Anarchokapitalismus – Profitmaximierung als Obsession: „Kapitalismus ohne Demokratie“ von Quinn Slobodian analysiert den weltweiten Vormarsch marktradikaler Machtverhältnisse
Der Begriff „Anarchokapitalismus“ war vor der kürzlich erfolgten Wahl von Javier Milei zum Präsidenten von Argentinien wohl kaum im allgemeinen Sprachgebrauch verbreitet und ebenso wenig ein breiteres Verständnis von dessen inhaltlicher Bedeutung. Milei bezeichnet sich selbst vor jedem bereitgehaltenen Mikrofon als Anarchokapitalist und schwadroniert mit Emphase von seiner Idealvorstellung eines von jeglicher staatlichen oder gewerkschaftlichen Kontrolle befreiten Wirtschaftssystems. Dort sollen einzig Unternehmer oder Kapitaleigner und ein ungezügelter freier Markt die Strukturen und das Zusammenleben der Menschen bestimmen.
Erst vor wenigen Tagen konnte er vor den illustren Kreisen des Weltwirtschaftsforums in Davos und live übertragen in vielen Fernsehkanälen seine Botschaft an alle Geschäftsleute in aller Welt richten: „Lasst euch nicht einschüchtern, weder von der politischen Kaste noch von Parasiten, die vom Staat leben. Ergeben Sie sich nicht einer politischen Klasse, die nur an der Macht bleiben und ihre Privilegien behalten will……Wenn ihr Geld verdient, dann deshalb, weil ihr ein besseres Produkt zu einem besseren Preis anbietet und damit zum allgemeinen Wohlstand beitragt. Ergeben Sie sich nicht dem Vormarsch des Staates. Der Staat ist nicht die Lösung. Der Staat ist das Problem selbst.“
Leider kann dies nicht als Allmachtsphantasie eines durchgeknallten Superreichen abgetan werden, sondern solche oder annähernd solche Verhältnisse existieren tatsächlich global schon seit langem und expandieren aktuell immer weiter und mit großer Geschwindigkeit. Hier Licht ins Dunkel gebracht zu haben ist das Verdienst des obengenannten Buches.
Entfesselter Kapitalismus ohne demokratische Kontrolle
Quinn Slobodian, kanadischer Historiker und Professor an der Boston University mit dem Forschungsschwerpunkt Neoliberalismus, zerstört schon in der Einleitung seines Buchs unser gewohntes geografisches Bild auf einem Standardglobus als einem kontinentalen Mosaik aneinandergereihter Nationalstaaten. In Wirklichkeit gebe es derzeit innerhalb der Nationalstaaten weltweit mehr als 5400 mehr oder weniger eigenständige Gebilde (Quinn nennt sie „Zonen“) in Form von Sonderwirtschaftszonen, Stadtstaaten, autonomen Finanzzentren, Freihäfen, Technologieparks, Zollfreibezirke oder Innovationszentren, in denen eigene, vom übrigen Staatswesen unabhängige Regeln und Gesetze etwa für Besteuerung, Gestaltung von Arbeitsbedingungen, Immobilien- oder Kapitalverwertung gelten. Diese variantenreichen extraterritorialen Enklaven dienen dem internationalen Kapital als libertäre Tummelplätze und bieten willkommene Experimentierfelder mit minimiertem Risiko und fungieren nicht zuletzt als Fluchtpunkte für die vorteilhafte Verschiebung von Unternehmensgewinnen.
Hongkong und die Libertare Ideologie
Als Historiker beginnt Slobodian mit der Beschreibung der Herausbildung der Sonderverwaltungszone Hongkong als des wirkungsmächtigsten Prototyps einer Sonderwirtschaftszone und verbindet damit gleichzeitig die Darstellung der dahinter stehenden Theorie eines ökonomischen Libertarismus.
Hongkong entwickelte sich nach den Opiumkriegen im 19. Jahrhundert und dem Zugeständnis der britischen Oberhoheit über die Häfen durch langfristige Pachtverträge und der fortschreitenden Sicherung von Handelskonzessionen durch andere europäische Mächte schließlich zu einem „semisouveränen Flickenteppich“. Der ursprüngliche Handelshafen wuchs nach der Jahrhundertwende zu einem veritablen Industriestandort, der für die Weltmärkte produzierte und im Folgenden in den 1970er Jahren und danach zusätzlich zur Drehscheibe der asiatischen Finanzmärkte würde.
Der gefeierte Ökonom Milton Friedman zeigte sich von den Binnenverhältnissen dieser inzwischen zur britischen Kronkolonie gewordenen Region begeistert, in der sich die Marktkräfte im Wesentlichen frei entfalten konnten. Im Klartext bedeutete dies: Prekäre Arbeitsbedingungen für die nach der kommunistischen Machtübernahme zahlreich geflüchteten Arbeitskräfte, ein völlig entrechtetes Hire-andFire-Dasein. Milton drehte dort seine weltweit vielbeachtete Fernsehserie „Free to Choose“ und bezeichnete darin Hongkong als „Laborexperiment“ in dem untersucht werde, was geschieht, „wenn der Staat auf seine angemessene Funktion begrenzt wird.“ In Hongkong tagte auch regelmäßig die Mont Pèlerin Gesellschaft, ein Vorläufer der heute in Mode gekommenen „Think Tanks“, zu deren Gründungsmitgliedern Friedman zählte und die sich als Neoliberale oder Libertare bezeichneten. Der Staat sollte sich nach ihrer libertaren Denkweise vor allem auf den Schutz der freien Marktkräfte beschränken. Hinzu als Aufgaben kämen allenfalls die Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Sicherheit sowie der Schutz des Privateigentums und der Unverletzlichkeit von Verträgen. Es soll kein Staatseigentum geben, dieser soll keine Unternehmen leiten, nicht über Mitspracherechte in solche hineinregieren, keine Ressourcen oder Gesundheitsdienstleistungen verwalten oder die Versorgung mit Wohnungen, Strom, Wasser und Gesundheitdienstleistungen übernehmen. All diese Bereiche sollen dem Markt überlassen bleiben und im besten Fall sollte der Staat ebenfalls wie ein Unternehmen geführt werden, was allgemeine Wahlen überflüssig machen würde. Die Hardcore-Libertaren, die Anarchokapitalisten, gehen noch weiter, indem sie den Staat generell in Frage stellen und ablehnen. Milton Friedmans Sohn David zählt sich dazu und betätigt sich als deren Sprachrohr, zuletzt übrigens ebenfalls in Davos und dessen Sohn Parti wiederum meldet sich mit solchen Vorschlägen zu Wort: Man solle außerhalb der 200-Meilen Hoheitszone in den frei zugänglichen Weltmeeren mit Hilfe der „für die Ölförderung in internationalen Gewässern entwickelten Technologien“ Siedlungen errichten, die sich nach Erklärung ihrer Unabhängigkeit unerreichbar für nationale Steuer- und Regulierungsbehörden nach libertaren Vorstellungen in Reinkultur etablieren könnten. Auf die drei Friedmans und weitere Mitglieder der Mont Pèlerin Gesellschaft in Beraterfunktion stößt man im Buch immer wieder auch in den weiteren Kapiteln über andere Beispiele enklavischer Wirtschaftszonen, in denen soziale Gleichheit, ökologische Verantwortung, Minderheitenschutz, allgemeine Wohlfahrt und staaliche Kontrolle rigoros dem grenzenlosen ökonomischen Wachstum untergeordnet werden.
Das Schema greift in Varianten um sich
Im London der Thatcher-Ära wurde – inspiriert vom Hongkong Beispiel – in den ehemaligen Docklands ein neues Finanzzentrum als weitgehend eigenständige „Enterprise zone“ mit dem Namen Canary Wharf installiert. Insbesondere internationale Investmentbanker und Immobilienhaie fielen dort aufgrund der freizügigen Bedingungen wie Grundstückspreise für ein Sechstel des Marktwerts in hoher Zahl ein. Entstanden ist eine Retortenstadt mit gläsernen Prunkbauten überwiegend ausländischer Anleger, zu großen Teilen unbewohnt, als Spekulationsobjekte und sichere Parkplätze für mobile Vermögen. Das ganze auf Kosten einer kompletten Verdrängung der ursprünglichen Bevölkerung.
In Singapur spielte allerdings laut Slobodian der Staat die Hauptrolle bei der Suche nach einer Weltmarktnische. Der rigide Stadtstaat dockte sich ähnlich wie Hongkong durch seinen riesigen Freihafen an den Welthandel an. Als Finanzkapital-Insel spezialisierte sich Singapur auf den unkontrollierten Kauf und Verkauf von Währungen. Die Ansiedlung von Hochtechnologiefirmen wie Philips, Texas und Apple wurde durch weitgehende Steuerprivilegien und Niedrigstlöhne der überwiegend ausländischen und nahezu rechtlosen Arbeitskräfte versüßt.
Slobodian beschreibt in diesem Kapitel noch verschiedene weitere Varianten von autonomen Abspaltungen in sezessionistischer Manier aus bestehenden Nationalstaaten, z.B. in Südafrika oder Kalifornien, die auf Vorschlägen des Ökonomen und anarchokapitalistischen Vordenkers Murray Rothbart basieren, in denen neben streng libertarer ökonomischer Struktur auch ebenso strenger Rassismus herrschte.
Fürstentum Liechtenstein und Dubai
In direkter Nachbarschaft von hier liegt das nur einen Querschnitt von 25 km umfassende und seit 1806 souveräne Fürstentum Liechtenstein, in dem Fürst Adam II. nahezu autokratische Machtbefugnisse besitzt. Er ist ein glühender Verfechter des Wirtschaftsliberalismus und hat es nach einer wechselvollen Geschichte geschafft, diese Enklave zu einem der wichtigsten willfährigen Finanzdienstleister für einen ungestörten internationalen Kapitalfluss oder dessen Deponierung zu entwickeln. Bereits Anfang des 21. Jahrhunderts hatten dort 750000 internationale Firmen ihren Sitz. Im Buch wird die Entwicklung dieses Zwergstaates zum Premiumdienstleister des mobilen Kapitals detailliert beschrieben.
Ebenso wird der Aufstieg von Dubai zur Drehscheibe der ökonomischen Globalisierung behandelt. Für Anarchokapitalisten wie Patri Friedman oder dem Deutschen Peter Thiel kommt Dubai wegen seines Flickenteppichs von unterschiedlichsten, für Investoren maßgeschneiderten Rechtsräumen innerhalb des Emirats ihrem Idealbild einer total entfesselten Ökonomie recht nahe. Zentrale Bedeutung gewinnt in diesem Zusammenhang auch der neu angelegte Hafen Jebel Ali, der zur extraterritorialen Freihandelszone erklärt wurde. Das Scheichtum wird tatsächlich wie ein Unternehmen geführt und der Scheich wird vielfach „CEO von Dubai“ genannt. Es gibt keinerlei demokratische Beteiligungsrechte, stattdessen restriktiv ausgeübte Polizeigewalt. Das Arbeitskräfteheer ist überwiegend importiert und lebt von der Bevölkerung völlig getrennt in eigenen Lagern, aus denen sie zur Arbeit und wieder zurück gebracht werden.
Essenz
Dies sind bei weitem noch nicht alle Aspekte, die Quinn Slobodian in seiner akribischen Analyse des internationalen Vormarschs der neolibertaren und anarchokapitalistischen Theorie und Praxis behandelt hat. Es ist wohl das erste Mal, dass diese Entwicklung so systematisch ins Blickfeld des Historikers gerückt wurde. Als solcher stellt Slobodian überwiegend dar, wertet wenig. Alles in seinem Buch ist ausführlich und sauber belegt. Allein der Anmerkungs- und Belegteil umfasst 90 Seiten. Es liefert wichtige Erkenntnisse über den destruktiven Charakter des kapitalistischen Wirtschaftssystems allgemein und speziell über seine radikalsten Protagonisten.
Bildquellen
- Das neue Buch „Kapitalismus ohne Demokratie“ von Quinn Slobodian analysiert den weltweiten Vormarsch marktradikaler Machtverhältnisse: Copyright: suhrkamp
- Quinn Slobodian: Foto: Tony Luong