Im Gespräch: Jens Söring, seit 25 Jahren in den USA im Gefängnis, “Aus dem Leben des 179212”
Am 30. April 2011 war es genau 25 Jahre her, dass Jens Söring ins Gefängnis kam. Ein Geschworenengericht im US-Bundesstaat Virginia verurteilte den deutschen Diplomatensohn für den extrem grausamen Doppelmord an dem Manager Derek Haysom und dessen Frau Nancy zu zweimal lebenslanger Haft. Seine Unterstützer sprechen von einem Justizirrtum. Der Fall ist so spektakulär, dass ein US-Gericht erstmals vor laufenden Fernsehkameras tagt. Heute ist Söring Häftling 179212 im Buckingham Correctional Center im US-Bundesstaat Virginia.
Geboren 1966 in Bangkok, Thailand als Sohn eines höheren deutschen Diplomaten, erhält er mit 18 ein Hochbegabtenstipendium an der University of Virginia, einer der renommiertesten in den USA. Dort verliebt sich der unerfahrene Strebertyp in seine Kommilitonin Elizabeth Haysom. Die 20-Jährige ist exzentrisch, äußerst attraktiv und den Drogen zugetan. Als Elizabeths Eltern am 30. März 1985 in Lynchburg, Virginia, ermordet werden, fällt der Verdacht auf die angeblich von den Eltern missbrauchte Tochter und deren deutschen Freund. Das ungleiche Paar flüchtet nach England, später nach Asien und wird im Juni 1986 in London geschnappt. Söring will Elizabeth durch ein Geständnis vor dem elektrischen Stuhl retten – im festen Glauben, er würde als Diplomatensohn in die Heimat ausgeliefert werden, wo ihm nur die Jugendstrafe droht. Ein fataler Irrtum. Bald darauf widerruft Söring und klagt bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Seiner Auslieferung wird unter der Voraussetzung stattgegeben, dass ihn in den USA nicht die Todesstrafe erwartet. In Virginia wird Jens Söring zu zweimal lebenslänglich verurteilt, Elizabeth Haysom zu 90 Jahren. Der Richter ist ein alter Freund der Opfer. Heute mehren sich die Anzeichen, dass Jens Söring möglicherweise nicht der Täter ist. Ein DNA-Test und ein neuer Entlastungszeuge haben den komplexen Fall wieder ins Gespräch gebracht. Das Szenario erinnert an einen Krimi, bei dem der Drehbuchautor an manchen Stellen ein bisschen dick aufgetragen hat.
Die Bundesregierung setzt sich jetzt für den Deutschen ein und will ihm die Rückkehr nach Deutschland ermöglichen. Ihr Menschenrechtsbeauftragter Markus Löning (FDP) stattete ihm im Februar erstmals einen Besuch im Gefängnis in Virginia ab. Olaf Neumann hatte Gelegenheit, mit Jens Söring zu sprechen.
Kultur Joker: Herr Söring, im März sagte erstmals ein Entlastungszeuge unter Eid aus, der die Argumentation Ihrer Verteidiger untermauert. Wie geht es Ihnen momentan?
Söring: Einigermaßen gut. Nach 25 Jahren im Gefängnis ist das immer so eine Sache. Ich mache mir aber Hoffnung, dass ich vielleicht doch noch nach Deutschland zurückkommen kann. In meinem Fall hat sich vor kurzem eine ganze Menge entwickelt. Ein Mitgefangener namens Thomas Hainsworth, der wegen vierfacher Vergewaltigung verurteilt wurde, ist gerade nach einem neuen DNA-Test durch das Post-Conviction DNA Testing Program auf Bewährung entlassen worden. Das ist genau das, worum ich auch bitte. Es gibt jetzt also einen Präzedenzfall. Und ich habe neben den DNA-Tests sogar noch einen neuen Zeugen. Das gibt mir Hoffnung. Der Vorteil der Entlassung auf Bewährung ist, dass der Bundesstaat Virginia nicht zugeben müsste, dass es sich um einen Justizirrtum handelt.
Kultur Joker: Sie behaupten, Sie hätten die Morde auf sich genommen, um Ihre damalige Freundin Elizabeth Haysom vor dem elektrischen Stuhl zu retten. Diese wiederum beschuldigt Sie bis heute, von Ihnen zum Mord angestiftet worden zu sein.
Söring: Elizabeth war zur Tatzeit 20 Jahre alt, drogenabhängig und geisteskrank. Drei Psychiater haben bei ihr eine schwere Persönlichkeitsstörung und pathologisches Lügen festgestellt. Es besteht kein Zweifel, dass ihre Mutter sie sexuell missbraucht und davon Fotos gemacht hat. Diese Fotos waren dem Gericht bekannt, und ein Gutachter hat ganz klar eine sexuelle Beziehung zwischen Elizabeth und ihrer Mutter festgestellt. All das würde Elizabeth nach deutschem Rechtsverständnis entlasten. In Deutschland hätte sie vielleicht acht bis zehn Jahre bekommen. Und vor allem wäre sie psychiatrisch behandelt worden. Stattdessen sitzt sie jetzt seit 25 Jahren im Knast und vegetiert vor sich hin. Ich sage das nicht, weil ich sie verteidigen will. Diese Frau hat mir schrecklich geschadet, ich will nichts mit ihr zu tun haben. Aber wenn man auch nur ein bisschen Mitgefühl hat, muss man verstehen, dass auch ihr hier Unrecht angetan wurde. Aber das ist nichts Ungewöhnliches, das ganze Justizsystem der Vereinigten Staaten ist menschenverachtend.
Kultur Joker: Der Jury, die Sie verurteilte, wurde niemals ein nachvollziehbares Motiv für den Elternmord an den Haysoms genannt. Welche Indizien führten zu Ihrer Verurteilung?
Söring: Am Anfang der Verhandlung hielten mich sechs Geschworene für unschuldig und sechs für schuldig. Letztlich war es ein blutverschmierter Fußabdruck, der sie davon überzeugte, dass ich der angebliche Täter sei. Der Gutachter für Fußabdrücke war alles andere als ein Experte, seine Falschaussage führte dann zu meiner Verurteilung. Mein Verteidiger, dem später wegen Geisteskrankheit die Lizenz entzogen wurde, hatte es verbockt, ein Gegengutachten erstellen zu lassen. Nach virginianischem Gesetz kann man ab dem 21. Tag nach dem Urteil keine neuen Beweise mehr einbringen.
Kultur Joker: Ihr Fall löste international eine Kontroverse über die Themen Auslieferung und Todesstrafe aus.
Söring: Es fing alles an mit der Auslieferungshaft Ende der 80er Jahre. Damals sind meine Anwälte zum Europäischen Gerichtshof gegangen. Daraufhin gab es ein wegweisendes Urteil über Auslieferung und Todesstrafe. Es ist immer noch der führende Präzedenzfall in der internationalen Rechtsprechung und hatte bitterböse Reden im US-Kongress zur Folge. Der New Yorker Senator Alfonse D’Amato echauffierte sich darüber, dass ein angeblicher Mörder das wunderbare Rechtsystem der Vereinigten Staaten vor dem Europäischen Gerichtshof kritisierte. Diese Sozialisten in Europa sollten gefälligst den Amerikanern erlauben, ihre Mörder möglichst schnell hinzurichten. Denn es wurde vorausgesetzt, dass ich die Todesstrafe bekommen würde. Diese Diskussion hat eigentlich nie aufgehört.
Kultur Joker: Im Gefängnis sagt man Ihnen offen, dass Sie dort sterben sollen. Was macht das Leben für Sie lebenswert?
Söring: Kämpfen. So ist es. Ich weiß gar nicht, ob ich damit aufhören könnte. Der Gedanke kommt mir nicht. Solang ich kann, kämpfe ich. Ich habe ja auch etwas, womit ich kämpfen kann und ich bin nicht allein. Ich habe viele Freunde, die mich unterstützen. Gewohnheit ist auch ein Grund, weiterzumachen. In gewisser Weise macht das Kämpfen ja auch ein bisschen Spaß. Mir wird oft gesagt, dass man mich beobachtet, wie ich jeden Tag am Schreibtisch sitze und wie wild schufte. Zwölf bis 14 Stunden am Tag. Und wie ich dann auf den Sportplatz rausgehe, jogge und Klimmzüge mache. Ich bin ein Sportfanatiker. Man sagt mir, ich gebe anderen Menschen Hoffnung. Das höre ich nicht nur von Mitgefangenen, sondern auch von Freunden aus der Außenwelt.
Kultur Joker: Und wie verhält es sich mit Freundschaften im Knast?
Söring: Es ist sehr schwierig, jemanden zu finden, dem man Vertrauen kann. Denn wer in großer Not ist, tut Dinge, die man sonst nicht tun würde. Zum jetzigen Zeitpunkt habe ich vielleicht einen auf der Ebene einer Freundschaft. Wir kennen uns noch aus meinem vorherigen Gefängnis. Man muss sich schon viele Jahre kennen, bevor man einem Mitgefangenen halbwegs vertrauen kann. Wenn mir mal so richtig zum Heulen ist, zeige ich das besser nicht.
Kultur Joker: Sie sagen, das größte Geheimnis, im Knast zu überleben, ist, keine Angst zu zeigen. Wie schafft man das?
Söring: Indem man ein Pokerface aufsetzt. Ich kann das prima. Wer das allerkleinste Zeichen von Schwäche zeigt, überlebt hier nicht. Zuerst mal wird man vergewaltigt. Man wird zum Sexsklaven, die werden hier „Punks“ genannt. 20 Prozent aller Gefangenen werden jedes Jahr unter Drohungen dazu gezwungen, Sex gegen ihren Willen zu haben, und zehn Prozent werden brutal vergewaltigt. Bei 2,3 Millionen Gefangenen insgesamt sind das weit mehr als 400.000 Vergewaltigungen pro Jahr. Das wird öffentlich akzeptiert, es gab darüber Anhörungen vor dem Kongress.
Kultur Joker: Im Gefängnis haben Sie bislang sieben Bücher geschrieben. In „Ein Tag im Leben des 179212“ zum Beispiel beschreiben Sie Ihren Alltag hinter Gittern. Wie denken Sie über den amerikanischen Strafvollzug?
Söring: Ich sehe ihn sehr, sehr kritisch. Ich bin Deutscher und denke, soweit ich das kann, wie ein Deutscher oder Europäer. Der amerikanische Strafvollzug ist menschenverachtend. Es gibt keinerlei Interesse an Resozialisierung. Mit dem Gedanken der Gerechtigkeit wird in den Vereinigten Staaten ausschließlich Rache verbunden. Statt Menschen, die Verbrechen begehen, als Mitbürger zu sehen, die wieder eingebürgert werden müssen, also als soziales Problem, wurde vom damaligen Präsidenten Richard Nixon ein „Krieg gegen das Verbrechen“ ausgerufen. Nach Vietnam brauchte man einen neuen Krieg. Und im Krieg zerstört man eben den Feind – sprich: die eigenen Bürger. Deshalb auch die Todesstrafe. Hauptsächlich betrifft es die schwarzen Bürger. Hier werden pro Kopf siebeneinhalb Mal so viele Menschen eingesperrt wie in Deutschland. Dies wird in Europa nicht ausreichend verstanden. Man kann Amerika erst begreifen, wenn man dies versteht.
Kultur Joker: Haben Sie erst im Gefängnis erlebt, wie die Amerikaner wirklich ticken?
Söring: Natürlich. Ich war praktisch noch ein Kind, als ich ins Gefängnis kam. Ich war mit 19 ein ganz dummer Junge, beschützt auf einer sehr guten Privatschule, mein Vater war Vizekonsul in Atlanta, Georgia. Es gab nur weiße Schüler, mit Ausnahme von zwei, drei Schwarzen, damit man der Schulleitung nicht Rassismus vorwerfen konnte. In Wirklichkeit sind das aber alles Rassisten gewesen. Die Amerikaner nennen diese Alibi-Schwarzen „Token“. Ich kannte diese Thematik damals überhaupt nicht. Bevor ich selbst von der Polizei verhört wurde, hatte ich mit der dunklen Seite des Lebens keinen Kontakt gehabt. Ich war ein sehr intelligenter, aber unreifer gehätschelter Diplomatensohn. Alles, was ich gelernt habe, habe ich im Gefängnis gelernt.
Kultur Joker: Wie reagiert die Gefängnisleitung auf Ihre schriftstellerischen Aktivitäten?
Söring: Das ist nicht ungefährlich. Kurz nach dem eine Zeitung eines meiner kritischen Bücher positiv rezensiert hatte, bin ich selber mal sechs Wochen in die Strafzellen verlegt worden. Ohne dass man mir etwas vorzuwerfen hatte. Die Abschreckung hat nicht funktioniert, ich habe danach noch drei weitere Bücher geschrieben. Bald kommt das nächste.
Kultur Joker: Wie muss man sich solch eine Strafzelle vorstellen?
Söring: Die Strafzellen liegen in einem anderen Gebäude, in diese kleinen Hundekäfige wird man 23 Stunden am Tag eingesperrt. Man darf nichts mit hineinnehmen, bekommt drei Duschen pro Woche und darf insgesamt dreimal ins Freie. Isolation ist eine Form der psychologischen Folter. Man soll sich zu Tode langweilen. Angeblich soll man nicht länger als 30 Tage in diese Zellen rein, sonst besteht die Gefahr einer Psychose. Ich war da sechs Wochen drin. Im Gefängnis sieht man sehr oft gebrochene Menschen. Sie begehen Selbstmordversuche, beschmieren sich selber oder ihre Zelle mit Fäkalien, manche schreien unkontrolliert oder werden paranoid und auch gefährlich. Einige schneiden sich sogar die Unterarme auf.
Kultur Joker: Kann man sagen, dass die deutsche Regierung Sie vor der Todesstrafe bewahrt hat?
Söring: Die deutsche Regierung war damals Nebenkläger, was sehr wichtig war. Die Hauptarbeit wurde von meinen englischen Anwälten gemacht. Nach 25 Jahren Knast frage ich mich immer öfter, ob eine Hinrichtung nicht die bessere Option gewesen wäre. Aber naja… ich bin noch da und kämpfe noch. Ich laufe vor keinen Fragen davon. Auch nicht vor den eigenen, inneren. Ich kann nur überleben, wenn ich mich eisenhart allem stelle.
Buchtipps:
Jens Söring: Ein Tag im Leben des 179212 (Gütersloher Verlagshaus); Jens Söring: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Barmherzigkeit und Strafvollzug (Echter Verlag).
Surftipp: www.jenssoering.de
http://www.jenssoering.de/blog_einleitung.
Bildquellen
- Jens Söring sitzt in den USA im Brunswick Correctional Center wegen zweifachen Mordes: Foto: Karin Steinberger