Im Gespräch: Udo Lindenberg, Rock ’n‘ Roller und nationale Ikone (Archiv, 2017)
Anlässlich seines 75. Geburtstages (17. Mai 2021) haben wir eines unserer Interviews mit dem Panikrocker Udo Lindenberg aus dem Archiv ausgegraben. Happy Birthday, Udo!
Udo Lindenberg ohne Zigarre? Nie. Rauchend wurde der Erfinder der Paniksprache zum beliebtesten Sänger Deutschlands, zu einer nationalen Ikone. Die Zigarre blieb sein Leuchtfeuer und Markenzeichen, als Rauchen in Deutschland schon längst geächtet war. Für ihn ist sie sowas wie Salat. Auch mit 70 ist der schnoddrige „Panikpräsident“ noch politisch unkorrekt, authentisch, schräg, kreativ und originell. Just wurde er mit einem Bambi in der Kategorie „Musik National“ geehrt, die Laudatio hielt niemand Geringeres als Sting – auf deutsch. Olaf Neumann traf Udo Lindenberg in Hamburg an der Bar des Atlantic Hotels und sprach mit ihm über seine neue CD, DVD und Blu-ray „Stärker als die Zeit – Live“, Altern in Würde und die panischen Zeiten, in denen wir gerade lebe
Kultur Joker: Ihr letztjähriges Stadiondoppelkonzert in Leipzig kam unter dem Titel „Stärker als die Zeit – Live“ in den Handel. Was macht diesen Auftritt für Sie so besonders?
Udo Lindenberg: Im Leipziger Stadion hatten wir viermal 50.000 Leute, insgesamt 200.000. Es gibt zwar auch andere Panik-Hauptstädte, aber Leipzig ist eine besondere Panik-Hauptstadt. Die jahrzehntelange Connection und Vertrautheit miteinander ist sehr tief. Auch wegen der Brücken, die wir schon immer gebaut haben: „Rock‘n‘Roll Arena in Jena“, „Mädchen aus Ostberlin“, der ganze Kampf gegen die Mauer, die Montagsdemos und so. Also der Aufstand für den anderen Lifestyle. In Leipzig gibt es viele ähnliche Biografien. Die Leute dort haben ein unheimliches Temperament und gehen ab wie die Zäpfchen. Aber sie sind in ihrer Liebe und Treue total tief. Diese Verbundenheit und Energie trägt durch solch eine dreieinhalbstündige Show. Wir haben uns auch
bewusst ein Konzert am Ende der Tour ausgesucht, wo dann auch alles steht. Bei so einer Show gibt es ja ständig etwas zu verbessern, zum Beispiel an der Flugtechnik, bis alles gut läuft.
Kultur Joker: Warum macht man Live-Alben?
Lindenberg: Also, diese DVD ist eine Live-Trilogie über drei Jahre, es sind auch Teile aus anderen Shows dabei. Mit Gästen wie Eric Burdon, Clueso, Helge Schneider, Stefanie Heinzmann, Deichkind, Westernhagen, Stefan Raab, Bryan Adams, Otto, Klaus Doldinger, Max Herre. Das ist immer so eine Art Familientreffen, das Publikum feiert Kindergeburtstag. Leicht besoffene Kinder, die richtig abheben und ihre Lebensfreude feiern trotz der Schräglage der Welt. Dazu haben wir auch wieder Songs wie „Wozu sind Kriege da“ oder „Kosmosliebe“, wir singen ja über das gesamte Leben und dazu gehören auch stille Dinger, wo es dann um alles geht. Natürlich mit entsprechenden Statements gegen Rechtsradikal, Linksradikal und so weiter.
Kultur Joker: Ist die Bühne für Sie das wirkliche Leben?
Lindenberg: On stage bin ich am meisten lebendig. Das ist mein Eldorado. Wenn ich da so rausgehe auf die Bühne mit der Panikfamilie, dann spüre ich, das ist hier mein echtes Zuhause. Egal, wo wir gerade spielen. Ich habe das früher schon geahnt, aber so bewusst wurde es mir eigentlich erst während der Riesentourneen dieser drei Jahre.
Kultur Joker: Auf Tour spielen Sie jeden Abend eine dreistündige Show. Wie oft und intensiv trainieren Sie?
Lindenberg: Man nennt mich auch einen kenianischen Langstreckenläufer oder eine flinke Gazelle. Eine Show ist natürlich auch eine sportliche Angelegenheit. In den Monaten vor einer Tournee und immer mal wieder zwischendurch bin ich in den Nächten irgendwo unterwegs und jogge. Damit ich mich nicht verlaufe, trage ich meine grünen Leuchtsocken. Mit diesem Navigator renne ich eine Dreiviertelstunde durch die Städte. Meistens mit Kumpels und manchmal auch alleine. Dann mache ich Sit-Ups und so. Denn du musst dich tausendprozentig auf deinen Body verlassen können. Wenn du da in dein Ufo-Gerät einsteigst, dann kannst du nie sagen: „Heute habe ich einen leichten Hänger“. Deswegen wird eisenhart trainiert.
Kultur Joker: Das war bei Ihnen nicht immer so. Ihr gemessener Rekordpromillewert lag bei 4,7, schreibt Benjamin von Stuckrad-Barre in seinem Lindenberg-Lexikon. Wie überlebt man das?
Lindenberg: Mein Body kennt das auch anders, nämlich, als ich ihn wie einen Hund hinter mir hergezogen habe. „Komm, Scheiß-Body, wir gehen Ballern und nehmen alles Mögliche ein, bis der Arzt kommt“. Das kennt mein Body auch. Und jetzt freut er sich, dass ich ihn gut behandele. Deswegen singe ich „Mein Body und ich“. Ich bedanke mich auf diese Weise bei meinem Körper, dass er diese ganzen Exzesse durchgemacht hat und wir überhaupt immer noch leben. Die meisten Rock‘n‘Roller sind mit 70 platt. Radieschen gucken, ne.
Kultur Joker: Heute sagt Ihr Kardiologe über Sie: „Udo Lindenberg ist ein vorbildlicher Patient“. Wie viel Zeit verbringen Sie bei Ärzten?
Lindenberg: Ja, ja, Ärzte treffe ich schon öfter Mal. Mit einigen bin ich sogar gut befreundet und wir unternehmen zusammen irgendwelche Reisen. Oder ich geh hier mal in die Praxis und hol mir ein paar Vitamine ab. Auf Tour hatten wir diesmal vier Ärzte dabei. Auch einen für den Hals, HNO und so. Vor dem Singen gurgele ich meist mit Eierlikör, für die raueren Songs nehme ich einen Schluck Whiskey. Meine Stimme ist ein bisschen wie ein Trecker, sie geht eigentlich immer. Ich wende überhaupt keine Gesangstechnik an, ich habe auch keine. Ich weiß gar nicht, wie das geht. Ich hatte nicht eine Sekunde Gesangsunterricht, ich singe einfach ungefiltert aus meiner Seele heraus. Direkt der Straßensound. Das die Stimme jetzt so ist, ist eine feine Sache. Ist natürlich auch gekommen durch Rauchen, Ballern, Saufen und das Betrachten des Lebens aus dem Underground. Und dann ist da noch ein Arzt für die Knochen, ein Fußballdoktor, der hier reichlich rumschleudert. Die Gazelle rennt ja auf diesen relativ langen und breiten Bühnen. Da darf der Sänger eben nicht breit sein. Und ansonsten ist eigentlich alles klar. Die beste Droge ist jetzt die Bühne, dieser Rausch. Schall und Rausch, ne.
Kultur Joker: Kennen Sie stimmliche Krisen?
Lindenberg: Nee, da war noch nie was. Ich hatte aber alkoholbedingte Krisen, ich war hauptberuflich Schluckspecht. Ich habe die Alkoholwissenschaften studiert. Scheiße bauen, Streiche spielen. Ich wollte mich nach vorne trinken und gucken, was hinterm Horizont für neue Texte kommen. Oder wie ich mich demnächst auf der Bühne sehe. Bin ich vielleicht so eine Art Chansonnier meinem Alter entsprechend? Irgendwann habe ich gedacht, das ist Quatsch. Ich bin hauptsächlicher Rock‘n‘Roller und auch ein bisschen ein alter Jazzer. Rock‘n‘Roll ist zeitlos. Deswegen werde ich auch mit 80, 90 oder 100 noch auf die Bühne gehen. Rock‘n‘Roll hält gut frisch. Das hat Sting neulich bestätigt, hat er auch gut gesagt, ne. Alter kennen wir nicht, es ist eine Zahl von der Firma scheißegal. Ansonsten gilt die Devise: Alter steht für Radikalität und Meisterschaft.
Kultur Joker: Mit Ihren Stadionkonzerten wollten Sie Maßstäbe setzen. Wie viel Aufwand betreiben Sie jetzt für die kommende Hallentournee?
Lindenberg: Wir werden noch ein paar mehr Songs spielen aus der neuen Studioplatte „Stärker als die Zeit“. Ansonsten wird es ein ähnliches Programm wie bei der Stadiontour, aber auch mit ein paar neuen Showbildern. Nach dem letzten Leipzigkonzert wollten wir eigentlich aufhören, aber dann sagten wir uns mit dicken Krokodilstränen: „Das kann noch nicht aufhören, es muss doch weitergehen“. Wir lieben diese Art zu leben einfach zu sehr, das zusammen unterwegs sein mit einer Panikfamilie. Das ist eine Art WG, weißte. Das ist für uns wie eine Droge. Wir wissen, dass das Publikum das Udopia genauso braucht wie wir. Sonst kommen die auf Entzug und hängen durch. Auch in Gegenden, wo wir noch nicht waren, in Meck-Pomm, in Schwerin, in Freiburg, in Mannheim und so, nicht wahr.
Kultur Joker: Was ist der Sinn des Lebens?
Lindenberg: Ja, für mich sind das Erkenntnisse. Wie man mit Kunst weiterkommt und was sie bewirken kann. Sprache, Worte, Gedanken, Visionen können einem Power geben. Die sind nicht nur von mir, sondern auch von Freunden. Ich debattiere mit vielen Leuten über Texte und gesellschaftliche Entwicklungen, auch Politik. Als jemand, der in den Medien viel zu Wort kommt, kann ich für das ein oder andere Thema sensibilisieren. Um die bunte Republik Deutschland weiter nach vorne zu puschen. Ich bin für eine Welt ohne Mauern, Abgrenzung und Nationalstaatlichkeit und für das Aufdecken der Verbrechen der Waffenlobby und der Rüstungsindustrie in Deutschland, Amiland und Russland.
Kultur Joker: Viele Menschen wollen gar keine Zusammenhänge mehr verstehen.
Lindenberg: Vor dem Hintergrund dieser ganzen Kriminalität und Waffenproduziererei bauen die ihre Inszenierungen, im Nebel der Propaganda geht vieles wieder unter. Irgendwann weiß man gar nicht mehr, welches Elend die Waffen in Syrien, Jemen und Sudan eigentlich anrichten. So lange man dem Wahn des Hasses auf Fremde oder Ungläubige nachhängt, lacht eigentlich nur die Waffenindustrie. Alle anderen wie Kinder und Frauen leiden. Ahnungslose junge Soldaten werden bis an die Zähne hochgerüstet für die Nato-Osterweiterung. Putin dreht irgendwann ab und macht bedrohliche Dinge, damit haben die Amis einen Grund, einen Raketengürtel dahinzubauen. Irgendwann bauen sie den vielleicht sogar rund um die USA und sagen: „Die ganze Welt ist so im Arsch, lass die doch machen, was sie wollen!“ Der Rückfall in die Nationalstaatlichkeit ist schlimm.
Kultur Joker: Angela Merkel strebt eine vierte Amtszeit als Kanzlerin an. Wie finden Sie das?
Lindenberg: Ich finde das gut, weil sie Moral und Mitgefühl zeigt und sich dazu bekennt. Es waren nicht nur die kalten Fakten, die sie dazu bewogen haben, die Grenzen zu öffnen, sondern es war auch ihr Mitgefühl. Denk an Budapest. Da waren Menschen eingepfercht wie Tiere, die wollte sie nicht zurückschmeißen in die Hände des Isis oder in die ausgebombten Städte wie Aleppo und Homs. Das kann man nicht machen, wir müssen das geregelt kriegen. Bei der Einwanderung sind natürlich Fehler passiert, man hatte nicht mit so vielen Menschen gerechnet. Aber sie sind jetzt dabei, es unter Kontrolle zu kriegen. Jedenfalls hat Frau Merkal Mitgefühl gezeigt für die Menschen in Notsituationen knapp am Tod vorbei. Deswegen finde ich sie gut als Politikerin.
Kultur Joker: Was würden Sie ihr raten?
Lindenberg: Sie sollte mehr zu den Menschen sprechen. Hingehen und mit den Leuten reden. In der AfD sind nicht nur Nazis, da versammeln sich viele, die sich von der Regierung nicht mehr wahrgenommen fühlen und Ängste haben. Links- und Rechtsradikale sollen hingegen die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen. Wir müssen zusehen, dass uns die Demokratie nicht irgendwann flöten geht.
Kultur Joker: Es gibt sehr viele Menschen, die überhaupt keine Erwartung mehr an Politik haben und deshalb die AfD wählen. Was können Künstler da ausrichten?
Lindenberg: Wir können die Menschen sensibilisieren. Auch Grönemeyer bezieht Position, Bono, Bryan Adams, Sting und Springsteen tun dies international. Es könnten noch ein paar mehr Künstler aus anderen Genres einsteigen. Zum Beispiel aus der Schlagerecke. Das ist keine Forderung, sondern die Äußerung eines Wunsches. Kultur und Politik schließen sich nicht aus. So wie damals mit Willy Brandt und Egon Bahr bei der Ostpolitik oder der Anti-AKW-Bewegung mit den Grünen. Aber es muss auch Politiker geben, die in der Lage sind, zu den Menschen zu sprechen. Und zwar in einer Art und Weise, dass man sie auch versteht. Und nicht Politologendeutsch vom EU-Kommissar mit der neuesten Schraubennorm. Da müssen schon Leute kommen, die gut schnacken können.
Kultur Joker: Wer ist dazu in der Lage?
Lindenberg: Gregor Gysi ist ein Sprecher, der einen antörnt. Davon gibt es nicht viele. Dann schon eher bei den Musikern. Solange die Politiker es nicht hinkriegen, muss ich selber in die Politik einsteigen mit der Panikpartei, ne. Aber ich will erst noch ein bisschen weitermachen mit der Musik und die Kultur weltweit erforschen. Bis ich dann vielleicht mit 75 ready bin für das Amt des Präsidenten in Deutschland.
Kultur Joker: Was würde dann anders werden?
Lindenberg: Es gäbe keine Militärparaden mehr. Es wäre sehr preiswert für das Volk, weil dann das Schloss Bellevue nicht mehr bezahlt werden müsste. Wir haben ja hier das weiße Schloss Atlantic. Autos und Bodyguards haben wir auch selber. Es ist eigentlich alles da, alles cool. Die Meetings und Beratungen des Bundespräsidenten finden dann an der Bettkante statt wie früher die Levers in Kreisen des Hochadels. Da kommt dann ein anderer Politikstil rein.
Kultur Joker: Sie sind in rebellischen Zeiten aufgewachsen. Gegen was rebellieren Sie heute?
Lindenberg: Gegen das Wegducken und Anpassen. Ich plädiere für die Individualität und dafür, dass jeder sein Ding macht. Scheiß egal, was die anderen sagen und mit freundlicher Absprache mit den Andersdenkenden. So, dass man gemeinsam gute geile Sachen hinkriegt. Dass man sich nicht anpasst und den ganzen Fashion-Scheiß mitmacht, sondern in seiner Selbstfindung und -erfindung wie ein Leuchtturm in der Gegend steht. Als wichtigen Beitrag für die ganzen Menschen. Ich erfreue mich an jedem Paradiesvogel jenseits vom normalen Mitgelatsche.
Kultur Joker: Wir danken Ihnen für das Gespräch!
Bildquellen
- Udo Lindenberg: © Tine Acke