welt teilen, weil ich es unerheblich finde. Interessanter finde ich, was man mitbringt von der Reise. Am Beispiel Udos habe ich gesehen, du kannst sehr weit rausschwimmen, aber du musst zurückkommen. Denn sonst ist es sinnlos. Früh sterben ist eine romantische Idee, aber überleben ist auch gut. Wenn man erzählen möchte, muss man zurückkommen. Und dann auch wieder abhauen. Es geht darum, Erfahrungen zu machen und diese zu überwinden und Text werden zu lassen. Die Zeit der Drogenabhängigkeit liegt bei mir zehn Jahre zurück und beschäftigt mich nicht mehr gedanklich. Ich kann ganz kühl die Geschichte eines anderen aufschreiben, aber es ist auch noch nah genug, dass ich noch eine erinnernde und dem Erzählen dienliche Verbindung herstellen kann zu dieser Existenzform.
Kultur Joker: In Los Angeles steigt Udo Lindenberg immer im Chateau Marmont am Sunset Boulevard ab. John Belushi starb dort an einer Überdosis und Britney Spears und Lindsay Lohan erhielten dort Hausverbot. Was hat Sie bewogen, Ihr Buch in diesem legendären Hotel zu schreiben?
B. v. Stuckrad-Barre: In Berlin habe ich mich schon so viele Jahre schreibend bewegt, dass ich nicht auf die Idee käme, zum Beispiel den Kurfürstendamm zu beschreiben. Der Sunset Boulevard ist mindestens genauso totgedichtet, aber ich habe es noch nicht gemacht. Deshalb war es für mich frisch. Man muss immer die Bedingungen ein bisschen verändern, damit man sich nicht selbst langweilt mit den Mitteln, die man irgendwann gefunden hat. Das Jahr in Los Angeles war für mich ein extrem glückliches, weil mir dieses Buch plötzlich widerfahren ist. Alles konnte darin einfließen: Erinnerung, Assoziationen, Reportageelemente, Konzertbesuche, Älterwerden, Helden, Fansein. Schade, dass es jetzt fertig ist.
Kultur Joker: Ist das Unterwegssein mit Udo Lindenberg eigentlich immer so lustig, wie Sie es in Ihrem Buch beschreiben?
B. v. Stuckrad-Barre: Ja, grundsätzlich. Es ist einfach am sichersten, in Udos Nähe zu sein, wenn man eine gute Zeit haben will. Von ihm kann man wahnsinnig viel lernen. Nämlich die Ernsthaftigkeitsangebote und Rollenerwartungen des Umfelds einfach als unverbindliche Vorschläge zu nehmen und zu sagen: „Sehr interessant, aber ich mache es anders. Ich mach‘ mein Ding“. Udo ist der freieste Mensch, dem ich je begegnet bin. Wenn man mit ihm unterwegs ist, hat man immer das Gefühl, ein bisschen angetrunken zu sein, ja dass er alle anderen ansteckt mit seiner Lockerheit, er zieht eine Schneise der Heiterkeit nach sich, egal wo man mit ihm ist, hinterher wirken alle immer ein bisschen angeschickert. Udos Angebot lautet: „Macht euch mal locker!“
Kultur Joker: Im vollgedröhnten Zustand konnten Sie noch jeden Lindenberg-Text auswendig aufsagen, aber Ihre eigene Adresse nicht. War es kein Zufall, dass ausgerechnet Lindenberg Sie rettete?
B. v. Stuckrad-Barre: Ach, gerettet … Er hat mir wahnsinnig geholfen, und zwar, weil völlig klar war, dass Udo den Rausch als solchen und das Nebensichstehen moralisch nicht verurteilt. Das wäre ja lächerlich. Das Prinzip Rausch heißt er gut, dafür ist er ja bekannt. Und das machte ihn zu einem glaubwürdigen Gesprächspartner. Da kamen eher ganz praktische Tipps zum Überleben. Er hat ein wahnsinnig großes Herz und ein bisschen auf mich geguckt. Er hat selbst die Erfahrung gemacht, dass eine Sucht künstlerisch zu nichts führt. Der Rat, das mal jetzt zu beenden und zu gucken, was es sonst noch so gibt, war ein guter Ansatz.
Kultur Joker: In Ihrem Buch wirkt Udo Lindenberg ganz anders, als wie man ihn aus den Medien kennt. Wer ist der Mensch hinter der Rolle?
B. v. Stuckrad-Barre: Das Komische an Udo Lindenberg ist, dass er wirklich so ist wie Udo Lindenberg. Man kann im Hotel Atlantic in den Raucherraum gehen und irgendwann kommt er da rein. Und man denkt: Ist ja irre, der sieht aus und spricht wie Udo Lindenberg, der raucht Zigarre – und es ist tatsächlich Udo Lindenberg! Das ist bei anderen Legenden dieser Liga wie Grönemeyer oder Karl Lagerfeld unvorstellbar. Udo ist ein Volkssänger, eine Jahrhundertfigur, ein permanenter Aufstand gegen die Normalität, die Spießigkeit, Engstirnigkeit und Verbohrtheit. Jetzt wird er 70. Ich glaube nicht, dass er noch stirbt.
Kultur Joker: Wie halten Sie es heute mit der bürgerlichen Existenz?
B. v. Stuckrad-Barre: Was ist das? Postnachsendeantrag oder wie? Meine Umsatzsteuervoranmeldung erfolgt immer pünktlich am 10.! An der Drogenabhängigkeit hat mich die Unzuverlässigkeit wahnsinnig genervt. Nicht gemeldet zu sein und keinen Pass zu haben, mit allem im Verzug, grauenhaft. Heute bin ich Mr. Fristeinhaltung. Für mich war es ein völlig neues Gefühl, an dem Ort zu schlafen, der in meinem Pass steht. Meinen Briefkasten aufzumachen und einen Umschlag auf mich zu beziehen, das war wahnsinnig interessant, weil ich das ganz lange nicht gemacht hatte. Aber eigentlich versuche ich, Realität zu vermeiden. Und in diesem Bestreben ist in der Nähe von Udo sich aufzuhalten ein sehr guter Anfang.
Kultur Joker: Können Sie heute auch ohne Alkohol und Drogen Partys feiern?
B. v. Stuckrad-Barre: Feiern ist für mich nicht gebunden an irgendwelche Substanzen. Das ist eher so eine Einstellung zum Leben. Udos 70. Geburtstag ist in diesem Jahr zum Beispiel der einzige Tag, an dem er nicht feiert. Aber gar nicht aus Prinzip, sondern er muss da proben. Wir feiern eigentlich immer, und wir arbeiten auch immer. Das Ziel ist, dass man den Unterschied gar nicht merkt und die Arbeit die Party ist.
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Benjamin von Stuckrad-Barre – Panikherz
Kiepenheuer & Witsch, geb., 576 S., 22,99 Euro, ISBN: 978-3-462-04885-8
(Erscheint am 10. März 2016)
Benjamin von Stuckrad-Barre gastiert im Rahmen seiner Lesereise am 28. April im Vorderhaus Freiburg.
Herzlichen Dank für den interessanter Artikel! Sehr cooler Tipp.