Aus dem Archiv: Rüdiger Nehberg, Abenteurer und Menschenrechtsaktivist (01/2004)
Vor allem als Überlebenskünstler hat sich der gelernte Bäcker Rüdiger Nehberg einen Namen gemacht. Er hat die Danakil-Wüste in Äthiopien durchquert, den Atlantik per Tretboot, Bambusfloß und einer massiven Tanne bezwungen und sich ohne Ausrüstung im brasilianischen Urwald aussetzen lassen. Seit 1980 betätigt sich „Sir Vival“ auch als Menschenrechtsaktivist, der sich für die Rechte der amerikanischen Ureinwohner und mit seinem Verein „Target“ verstärkt gegen die barbarischen Beschneidungsrituale in Afrika und im Nahen Osten einsetzt. Die Afar, ein 3-Millionen-Volk, das in Äthiopien beheimatet ist, hat die Beschneidung mittlerweile abgeschafft. Mit Rüdiger Nehberg sprach Claus Weissbarth.
Kultur Joker: Herr Nehberg, Sie sind seit 30 Jahren auf der Suche danach, wie viel ein Zivilisationsmensch aushalten kann. Wie lautet Ihre Antwort?
Nehberg: Ich habe peu à peu festgestellt, dass man vielmehr kann, als man eigentlich denkt. Über Trainings und Experimente muss man sehen, ob die Grenzen zu verlagern sind. Mich haben vor allem jene Dinge gereizt, die ich vorher nicht kannte, wie mit dem Tretboot über den Atlantik zu fahren, ohne Erfahrung mit dem Ozean, immer seekrank und mit Angst vor dem Wasser.
Kultur Joker: Sind die Anstrengungen dabei eher physischer oder psychischer Natur?
Nehberg: Im Grund wechselt das ab, mal ist es die Physis, mal die Psyche – aber wenn die Psyche aufgibt, dann gibt auch der Körper auf.
Kultur Joker: Geht es bei Ihren Abenteuern vor allem darum, sich selbst etwas zu beweisen?
Nehberg: Zunächst war es die Neugier, Interesse an anderen Lebensformen, Denkweisen und Kulturen. Es ist auch die Freude mich selbst zu entdecken, neue Grenzerfahrungen zu sammeln und mich auch für Dinge zu engagieren, die ich für Unrecht halte. Irgendwann ist es so gekommen, dass meine Abenteuer einen Sin bekamen, aber ursprünglich war es reine Selbstbefriedigung.
Kultur Joker: Welche Voraussetzungen sind notwendig, um in extremen Gegenden und Situationen zu überleben?
Nehberg: Es ist vor allem der Wille. Besser ist es noch, wenn man darüber hinaus eine Motivation hat, weil man dann ganz anders engagiert ist. Die meisten Probleme bereitet der innere Schweinehund, der essen möchte oder sich einen warmen Schlafsack wünscht und sich gegen die Entbehrungen wehrt.
Kultur Joker: Dann war es sicherlich auch eine Überwindung, erstmals Regenwürmer oder Käfer zu verzehren.
Nehberg: Ja schon, aber ich glaube, ich hatte es leichter als andere, weil ich da meinen Verstand teilen kann. Es gibt ja begründeten und unbegründeten Ekel, und ich habe gelernt, dass die Abneigung gegen Heuschrecken und Gewürm unberechtigt ist: Ein Wurm ist nicht krank, eine Heuschrecke schmeckt lecker und andere Völker haben das als Delikatesse. Wenn man einen Wurm roh ist, dann schmeckt das nicht, aber wenn man ihn kocht, dann wird der wie ein hartes Ei und ist mit Salz genossen eine ganz normale Nahrung für mich.
Kultur Joker: Ist es schon vorgekommen, dass Sie in kritischen Momenten daran gedacht haben, aufzugeben?
Nehberg: Das hatte ich noch nicht. Wenn mir etwas ganz unmöglich erscheint, habe ich es nicht gemacht. Es gab den Moment, als mein Freund in der Wüste mit einem Kopfschuss ermordet wurde und man sich natürlich fragt, was man falsch gemacht hat. Da macht der Körper eine Revolution durch. Man hat keine Kontrolle mehr, macht sich in die Hose und denkt nur noch daran, sich extrem zu verteidigen. Das war eine ganz wichtige Lebenserfahrung.
Kultur Joker: War das auch die Situation, in der Sie am meisten Angst hatten?
Nehberg: Nein, eigentlich insofern nicht, weil es geschah und dann vorbei war. Die anschließende Flucht ging über fünf Tage und hat mir viel mehr Angst gemacht, aber je weiter ich von dem Tatort weg war, desto mehr entspannt der Körper. Angst habe ich eher, wenn sich eine Gefahr zusammenbraut.
Kultur Joker: Hat sich ihr Umgang mit Angst angesichts von sicherlich vielen Gefahrenmomenten, die Sie erlebt haben, im Lauf der Zeit verändert?
Nehberg: Schon, aber ich habe immer darauf geachtet, dass die Angst nicht vollkommen abgebaut wird. Wenn es hart auf hart geht, dann hat man eben Angst, das ist ja was ganz Natürliches.
Kultur Joker: Andererseits dürften Sie auch eine Vielzahl mentaler Höhen erlebt haben.
Nehberg: Wenn man mit dem Tretboot nach zwei, drei Monaten da drüben ankommt, fühlt man sich schon wie Columbus. Aufregend war auch der erste Kontakt mit den Yanomami-Ureinwohnern, deren Gebiet man legal gar nicht betreten durfte. Um ihnen zu zeigen, dass ich keine Gefahr darstelle, war ich alleine und unbekleidet und habe praktisch die Hilflosigkeit als Waffe genutzt. Als sie mich nach Wochen der ständigen Angst dann mit in ihr Dorf genommen haben, war das ein toller Moment.
Kultur Joker: Gerade was die Ureinwohner angeht, haben Sie viel Aufklärungsarbeit geleistet. Welche Vorteile hat das Leben bei den Eingeborenen?
Nehberg: Unheimlich viele. Zunächst ist mit aufgefallen, wie ruhig ihr Leben verläuft. Es gibt keine Überbevölkerung und wenn alles gut geht hat eine Frau im Durchschnitt zwei Kinder. Arbeitslosigkeit ist unbekannt und es wird nur vier Stunden täglich gearbeitet. Dann dieser fehlende Fortschrittsglaube, der uns so anhaftet, wo man sich in Sachen Luxus überhaupt nicht mit dem Status quo zufrieden geben kann. Die Ureinwohner müssen dagegen teilen, wenn sie etwas ergattert haben, denn wer nicht teilt kommt nicht in den Himmel, meinen sie. Es gibt keinen Müll und kein Altersheim, alle wohnen unter einem Dach, was ab und zu auch zu Streit führt. Aber die andere, bescheidene Art zu leben und der Respekt vor der Natur haben mich schon sehr beeindruckt.
Kultur Joker: Mit Ihren Veröffentlichungen und Vorträgen wollen Sie nach eigenem Bekunden auch sensibilisieren und motivieren. Heißt das, dass die zivilisierte Gesellschaft in Ihren Augen zu träge ist?
Nehberg: Ja, feige, träge, kein Risiko, nur noch auf Sicherheit und Rente bedacht. Aber wer auf festgetrampelten Pfaden bleibt und nachts im Hotel schläft, wird auch nichts erleben. Ich bekomme ja manchmal Briefe, da fühle ich mich richtig verarscht. Einer hat mir zum Beispiel geschrieben, dass er von Oberhausen in den Harz wandern will und dafür einen Sponsor sucht. Daran sieht man, dass Eigeninitiative kaum noch gefragt ist. Ich war immer stolz, dass ich mir nie etwas auf die Klamotten schreiben musste und mich nie wie eine Prostituierte verkauft habe.
Kultur Joker: Viele Abenteurer und Extremsportler berichten von einer Art Sucht, die sie stets aufs Neue antreibt. Können Sie das bestätigen?
Nehberg: Andere nehmen Drogen oder besaufen sich, ich habe meine Droge in Form von Adrenalin und was weiß ich, was da alles produziert wird, wenn man dieses Prickeln erlebt: Jetzt wirklich mit dem Baumstamm ablegen und da liegt dieser Wahnsinns-Ozean vor einem. Oder sich mit der gigantischen Kraft des Urwaldes zu konfrontieren, wo im Grunde eine Bakterie genügt, um einen auszulöschen. Und dieser Bakterie ein Schnippchen zu schlagen, ist eine tolle Sache.
Kultur Joker: Aber nach Monaten in der Wildnis freuen Sie sich schon, wieder in die Zivilisation zurückzukehren.
Nehberg: Das ist ein ganz zweischneidiges Gefühl. Irgendwo sehne ich mich nach Urwald oder dem afrikanischen Busch, wo es noch natürliches Land gibt. Das hat mich immer fasziniert. Aber um ständig woanders zu leben, müsste ich mich der Kultur fügen, mich in eine andere Lebens- und Denkweise integrieren und quasi Ureinwohner werden. Dafür bin ich hier viel zu sehr verwurzelt. Ich habe immer diese Mischung auf Heim- und Fernweh genossen, dabei aber auch immer unsere Kultur und Wohlstand, Freiheit, Gesundheit, Demokratie und Frieden schätzen gelernt, während in anderen Ländern die Frauen schon froh wären, wenn sie ihre Meinung äußern dürften, ohne dafür gesteinigt zu werden.
Kultur Joker: Bei Ihrem Kampf um Menschenrechte dürften Sie vermutlich nicht immer auf offene Ohren stoßen. Wie gehen Sie mit Ablehnung um?
Nehberg: Misserfolge haben mich nie depressiv gemacht, sondern vielmehr dazu geführt, dass ich versucht habe, noch einen draufzusetzen. Als zum Beispiel mein erstes Buch über die Yanomami-Ureinwohner wirkungslos blieb, habe ich stärkere Waffen angewandt, Spektakel gemacht und die Medien für die Sache begeistert. Bei dem neuen Thema Verstümmelung habe ich erst gar nicht behutsam angefangen, sondern gehe lieber von oben nach unten und krache ran bis zu Gottes Stellvertretern.
Kultur Joker: Mit offenen Armen dürfte Sie der Islam aber kaum empfangen haben.
Nehberg: Ich hatte vorher gedacht, dass ich mich mit einer ganzen Weltreligion anlege, habe aber überraschend nur Zustimmung erfahren. Als Berufspessimisten meinten, es gäbe Ärger mit Fundamentalisten, habe ich gedacht, glaubt doch was ihr wollt und meinen Verein gegründet, weil ich von solchen Angsthasen und Quatschköpfen nicht abhängig sein will. Ich bin selbst noch völlig überwältigt, dass ich etwas gegen die Verstümmelung zustande gebracht habe.
Kultur Joker: Auch wenn es grausam ist: Beschreiben Sie doch bitte die Qualen, die Mädchen und Frauen dabei erleiden müssen.
Nehberg: Wenn es um die pharaonische, die schlimmste Verstümmelung geht, sind die Qualen nicht mehr zu übertreffen. Zuerst werden sie belogen. Es wird gesagt, es sei der schönste Tag in ihrem Leben, sie dürfen sich satt essen und bekommen vielleicht ein Kleid, was einen Glückmoment im Leben eines so armen Mädchens bedeutet. Dann kommen die Erwachsenen, meist die Mutter und Tanten, grätschen die Kleine auf die Erde und setzen sich auf die Gliedmaßen, so, dass sie wie in einem Schraubstock fest sitzt. Danach werden ohne Betäubung und ohne Eile nacheinander die Klitoris und die Vulvalippen abgeschnitten bis man vor lauter Blut nichts mehr sehen kann, dann wird Wasser darüber geschüttet und die Vagina ausgeschabt, ehe sie wie ein Reißverschluss mit Akaziendornen zugesteckt wird. Dann werden die Schenkel wie eine Roulade zusammengebunden, während die Kleinen schon längst ohnmächtig sind. Wenn sie es überleben, wächst die Scheide zu, da wird ein Strohhalm reingesteckt. Das ist die einzige Öffnung, die schwillt meist zu und wenn der Urin nicht mehr abläuft, sterben viele. Wenn sie ihre Regel kriegen, quälen sie sich 14 Tage, das Urinieren dauert eine halbe Stunde. Im Alter zwischen 11 und 14 Jahren heiraten sie, dann kommt der Mann mit seinem Penis und muss diese kleine Öffnung aufstoßen, was ihm meistens nicht gelingt, bis er schließlich das Messer holt. Und ab da – weil er ständig mit ihr schlafen will – bleiben die Wunden offen. Wenn die Frau Kinder kriegt, wird weiter aufgeschnitten, damit das Kind da überhaupt rauskommt. Die Öffnung wird anschließend wieder auf Penisgröße zugezwackt, was sich ein Leben lang wiederholt.
Ein Drittel der Frauen stirbt an dieser schlimmen Prozedur oder an den Folgekrankheiten. Und das Ganze wird dann mit dem Koran oder der Bibel begründet. Dabei beten sie ihren Schöpfer als unfehlbar an und unterstellen ihm gleichzeitig, dass er ein Pfuscher ist, der Frauen falsch geschaffen hat und man in die Schöpfung eingreifen muss. Da muss man an höchster Stelle klipp und klar sagen, dass die Verstümmelung Gottesanmaßung und eine Diskriminierung des Islam ist.
Kultur Joker: Wie gehen die Betroffenen mit dem Schmerz um?
Nehberg: Viele bringen sich einfach um. Bei der Konferenz des Afar-Volkes erzählten Mütter von ihren Töchtern, die es nicht mehr aushalten konnten und auf Minen gesprungen sind, sich mit Benzin übergossen oder die Maschinenpistole in den Mund gesteckt haben. Ein anderes Mädchen, 7 oder 8 Jahre alt, wurde von einer Touristin in einer Müllgrube gefunden. Die Eltern hatten sie einfach da reingeworfen, weil sie eiterte und stank. Die Frau hat das Bündel Knochen, das in einen Sack verpackt war, dann in ein australisches Krankenhaus nach Addis Abeba gebracht. Weil sie nur noch Abfälle gegessen hatte, war ihr Magen so geschrumpft, dass sie am Tag zunächst nur mit Mühe eine Banane essen konnte. Mein Fernziel ist es nach Mekka zu gehen und die Genitalverstümmelung dort als Sünde zu brandmarken.
Kultur Joker: Ein hohes Ziel, …
Nehberg: … das man sich aber stecken muss, denn wenn man klein ranklotzt, erntet man auch kleine Erfolge. Außerdem kommt mir mein Alter zugute. Mit 68 kann man ganz andere Risiken eingehen, als ein junger Mensch, der das Leben noch vor sich hat. Die Zeit, die mir noch bleibt, will ich nutzen um ein großes Finale zu inszenieren.
Kultur Joker: Herr Nehberg, wir bedanken uns für das Gespräch.
Bildquellen
- Aus dem Archiv: Rüdiger Nehberg, Abenteurer und Menschenrechtsaktivist: Foto: Archiv 2004