Christliche Fanatiker auf dem Vormarsch?
Im Gespräch: Matthew Sutton, Historiker an der Washington State University
Über wichtige – und für uns Europäer zum Teil befremdliche – Vorgänge in den USA erfahren wir wenig, etwa über den Aufstieg und den Einfluss der religiösen Rechten auf die Politik. Damit beschäftigt sich der Religionshistoriker Matthew Sutton, Lehrstuhlinhaber für Geschichte an der Washington State University und Autor des vielbeachteten Standardwerks „American Apocalypse: A History of Modern Evangelicalism“. Aktuell arbeitet Sutton an einem Buch mit dem Titel „FDR´s Army of Faith: Religion and Espionage in World War II“ und gibt zudem die Aufsatzsammlung „American Faith in the New Millennium“ heraus. Kürzlich hielt er auf Einladung des Carl-Schurz-Hauses an der Universität Freiburg den Vortrag „Der ‚Antichrist‘ und der Aufstieg der christlichen Rechten in den USA“. Zusammen mit dem Übersetzer Georg Zipp befragte unsere Mitarbeiterin Cornelia Frenkel den Historiker.
Kultur Joker: Herr Sutton, als Religionshistoriker analysieren Sie in Ihrem Buch „American Apocalypse“ die Geschichte des Aufstiegs der christlichen Rechten in den USA. Sie legen dar, wie evangelikale Prediger jede Problematik und Krise als bevorstehenden Weltuntergang deuten?
Matthew Sutton: In den Vereinigten Staaten gibt es, wie Sie sicher wissen, seit langem eine enge Verbindung zwischen Religion und Politik. Die Trennung von Kirche und Staat hat auf dem Schauplatz religiöser Ideen eine rege Auseinandersetzung entstehen lassen; viele Gruppen ringen hier um Einfluss. In meinem Buch konzentriere ich mich vor allem auf eine dieser Gruppen, auf die evangelikalen Christen, die in jüngster Vergangenheit zu einem Rechtsruck der amerikanischen Gesellschaft beigetragen haben. Was mich ursprünglich zu dieser Studie bewogen hat, war die Frage, warum diese Fundamentalisten und ihre evangelikalen Erben dem amerikanischen Staat kritisch und ablehnend gegenüber stehen.
Kultur Joker: Ein Aspekt an deren Einstellung scheint Ihnen ganz besonders fragwürdig?
Matthew Sutton: Vor allem in Zusammenhang mit den Debatten um die Reform unseres Gesundheitssystems während des letzten Jahrzehnts habe ich immer wieder darüber nachgedacht, warum sich die evangelikalen Christen so zahlreich dagegen sträuben, ein staatliches Gesundheitssystem zu befürworten. Ich kann noch begreifen, warum sie die Demokraten kritisieren, weil diese die Rechte von Homosexuellen unterstützen sowie für die Möglichkeit von Schwangerschaftsabbruch eintreten. Ich begreife aber in gar keiner Weise, warum man als konservativer bibeltreuer Christ dagegen sein kann, dass die Gesundheitsfürsorge verbessert wird. Mein Buch ist eine ausführliche Antwort auf diese Frage.
Kultur Joker: Wie lässt sich die Theologie dieser „konservativen Christen“ resümieren?
Matthew Sutton: Kurz gesagt, sind die radikalen Evangelikalen Anhänger der apokalyptischen Theologie, die sich in den 1880er und 1890er Jahren entwickelt hat; sie kommen zu dem Schluss, dass alle Staaten am Zeitenende die Macht einer totalitären politischen Führungsperson überantworten – diese sei der Antichrist. Falls man also glaubt, in dieser Art von Endzeit zu leben und meint, dass dieses Ereignis immer näher komme, dann wird plausibel, dass man mit Misstrauen und Ablehnung auf alles schaut, was aus evangelikaler Sicht Rechte und Freiheiten des Einzelnen zu beschneiden und dem Staat mehr Macht zu geben scheint.
Kultur Joker: Sie haben aufgezeigt, wie diese rechtspopulistischen Untergangsprediger nicht nur für Ronald Reagans Triumph 1980 mitverantwortlich waren, sondern 2010 auch für den Erfolg der erzkonservativen Bewegung „Tea Party“, die Barack Obama einen permanenten Machtkampf liefert. Dem US-Präsidenten wird das Regieren schwer gemacht?
Matthew Sutton: Nicht unbedingt, zumindest ist es für Barack Obama nicht schwieriger als für jeden anderen Präsidenten. Dies liegt einerseits an unserer ausgeklügelten politischen Verfassung – Dissens, Meinungsvielfalt und Widerstreit unterschiedlicher Interessen sorgen dafür, dass es ein derart lebhaftes und spannungsgeladenes System ist. Gewiss haben Reagan und Bush die Ideen bestimmter religiöser Aktivisten auf ihre Weise benutzt, aber Präsident Obama lässt sich auf die Worte und Taten religiöser Aktivisten ebenfalls ein. Religion ist einfach zentral für die Ideologie und Philosophie aller amerikanischen Politiker. Die tatsächliche Frage lautet aber: auf wessen Religion wird man sich gegebenenfalls und zu welchem Zweck berufen? Hier gerät Obama mit den evangelikalen Christen in Konflikt. Denn er ist der Meinung, dass der Staat eine wichtige Rolle im Leben der Amerikaner spielen sollte, und die meisten Evangelikalen glauben, wie Reagan, dass der Staat eher das Problem als die Lösung darstelle.
Kultur Joker: Das Vokabular dieser Prediger ist simpel, wendet sich gegen Säkularisierung, Gottlosigkeit, Sittenverfall und Zerstörung der Familie; woher kommt es, und ähnelt es nicht anderen religiösen Wahnsystemen?
Matthew Sutton: Vielleicht ist es eher als populistisch zu charakterisieren, im Sinne von “den Leuten verständlich”; ich bin mir nicht sicher, ob ich es als fanatisch oder simplistisch bezeichnen würde. Die Evangelikalen sind seit über hundert Jahren Meister darin, ihre Religion den Massen zugänglich zu machen. Sie nehmen komplizierte Ideen und machen diese für Millionen von Menschen verständlich. Das ist Teil ihres Erfolgsrezeptes. Praktisch alle bedeutenden Fundamentalisten, evangelikale Prediger, Radioevangelisten und in Zeltmissionen praktizierende Anhänger der Erweckungsbewegung haben die Parusie – „The Second Coming of Christ“ – ins Zentrum ihres Wirkens gestellt, und manche Evangelisten wie Hal Lindsey und Tim La Haye haben ihre apokalyptischen Überzeugungen in Bestsellern einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Sie schüren unermüdlich die Hoffnungen und Ängste der Gläubigen und halten diese kontinuierlich auf dem Siedepunkt.
Kultur Joker: Radikale Priester wie Billy Sunday oder Billy Graham erreichten über Radioübertragungen ein Millionenpublikum. Warum erhalten diese ein Forum für ihre Zwangsvorstellungen? Gibt es keine Mediengesetze, die das verhindern?
Matthew Sutton: Einer der zentralen Gedanken des öffentlichen Lebens in den USA ist – zumindest wie ich es verstehe – dass Meinungs- und Religionsfreiheit zu den Grundwerten gehören. Daher steht es mir, oder der Regierung, auch nicht zu, Ideen zu zensieren, von denen ich meine, sie seien zu beanstanden. Insofern geht es eher darum zu akzeptieren, dass man in einer dynamischen Gesellschaft lebt, in der Vorstellungen und Meinungen öffentlich dargelegt, diskutiert und auch entlarvt werden, aber eben niemals zensiert. Außerdem haben religiöse Aktivisten oftmals ihre eigenen Formen neuer Medien geschaffen. In den 1920er Jahren haben sie Radiosender gebaut, in den 1970ern gehörten sie zu den ersten, die das Satellitenfernsehen vorantrieben, und sie haben sich das Internet geschickt zu Nutze gemacht.
Kultur Joker: Eine Gruppe apokalyptischer Untergangsprediger konnte nach und nach Einfluss auf das politische Zeitgeschehen nehmen. Waren diese zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht auf die abgelegenen Südstaaten beschränkt?
Matthew Sutton: Wie ich in meinem Buch zu zeigen versuche, war die fundamentalistische Macht ursprünglich im urbanen Norden und Westen am größten. Die Urgroßväter und – mütter der Evangelikalen, diejenigen Männer und Frauen also, die im frühen 20. Jahrhundert den Begriff „Fundamentalismus“ geprägt haben, um die Rückkehr zu den Grundlagen, zu den „Fundamenten“ des christlichen Glaubens zu beschreiben, dachten, dass sie in einer nach-christlichen Zeit leben. Sie glaubten, dass die Welt auf eine Reihe katastrophaler Ereignisse zusteuert, die in der biblischen Prophezeiung bereits beschrieben worden sind. Sie waren davon überzeugt, dass die Apokalypse kommen würde. Und zwar bald. Ihre Zeit war also im Begriff abzulaufen und so dachten die Gläubigen, es sei von größter Bedeutung, wie sie jede Minute ihres Lebens verbringen. Anders als Mainstream-Protestanten gingen sie nicht davon aus, dass ein gerechteres und heiliges Königreich Gottes auf Erden im Entstehen sei. Stattdessen lehrten sie, dass der Heilige Geist bald die Welt dem Antichrist übergeben werde, einem teuflischen Weltpolitiker, der einer fürchterlichen Katastrophe vorausgeht; im Zuge dieser Katastrophe hätten dann die wahren Gläubigen, die noch nicht in den Himmel entrückt sind, endlose Qualen zu erleiden.
Aber genau dann, wenn alle Hoffnung für die noch auf der Erde verbliebenen Menschen vergebens erschiene, würde, laut den Fundamentalisten, Jesus mit einer Armee von Heiligen auf die Erde zurückkehren, um den Antichrist in der Entscheidungsschlacht von Armageddon zu besiegen. Sein Sieg würde Gott den Weg ebnen, um ein Jahrtausend des Friedens und des Wohlstands zu begründen, einen neuen Himmel und eine neue Erde. Als Konsequenz daraus haben Fundamentalisten und ihre evangelikalen Nachfolger stets gepredigt, das Ende sei nahe.
Kultur Joker: Wie lässt sich der Erfolg solcher Vorstellungen (die mir als Interviewerin extrem phantasmagorisch vorkommen) erklären?
Matthew Sutton: Die Evangelikalen berufen sich immer auf die schrecklichsten Ereignisse der vergangenen anderthalb Jahrhunderte, diese seien der Beweis für den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang. Leider verdankt sich ihr Erfolg nicht zuletzt vielen weltweit folgenreichen Umständen des 20. Jahrhunderts. Diese religiöse Bewegung hätte vielleicht auch einfach aussterben können, wie viele vorherige apokalyptische Bewegungen. Aber der Erste Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, der Zweite Weltkrieg, der Kalte Krieg und sodann Massenvernichtungswaffen, Erderwärmung und weltweite Epidemien scheinen alle die evangelikale Botschaft zu unterstreichen, dass das Ende nahe sei. Geschichtliche Ereignisse dienen also der Bestätigung dieser Endzeitstimmung.
Kultur Joker: Professor Sutton, wir bedanken uns für das Gespräch sowie für ihre erhellende Arbeit als Historiker.
Ich habe mehrere evangelikale Christen gekannt, und in meiner Erfahrung interessieren sie sich eher wenig für die Politik, gerade weil sie – in manchen Fällen – an eine bevorstehende Apokalypse glauben. Von daher finde ich den Titel des Interviews ziemlich alarmistisch. Die evangelische Kirche in Deutschland ist sehr politisiert, allerdings in eine eher linke Richtung, aber das scheint die Redakteure vom Kultur Joker nicht im geringsten zu stören.
Übrigens – wann haben Sie zum letzten Mal einen Zeitungsartikel gesehen, in dem von „muslimischen Fanatikern“ die Rede war?