LiteraturNachhaltig

Eine andere, eine bessere Welt ist möglich: Jürgen Grässlin porträtiert in seinem neuen Buch „Wie Lichter in der Nacht“ beispielhaft AktivistInnen, die durch ihr unerschrockenes Engagement die Welt ein Stück weit verändern

Dabei ist er selbst einer von ihnen. 1957 in Lörrach geboren und ab 1960 in Freiburg wohnend ist er seit Jahrzehnten wohl einer der bekanntesten Repräsentanten der deutschen Friedensbewegung. Er fungiert neben vielem anderen als erfolgreicher Autor zahlreicher Bücher und Publikationen, ist Sprecher der Kampagne „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“, Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Sprecher der Kritischen AktionärInnen Heckler & Koch und ist Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.). Zurecht erhielt er renommierte Friedenspreise, wie den Aachener Friedenspreis, den Marler Menschenrechtspreis von Amnesty International und den Grimme-Medienpreis. In Freiburg ist er als Teilnehmer oder Redner bei zahlreichen Friedensdemonstrationen und -kundgebungen sowie Veranstaltungen gegen rechts wohlbekannt.

Das Buch
Jürgen Grässlin führte mit insgesamt 24 auf verschiedensten Feldern international tätigen AktivistInnen Interviews – einige von ihnen agieren unter ständigem Einsatz des eigenen Lebens. Er zeichnet darauf basierend ein überraschendes Bild von den großen Erfolgen, die selbst Einzelne mit klugem, gezieltem und mutigem Einsatz herbeiführen können und wie sich daraus durch Vernetzung und/oder selbständige Organisation sogar ganze Bewegungen entfalten. Das gesamte Buch ist sowohl beim Autor wie den Interview-PartnerInnen trotz aller Schwierigkeiten und Bedrohungen von einer positiven, auf eine bessere Zukunft verweisenden Tonalität erfüllt und von Grässlin selbst treffend als „Mutmachbuch“ charakterisiert. Diese begründete Zuversicht fesselt und überträgt sich wie von selbst auf die Lesenden und kann leider in einer eher essenziellen Rezension nur unzureichend wiedergegeben werden. Desgleichen muss sich die Vorstellung der Porträtierten schon aufgrund ihrer Zahl und der Komplexität ihres Wirkens leider auf ein Minimum beschränken und erfolgt – anders wie im Buch – zu ähnlichen Themenbereichen zusammengefasst.

Frieden und Menschenrechte
Innocent Opwonya wurde im Grundschulalter in Uganda bei einem Überfall auf sein Elternhaus von einem Kommando der „Lord Resistance Army“ (LRA) als Kindersoldat zwangsrekrutiert. Sein Vater wurde dabei erschossen. Die LRA befand sich als indigen christlich orientierte Widerstandsarmee im Kampf mit den ugandischen Regierungstruppen mit dem Ziel der Errichtung eines Gottesstaates in Uganda und angrenzenden Territorien in Zentralafrika auf Basis der Zehn Gebote. Opwonya wurde im Laufe der Zeit an einem G3-Schnellfeuergewehr (Hersteller Heckler & Koch) ausgebildet und musste sich an allen Schrecklichkeiten dieses Krieges beteiligen. Unter schwierigsten Umständen gelang ihm nach Jahren die Flucht und mit Hilfe der Kinderrechtsorganisation „Terre des Hommes Deutschland“ landete er in Osnabrück. Er entwickelte sich zu einem Kriegs- und Waffengegner, verfasste ein autobiografisches Buch über sein erlebtes Schicksal und versteht sich als aktiver Botschafter des Friedens. Als solcher beteiligt er sich an internationalen Kampagnen von Friedens- und Menschenrechtsorganisationen und legt seinen Schwerpunkt auf das Eintreten für die Rechte von Kindern in Kriegsgebieten, auch in seiner alten Heimat.
Aung Myo Min ist seit Mai 2021 Menschenrechtsminister im Kabinett des National Unity Governments (NUG) von Myanmar (ehemals Birma), der im Untergrund tätigen Gegenregierung zum brutal herrschenden Militärregime in der Hauptstadt Naypidaw. Nur zwei Monate davor hatte sich die Militärjunta an die Macht geputscht und die demokratisch gewählte Regierung unter Führung der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi vertrieben. Die Junta unterdrückt seither den demokratisch denkenden Teil der Bevölkerung und viele ethnische und soziale Minderheiten mit der Gewalt der Waffen.
Neben seinem Ministeramt in der NUG kämpft Aung Myo Minh als Geschäftsführer der größten Menschenrechtsorganisation „Equality Myanmar“ (EQMM). „Ich vermittle Wissen über Menschenrechte und gebe Impulse, sich selbst zu engagieren“. Noch einmal: Dies alles im Untergrund und unter Lebensgefahr!
Rotem Levin und Osama Eliwat waren einmal Todfeinde. Rotem (Israeli) kämpfte in einer militärischen Eliteeinheit und Osama (Palästinenser) in der militanten palästinensischen Befreiungsorganisation PLO. Keiner hatte sich mit der Situation des anderen und den Beweggründen des jeweiligen Handelns beschäftigt, beide waren sie in ihrer herrschenden Doktrin gefangen. Dann trafen sie sich auf unterschiedlichen Wegen im Westjordanland im Umfeld der „Combatants for Peace“ (CfP), einer Basisbewegung von Israelis und Palästinensern mit dem Ziel, gemeinsam für ein Ende der Besatzung zu kämpfen. Sie lernten, den anderen zu verstehen, die jeweiligen Vorurteile zu überwinden und sich schließlich gemeinsam als Freunde für eine friedvolle, möglichst gemeinsame Zukunft beider Seiten zu engagieren. Seitdem reisen sie als CfP- Repräsentanten zusammen durch die Welt und vermitteln mit Vorträgen, Filmen und in Diskussionen ihren Traum für ein gemeinsames Morgen in ihrer Heimat.

Soziale Gerechtigkeit und Gleichheit
Martin Kolek übt den Beruf eines Psycho- und Diplom- Musiktherapeuten für Kinder und Jugendliche aus, hat aber noch ein anderes Leben und dieses hat mit Wasser und Seefahrt zu tun. Er erwarb sich sehr verschiedene Segel- und Bootsführerscheine und ließ sich in Seenotrettung ausbilden. Und erfuhr auf einer Überquerung des Atlantiks per Segelschiff vom Untergang eines Bootes mit Hunderten von Flüchtlingen vor Lampedusa. Er wollte helfen und wandte sich an „Sea-Watch e.V.“ und wurde dort als zweiter Schiffsführer auf dem Rettungsschiff Sea-Watch 2 eingeteilt. Er erlebte bei Einsätzen die Behinderung von Rettungsaktionen durch Schiffe der Küstenwache, deren Hauptaufgabe nicht die Rettung der Menschen, sondern die Verhinderung der Anlandung war. Gleichwohl gelang die Rettung vieler Menschen, andererseits mussten auch immer wieder Leichen Ertrunkener geborgen werden. Um letzteren wenigstens ein Andenken zu bewahren initiierte er die Errichtung eines „Friedhofs der Vergessenen“ in Armo (Reggio Calabria), in dem bis heute die Leichen Ertrunkener begraben und namentlich benannt werden. Kolek ist bis heute im Rahmen der Aktivitäten des von ihm mitgegründeten Vereins RESQSHIP neben seinem Hauptberuf alljährlich eine Zeit auf See um Geflüchteten in Seenot zu helfen und auf deren Schicksal aufmerksam zu machen.
Prof. Dr. med. Gerhard Trabert war der erste Straßendoc in Deutschland, was man in Kenntnis seines akademischen Titels kaum vermutet. Aber seine Dissertation handelt über die „Gesundheitssituation und medizinische Versorgung von wohnungslosen Menschen“. Deren bedauernswertes Schicksal im Hinblick auf ärztliche Versorgung kannte er aus einer dafür erhobenen Studie. Bei einem Aufenthalt in Indien beeindruckten ihn indische Ärzte, die nicht warteten, bis Patienten zu ihnen kamen, sondern selbst in die Community gingen und vor Ort PatientInnen untersuchten und behandelten. Daraus und im Hinblick auf seine eigenen Erfahrungen entwickelte er nun selbst ein „aufsuchendes Konzept“ und begann in Mainz direkt zu den Wohnungslosen zu gehen. Dem anfänglichen Widerstand der Bezirksärztekammer gegen sein Konzept begegnete er mit einer Informationsoffensive bis hinauf zur Landesregierung. Mit Unterstützung mehrerer NGOs konnte nach einem Jahr die kassenärztliche Genehmigung durchgesetzt werden, die benachteiligte Klientel medizinisch zu versorgen. Nun konnte er Rezepte, Überweisungen, Einweisungen etc. offiziell ausstellen und die Leistungen über das System abrechnen. Über den von Trabert gegründeten Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland e.V“ konnten weitere Sozialarbeiter und Mediziner für sein Konzept gewonnen werden und inzwischen erleichtern von Trabert konzipierte wohlausgerüstete Arztmobile die Arbeit vor Ort.
Jürgen Neitzert ist Bruder im Franziskanerorden in Düsseldorf und lebt die konsequente Nachfolge seines Ordensstifters Franz von Assisi. Die Franziskaner verstehen sich als „Minderbrüder“, d.h. als Diener für ihre notleidenden Mitmenschen. In der Stadt der Reichen und Superreichen arbeitet Neitzert maßgeblich in einer Suppenküche, in der an fünf Tagen in der Woche bis zu 200 Obdachlose, Geflüchtete aus vielen Ländern und andere Bedürftige ein komplettes warmes Mittagessen einnehmen können. Ebenso konsequent setzt er sich für Frieden und Gerechtigkeit ein. Als Gründungsmitglied des Vereins „Pro Humanitate“ leistet er seit 1996 humanitäre Hilfe im Kurdengebiet der Türkei oder in den in jüngster Zeit entstandenen Erdbebengebieten und arbeitet als Mitglied des Komitees „Gerechtigkeit und Frieden“ des Weltordens der Franziskaner. Er versteht diese Arbeit durchaus politisch und unterstützt oder organisiert Aktionen gegen Waffenexport in Krisengebiete namentlich auch gegen den in Düsseldorf ansässigen Rüstungskonzern Rheinmetall. Darüberhinaus organisert er mit anderen zusammen die Verhinderung von problematischen Abschiebungen zum Beispiel von Kurden, Afghanen, Irakern oder Jesiden durch Kirchenasyl, was sich in einer rechtlichen Grauzone bewegt und er dabei selbst verhaftet werden kann. Als wäre dies nicht genug engagiert sich Neitzert noch in dem von ihm mitgegründeten „Düsseldorfer Bündnis für eine gerechte Gesellschaft“, um direkt auf die sozialpolitische Stadtpolitik Einfluss nehmen zu können.

Rückgrat gegen rechts
Dass sich in Deutschland eine rechte Formierung ausbreitet, zeigt sich nicht nur an den Erfolgen der AfD. Noch vollzieht sich die Praxis dieser Partei überwiegend in der Öffentlichkeit und ist somit relativ einfach zu beobachten. Darüberhinaus gibt es aber noch eine vielfach im Untergrund agierende offen faschistische Subkultur, die von ehemaligen NPD-Resten über eine Fülle von Nazi-Punk-Bands, informellen Kampfgruppen bis zu den Reichsbürgern reicht. Dass über diese Szene überhaupt verlässliche Informationen bekannt sind – dafür haben vor allem die Filmemacher Peter Ohlendorf und Thomas Kuban gesorgt. Letzterer agiert unter diesem Pseudonym, weil er sich als Undercover-Neonazi und vermeintlicher Rechtsrockfan Zugang zu zahlreichen geheimen Musikveranstaltungen der Szene in Hinterhöfen, Scheunen, Festzelten oder Gasthaus-Hinterzimmern verschafft und mit einer getarnten Minikamera in Stecknadelkopfgröße über neun Jahre hinweg deren Gebaren und Rituale gefilmt hat. Sein umfangreiches Material zeichnet ein umfassendes Bild des rechtsradikalen Sumpfes, der sich unverhohlen in die Tradition des Hitlerfaschismus stellt und ein neues Viertes Reich anstrebt. Seine Recherchen hat er in dem Buch „Blut muss fließen“ (eine Zeile aus einem gern und oft gesungenen Lied in der Szene) zusammengefasst.
Peter Ohlendorf hat 2012 über Thomas Kuban und mit dessen und eigenem Filmmateriel unter demselben Titel einen umfangreichen Dokumentarfilm produziert. Beide versuchten, ARD und ZDF für ihr brisantes Thema zu interessieren – leider ohne Erfolg. Ohlendorf griff zur Selbsthilfe, gründete die Netzplattform „FilmFaktum“ und tourt seit mehr als zehn Jahren mit großem Erfolg in Kooperation mit interessierten Organisationen, Verbänden, Initiativen oder Schulen durch die Republik und schafft dadurch eine breite Gegenöffentlichkeit. Das ist nicht ungefährlich. Eine Vorführung in Bautzen in der Lausitz musste durch die Polizei abgesichert werden.
Zumindest in der Oberlausitz geht es aber auch anders: Dort im Dreiländereck Deutschland, Polen, Tschechien hat Sven Kaseler zusammen mit Gleichgesinnten im November 2000 in Zittau den Verein „Augen auf e.V.“ gegründet. Seitdem sind er und seine MitstreiterInnen vielseitig aktiv, um Demokratiebewusstsein, Toleranz und Zivilcourage in Ostdeutschland zu befördern und dem sich ausbreitenden Alltagsrassismus, Chauvinismus und Rechtsextremismus entgegenzuwirken. Die Vereinsevents gestalten sie volksnah, denn sie sollen bei aller Mühe Veranstaltenden und TeilnehmerInnen Spaß machen. So organisiert der Verein zum Beispiel seit Jahren das Fußballturnier „Fußball grenzenlos“ mit Migranten aus verschiedensten Ländern sowie tschechischen und polnischen Mannschaften. Diese und viele weitere Events haben den Verein im ganzen Osten bekannt gemacht. Dazu gehören auch gemeinsame Schulbesuche mit Peter Ohlendorf und seinem antifaschistischen Film. Bei einer Aufführung in Weißwasser, der Geburtsstadt von AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla gab es allerdings großen Ärger, als ultrarechte Jugendliche die Veranstaltung niederbrüllten. Und trotzdem gehen beide unverdrossen weiter ihren Weg.

Das positive Leben im Widerstand erfahren
Diese exemplarischen Beispiele zeigen – wie auch bei allen weiteren Porträtierten –, dass es ein richtiges und vor allem erfülltes Leben im falschen geben kann und das entschlossene gesellschaftspolitische Engagement schon Einzelner Wirkmächtigkeit ähnlich dem berühmten Schmetterlingseffekt entfalten kann. Sie verstehen sich alle nicht als EinzelkämpferInnen, sondern suchen bewusst den solidarischen Zusammenschluss – in welchen Formen auch immer – und sind darin höchst erfolgreich.
Diesen Zusammenhang unterstreicht Jürgen Grässlin auch mehrfach mit eigenen Erfahrungen und Reflexionen aus seinen Aktionsfeldern. Eine wissenschaftliche Untermauerung erfährt jener gesellschaftsverändernde Dipol durch das kluge Nachwort von Dr. Inka Engel, Referentin für Transfer und Wissenschaftskommunikation an der Universität Koblenz. Darin begründet und fordert sie ein „grenzenloses Wir in einer grenzenlosen Welt“ in Form eines neuen „Netzwerks für eine bessere Welt“.
Ein hochgradig motivierendes, durchweg ermutigendes Buch für alle Menschen, die entweder selbst bereits aktiv geworden sind oder es werden wollen.

Am 23.01., 19:30 Uhr (Schloss Ebnet) und am 24.02., 20 Uhr (Kommunales Kino Freiburg), liest Jürgen Grässlin aus seinem Buch.

„Wie Lichter in der Nacht“. Jürgen Grässlin, Heyne Verlag.

Bildquellen

  • „Wie Lichter in der Nacht“. Jürgen Grässlin,: Heyne Verlag.
  • Jürgen Grässlin: © Waldemar Konietzko