Interview

Schönes muss schön bleiben

Im Gespräch: Marc Clémeur, Intendant der Straßburger Opéra national du Rhin

Foto: Opera National du Rhin

Er entdeckt gerne Talente und findet deutsches Regietheater abstoßend. Er mag Koproduktionen und hat ein junges Publikum. Intendant Marc Clémeur ist zufrieden mit seinem Start an der Straßburger Opéra national du Rhin. Zum Beginn der neuen Spielzeit sprach Georg Rudiger mit ihm über deutsche Kritiker, französische Opern und über eine anstehende Uraufführung.

Kultur Joker: Sie sind nun zwei Jahre Intendant der Opéra national du Rhin. Was haben Sie erreicht in dieser Zeit? Wo steht die Straßburger Oper im Augenblick?

Marc Clémeur: Ich denke, dass wir in vielen Punkten schon weit gekommen sind. Ein wichtiges Ziel von mir war es, verstärkt das deutschsprachige Publikum anzusprechen. Von unseren Spielorten Straßburg, Colmar und Mulhouse ist die deutsche bzw. schweizerische Grenze nur ein paar Kilometer entfernt. Die wichtigste Entscheidung war sicherlich die Einführung von zweisprachigen Übertiteln bei allen Vorstellungen. Als guter Belgier bin ich Zweisprachigkeit ja gewohnt. Ingesamt ist die Zahl der auswärtigen Zuschauer auf 21 Prozent gestiegen.

Kultur Joker: Sind sie zufrieden mit diesem Schnitt? Er lag vor zwei Jahren bei 18 Prozent.

Clémeur: Ja, zumal wir bei den Abonnementzahlen für die kommende Saison Anzeichen sehen, dass sich diese Tendenz fortsetzen wird. In der Pariser Opéra Bastille, dem größten Opernhaus Europas, liegt die Zahl der auswärtigen Besucher bei nur 10 Prozent. Und eine zweite Zahl, auf die ich ein wenig stolz bin: 28 Prozent unseres Publikums ist unter 26 Jahre alt. Meine deutschen Intendantenkollegen werden immer blass vor Neid, wenn sie das hören. Da haben natürlich auch unsere erfolgreichen Kinderopern großen Anteil daran. Noch eine dritte erfreuliche Entwicklung: Das Presseecho ist stärker geworden. Kürzlich erschienen in zwei wichtigen deutschen, überregionalen Zeitungen halbseitige Kritiken über „Die Sache Makropulos“. Das ist eine internationale Aufmerksamkeit, die die Rhein­oper früher nicht hatte.

Kultur Joker: Was hat nicht so funktioniert, wie Sie es sich vorgestellt hatten?

Clémeur: Mein Vorhaben, hier auch gerade für das französische Publikum unbekanntere französische Opern anzubieten wie „Louise“ in der ersten Spielzeit oder „Hamlet“ in der vergangenen, stieß bislang nicht auf die Resonanz, die ich mir erhofft hatte. Diese Vorstellungen war zum Beispiel deutlich weniger gut besucht als zum Bespiel die „Götterdämmerung“. Vielleicht hängt das auch ein bisschen mit der germanischen Kultur zusammen, die die Elsässer auch haben.

Kultur Joker: Das wird sie aber nicht beeinflussen in der Progammkonzeption.

Clémeur: Nein, ich werde weitermachen.

Kultur Joker: Als wir vor zwei Jahren zu Ihrem Amtsantritt miteinander gesprochen haben, war auch der Neubau eines Opernhauses ein wichtiges Thema. Was ist daraus geworden?

Clémeur: Es gab in der Stadt in den letzten beiden Jahren eine große Diskussion über ein neues Opernhaus. Der neue Stadtrat hatte dafür den Rheinhafen als Standort vorgeschlagen. Dieses Gebiet ist aber eine reine Industriezone, deshalb war ich gegen diese Option. Inzwischen wurde die Idee eines Neubaus aber ganz aufgeben, auch aus finanziellen Gründen. Nun möchten wir das bestehende Haus, das ja auch als historisches Gebäude für das Publikum attraktiv ist, renovieren und auch erweitern. Wir müssten dabei auch den Bühnenturm erhöhen. Im Grunde könnten wir für einen relativ niedrigen Betrag dieses Opernhaus ausbauen.

Kultur Joker: Sie machen verhältnismäßig viele Koproduktionen am Haus. Die „Fledermaus“ in der kommenden Saison beispielsweise ist gemeinsam mit dem Theater Nürnberg entstanden.

Clémeur: Nächstes Jahr gibt es wirklich einige Koproduktionen – das ist aber ein reiner Zufall. Die „Fledermaus“ hatte ich schon länger im Auge. Da wir kein eigenes Ensemble haben, müssen wir ja viel langfristiger planen als deutsche Opernhäuser. Mein Kollege aus Nürnberg brauchte die „Fledermaus“ aber ein Jahr früher – deshalb hat dort die Premiere bereits stattgefunden. Der ursprüngliche Plan war aber von mir. „Katja Kabanova“ ist eine Übernahme aus Antwerpen. Sie ist Teil meines von Robert Carsen inszenierten Janácek-Zyklus’, in dem nur zwei Produktionen Wiederaufnahmen sind. Die Antwerpener „Jenufa“ wurde hier schon in meiner ersten Spielzeit gezeigt. Die „Katja Kabanova“, die nun kommen wird, ist wirklich eine herausragende Produktion, die auch schon an der Mailänder Scala war und den italienischen Theaterkritikerpreis gewonnen hat. „Das schlaue Füchslein“ in der übernächsten Spielzeit produzieren wir wieder neu. Aber ich weiß, deutsche Kritiker reagieren allergisch auf Koproduktionen.

Kultur Joker: Sehen Sie nicht die Gefahr, dass das Haus an Profil verliert? Wenn Koproduktionen ganz unproblematisch wären, würde sie ja jedes Opernhaus eingehen. Das Festspielhaus Baden-Baden beispielsweise setzt seit neuestem bei der Oper nur noch auf Eigenes.

Clémeur: In diesem Fall geht es um Produktionen von Robert Carsen, den ich, wenn ich das so sagen darf, in Antwerpen unter anderem mit Puccini groß gemacht habe. Ich bin jetzt von Antwerpen nach Straßburg umgezogen – ich nehme das Profil also mit, wenn sie so wollen. Der Grund, warum deutsche Häuser so wenig koproduzieren, liegt im Repertoiresystem. Wir haben eine ganz bestimmte Periode, in der wir eine Produktion brauchen. Danach können wir sie ausleihen an ein anderes Theater. Ein deutsches Haus, das vier Vorstellungen einer Produktion im Januar hat, zwei im Februar, eine im März und eine im Juni, kann so etwas nie machen. Gemeinsam mit „La Monnaie“ in Brüssel produzieren wir in der nächsten Spielzeit „Die Hugenotten“ von Giacomo Meyerbeer in einer Inszenierung von Olivier Py. Ich wollte den Regisseur schon lange mit einer Inszenierung betreuen, dann erzählte er mir von den „Hugenotten“. Das passte auch perfekt in meine Serie mit unbekannten französischen Opern. Und außerdem ist dieses Werk ein so riesiges Spektakel, das selbst ein großes, finanziell gut ausgestattetes Haus wie Brüssel froh ist, mit uns einen Partner an der Seite zu haben. Wir machen die „Hugenotten“ aber mit einem anderen Dirigenten und einer anderen Besetzung – und werden auch die Oper ein wenig kürzen, damit sie nicht wie in Brüssel sechs Stunden dauert.

Kultur Joker: Insgesamt haben Sie am Straßburger Opernhaus eine andere Ästhetik als an vielen deutschen Häusern wie beispielsweise dem in Freiburg. Es muss in Straßburg auf der Bühne schön sein. Ist das Ihre Ästhetik? Oder eher ein Zugeständnis an das französische Publikum?

Clémeur: Es muss nicht schön sein. Haben Sie „Macbeth“ gesehen mit all den Kadavern auf der Bühne? Wenn das Sujet hässlich ist, darf es auch hässlich sein. Ich denke nur, dass man ein schönes Sujet nicht hässlich machen sollte. Das deutsche Regietheater, das aus jedem Stück, wie harmonisch es auch gedacht ist, nur Armut, Sex und Gewalt herausarbeitet, entwirft eine pessimistische Sicht auf die Welt, die ich nicht teile. Wenn ich das sehen möchte, dann kann ich zu Hause in Straßburg den Fernseher anschalten. Ich denke, das Theater müsste ein Ort sein, an dem wir die Probleme unter einem optimistischen Blickwinkel zeigen. Ich finde das deutsche Regietheater nihilistisch. Diese Lebenseinstellung teile ich nicht.

Kultur Joker: Denken Sie, dass ein Theater auch aufrütteln muss?

Clémeur: Selbstverständlich. Aber dann sollte man auch aufrüttelnde Stücke spielen. Und nicht Regiekonzepte über ganz anders gelagerte Werke stülpen.

Kultur Joker: Sie haben einmal gesagt, Sie hätten eine Nase für Talente. Welche Talente haben Sie in den letzten beiden Jahren an der Straßburger Oper am meisten beeindruckt?

Clémeur: In „Le Monde“, der wichtigsten französischen Zeitung, hat vor einem Jahr ein Kritiker über unsere „Ariadne auf Naxos“ geschrieben, dass die Zerbinetta mit einer drittklassigen Soubrette besetzt war. Diese „drittklassige Soubrette“ Julia Novikova hat darauf den Wettbewerb von Placido Domingo gewonnen und an seiner Seite in dem neuen „Rigoletto“-Film die Gilda gesungen. Nun ist sie die Königin der Nacht im Ensemble der Wiener Staatsoper. Ich denke, dass ich da beispielweise eine gute Nase gehabt habe. Ich entdecke auch nicht immer Sänger, ich bringe manchmal auch bereits bekannte Sänger zu bestimmten Rollen. Stéphane Degout beispielsweise hatte bisher vor allem Mozartpartien gesungen wie Papageno oder Guglielmo. Ich habe ihm gesagt, dass er nun reif sei für das romantische Repertoire. In der vergangenen Saison hat er bei uns nun ein fulminantes Rollendebüt als Hamlet gegeben. Ich habe ihn also nicht entdeckt, sondern an ein neues Repertoire herangeführt.

Kultur Joker: Und welches Regietalent hat Sie am meisten beeindruckt?

Clémeur: Unsere beste Produktion war meiner Meinung nach Rameaus „Platée“, die Mariame Clément inszeniert hat. Deshalb habe ich ihr in der kommenden Saison den „Rosenkavalier“ anvertraut. Und in der Spielzeit 2012/13 wird sie die „Zauberflöte“ bei uns machen. Auch sie habe ich nicht entdeckt, aber ich gebe ihrem großen Talent den nötigen Raum. Niemand ist komplett neu. Als ich Robert Carsen wegen meines Puccini-Zyklus’ angefragt hatte, arbeitete er gerade an einer studentischen Produktion. Natürlich war Carsen auch zu dieser Zeit nicht gänzlich unbekannt. Aber als Intendant kann man Talente auf ein anderes Niveau heben.

Kultur Joker: Die nächste Spielzeit beginnt mit der Uraufführung von „La Nuit de Gutenberg“ von Philippe Manoury.

Clémeur: Als ich vor vier Jahren zum Intendanten der Straßburger Opéra national du Rhin ernannt wurde, hatte ich bereits die Idee, einen Kompositionsauftrag zu vergeben, der eng mit der Geschichte Straßburgs zu tun haben sollte. So kam ich auf Gutenberg, der in Straßburg den Buchdruck erfunden hat. Von Philippe Manoury hatte ich vor rund zehn Jahren die Oper „K…“ nach Kafkas „Prozess“ in der Bastille gesehen und war sehr angetan davon. In „La Nuit de Gutenberg“ geht es um die Frage: Wie hat die Schrift die Welt verändert? Das beginnt bei Hieroglyphen in Mesopotamien und endet in der Gegenwart bei der Kommunikation im Internet, wo die Verpackung oftmals viel wichtiger ist als der eigentliche Inhalt. Manoury nennt das den „Fetischismus der Schrift“. Es wird viel elektronische Musik integriert. Und auch Videokunst spielt in der Produktion eine wichtige Rolle. Aber es ist eine große Oper für Chor, Orchester, Solisten etc.

Kultur Joker: Auf was freuen Sie sich besonders in der kommenden Spielzeit – und warum?

Clémeur: Das ist schwierig zu sagen. Die Frage ist so ähnlich wie: Welche Schallplatten würden Sie auf die einsame Insel mitnehmen? Ich würde gerne drei Titel nennen. „La Nuit de Gutenberg“, weil es eine Uraufführung ist und ich das sehr wichtig finde, „Farnace“, weil wir mit einer besonderen Regisseurin, Lucinda Childs, die eigentlich Choreographin ist, eine Barockoper erarbeiten. Und natürlich freue ich mich ganz besonders auf den „Rosenkavalier“ von Mariame Clément.

Philippe Manoury: La Nuit de Gutenberg, Uraufführung. 24. September, 20 Uhr, Opéra national du Rhin, Strasbourg, Saisoneröffnung.