Moderne Ideen von gestern: In Baden-Baden zeigt das Museum LA8 die Ausstellung „Heilende Kunst. Wege zu einem besseren Leben“
Kein Alkohol, kein Nikotin, kein Fleisch, diese Ideen wirken modern. Aber schon der Künstler Karl Wilhelm Diefenbach predigte im 19. Jahrhundert die gesunde Ernährung und gründete eine der ersten Künstler-Hippie-Kommunen, bevor er 1913 auf Capri an Krebs starb. Das Museum LA8 in der Kurstadt Baden-Baden beleuchtet in der Schau „Heilende Kunst. Wege zu einem besseren Leben“ noch bis zum 12. Januar die spannenden Ideen, Experimente und Kunstwerke, die bereits um 1900 das verhandelten, was heute Thema ist.
Ein Leben umgeben von Natur mit selbstgezogenem Gemüse zum Beispiel. Dazu ein Fitnessprogramm und Kunstkurse. Diese Mischung aus Öko und Retreat richteten der reiche Erbe Henri Oedenkoven und die Pianistin Ida Hofmann als Sanatorium auf dem Monte Verità bei Ascona am Lago Maggiore anno 1900 ein. In der Ausstellung zeigen Fotos teils skurril anmutende Szenen mit Frischluftbädern und Ausdruckstanz. Ein Blatt listet das umfangreiche Angebot an Kunstkursen auf. Man sollte sich von den Rauschebärten, dem Freikörper-Gemüseanbau und den an Passionsspiele erinnernden Gewändern nicht täuschen lassen, auf dem Monte Verità traf sich die internationale Avantgarde. Auch Berühmtheiten wie die Ausdruckstänzerin Mary Wigman gaben dort im Sommer Tanzkurse. Dass man die FKK-Kultur lieber im sonnigen Italien als im kalten Deutschland pflegte, überrascht nicht.
Künstlerkolonien mit weniger radikalem Heilsanspruch florierten ebenfalls zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Gemälde von Vertretern der Künstlerkolonie in Grötzingen bei Karlsruhe machen deutlich, welche Bedeutung die Natur für sie hatte. Von kraftvoll rot leuchtenden Tulpen in der Vase über blühende Wildblumenwiesen am Bach bis zum Hirsch an einem nebligen Herbsttag, namhafte Künstler wie Friedrich Kallmorgen, Otto Fikentscher und deren Künstler-Ehefrauen Margarethe Hormuth-Kallmorgen und Jenny Fikentscher schufen in ihren Werken eine idealisierte Natur, deren Schönheit die gestresste Seele heilen sollte. Dazu gehörte das Leben außerhalb der Großstadt, in kleinen Orten wie Grötzingen oder Worpswede.
Bis in die 1930er Jahre hinein beschäftigten sich Künstler, Mediziner und Philosophen mit dem ganzheitlichen Ansatz. „Heilende Kunst“ wirft einen Blick auf die Gedankenwelt Rudolf Steiners, dessen Anthroposophie noch Joseph Beuys beeinflusst hat. Aus der Sammlung des Heidelberger Psychiaters Hans Prinzhorn sind Werke von Else Blankenhorn zu sehen, bei der Prinzhorns kunsttherapeutischer Gedanke auf Talent traf. Bei Frida Kahlo war Kunst überlebensnotwendig. Ihr in der Schau gezeigtes Selbstporträt offenbart die Schmerzen, von denen die mexikanische Malerin seit einem schrecklichen Busunfall 1925 gequält wurde. Auf dem Bild stecken Nägel in ihrer Haut, durch den offenen Oberkörper sieht man eine gebrochene Säule, die für ihre Wirbelsäule steht.
Sich selbst eine angenehme, gesundheitsfördernde Umgebung zu schaffen, trieb den Künstler Heinrich Vogeler dazu, die Villa „Barkenhoff“ zu einem Gesamtkunstwerk auszugestalten, innen wie außen. Die Schwarz-Weiß-Fotos aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg vermitteln nur einen unzureichenden Eindruck von Vogelers Zuhause. Dafür überzeugen die farbig gezeichneten Entwürfe der Jugendstil-Wohnkultur mit eleganten, hellen Möbeln in großzügigen Räumen. Eines ist auch klar, damals wie heute waren solche maßgeschneiderten Domizile nur Wohlhabenden zugänglich. Dasselbe gilt für die Aussteigerkolonien wie die auf dem Monte Verità am Lago Maggiore, irgendwo muss das Geld für das ganzheitlich gesunde Leben an angenehmen Orten herkommen. Versiegte der Geldfluss, war nicht nur der Monte Verità schnell Geschichte. Das Spannende an dieser Schau sind die zahlreichen aktuellen Bezüge, die sich geradezu aufdrängen. Leben in naturnaher Umgebung, gesunde Ernährung, Verzicht auf Nikotin und Alkohol, Bewegung, die Suche nach Selbstverwirklichung, die Ablehnung der Industrialisierung, alles, was die vor über 100 Jahren als „Kohlrabi-Apostel“ verspotteten Künstler-Propheten verkündeten, wird heute wieder gepredigt und gern auch gelebt. „Heilende Kunst“ beleuchtet alle Seiten der „Wege zu einem besseren Leben“, inklusive der Nähe mancher Seitenwege zu völkischem Denken.
Heilende Kunst. Wege zu einem besseren Leben. Museum LA8, Lichtentaler Allee 8a, 76530 Baden-Baden, Di-So 11-18 Uhr. Bis 12.01.25
Bildquellen
- Else Blankenhorn: „200 SEIDUBLONEN“, 1908-1919, Inv.Nr. 1891c: © Sammlung Prinzhorn, Universitätsklinikum Heidelberg
- Luft- und Sonnenbäder, o.D.: © Fondazione Monte Verità