Die Meisterin der Performancekunst: Das Kunsthaus Zürich widmet Marina Abramović eine große Retrospektive
Im Altbau des Kunsthauses Zürich findet die erste umfassende Retrospektive der Künstlerin Marina Abramović in der Schweiz statt. „Seelenstriptease einer lebenden Legende“ titelte das Schweizerische Tagblatt anderntags. Abramović, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Belgrad als Tochter zweier hochdekorierter Partisanen geboren wurde, wuchs bei ihrer streng gläubigen Groβmutter auf. Bereits mit 17 Jahren durfte sie sich in die Serbische Akademie der Künste einschreiben. Zunächst studierte sie Malerei: „Ich malte sofort nach dem Aufwachen, was ich geträumt hatte.“ Im Oktober 1971 begann sie im Kulturzentrum SKC in der „Gruppe der Sechs“, darunter ihr Ehemann Neša Paripović, mit ersten Aktionen. Sie installierte Boxen mit Vogelgezwitscher „The Tree“ und irritierte damit Passanten und Passantinnen. „… machen machen machen“ war die Devise der Künstlergruppe.
Abramović ist eine Pionierin der Performancekunst des 20. Jahrhunderts und heute mit 78 Jahren eine „an die Energie des Publikums“ glaubende Lehrerin für ihre individuell zusammengestellten Heilmethoden. Für junge Menschen sogar eine Art Kultfigur. In der Ausstellung werden sechs Performances von 24 streng gebrieften, aus 850 Bewerbungen ausgesuchten BewerberInnen inszeniert, sogenannte Re-Performances. Wie „Imponderabilia“, 1977 von Ulay und Abramović in Bologna aufgeführt: Frau und Mann stehen einander an der Eingangstüre nackt und nah gegenüber, BesucherInnen werden aufgefordert, sich durchzuzwängen. Eine mögliche Aura, ein privater Raum wird dabei durchbrochen, falls diese überhaupt entstehen konnten. Die Arbeit entstand in enger Zusammenarbeit von Ulay und Abramović, die zwölf Jahre lang aus einer symbiotischen Beziehung bestand. „Rest Energy“ von 1980 war ein höchst gefahrvolles Anlegen eines Pfeiles auf das Gegenüber, das vier Minuten währte und ist wie „Rythm 0“ von 1974 fotografisch dokumentiert. 1959 hat Meret Oppenheim auf einem liegenden nackten Frauenkörper Früchte zum Essen arrangiert und 1964 die japanische Fotografin, Performancekünstlerin und Kämpferin für den Frieden Yoko Ono „One Farewell Concert: Strip Tease Show“ aufgeführt, wobei sie sich hinhockte und eine Schere danebenlegte. BesucherInnen durften Stücke ihrer Kleidung abschneiden und mitnehmen. Abramović übertraf sie alle, als sie 1974 in Neapel Gegenstände auf einen Tisch legte und sich zur willenlosen Marionette in eigener Verantwortung erklärte. Dabei lagen Messer, eine Pistole und eine Patrone, die ein Besucher lud und der Künstlerin in die Hand legte. Dies nach sechs Stunden. Die brutale Kämmaktion „Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful“, bei der die Künstlerin 1975 in einer Kopenhagener Galerie saß und ihre Haare aggressiv bis zur Selbstverletzung mit Kamm und Bürste bearbeitete, den titelgebenden Satz mantrisch wiederholte sowie Schmerzenslaute von sich gab, wird jetzt zu den Öffnungszeiten von einer jungen, dafür bezahlten Frau aufgeführt. Es ist eine Anweisung zur Selbstkasteiung und eines der widersprüchlichen Frühwerke aus einer 55-jährigen Schaffenszeit. Der Monate lange, mit den chinesischen Behörden vorbereite „The Lovers Great Wall Walk“ 1988 auf der chinesischen Mauer dauerte 90 Tage im einander Entgegengehen. Danach trennte sich das Paar Abramović und Ulay. Nach der Trennung suchte die Performerin Trost in transzendenten Erfahrungen. Sie lieβ sich von den Aborigines Australiens, von buddhistischen Mönchen in Tibet und von Schamaninnen in Südamerika in ekstatischen Verfahren unterweisen, um „Energien“ zu erleben, die sie in eine Form moderner Spiritualität zu übertragen begann. Das Verfahren erinnert stark an diejenigen in Ashrams der 1980 Jahre. Marina Abramović zählt, vor allem seit ihrer weltweit rezipierten Retrospektive 2010 im Museum of Modern Art in New York unter dem Titel „The Artist Is Present“, zu den bekanntesten Künstlerinnen. Dabei saβ eine Person ihr an neunzig Tagen stumm gegenüber. Zwei Wände voll Porträtfotografien in schwarz-weiβ von stets traurigen, oft weinenden Gesichtern zeugen in der Ausstellung davon. In der Autobiografie „Durch Mauern gehen“ „gewidmet meinen Freunden und Feinden“ lässt Abramović sich auf Seite fünf die Augen von einer Python verdecken, um schlieβlich in Hommage an die Heilige Theresa von Avila über dem Küchentisch zu schweben. Das opus magnum der 78-jährigen Künstlerin mit einem unnatürlich starren Gesicht speist sich aus drei sehr unterschiedlichen Quellen: einem (auto-) aggressiven, einem romantischen und einem esoterischen Impuls – wobei die Gewichtung sich über die Zeit stark zu Letzterem verschoben hat. Hierzu sind die BesucherInnen eingeladen, ihre bestrumpften Füβe in Kristalle zu stecken oder sich an solche anzulehnen, Badewannen voll Kamillenblütenduft nasal zu genieβen, unter einer Amethystgeode zu stehen und den „Inner Sky“ zu erfahren. Im Shop warten Mitbringsel vom T-Shirt bis zur Kaffeetasse im Sinne von „Art is Oxygene“, „Kunst ist wie Sauerstoff“ und eine limitierte Sonderedition. Beinahe geschäftsmäβig pries die Künstlerin an der Pressekonferenz mit suggestiver Stimme ihre im Alter erworbene Weisheit und schloss an, dass sie wie ihre Großmutter 103 Jahre werden will.
Marina Abramović. Kunsthaus Zürich, Heimpl. 1/5, Zürich. Bis 16.02.25
Bildquellen
- Ulay / Marina Abramovic: „Imponderabilia“, 1977, Galleria Comunale d’Arte Moderna, Bologna Fotos: Giovanna Dal Magro,: © Courtesy of the Marina Abramovic Archives / 2024, ProLitteris, Zurich
- Marina Abramovic / Ulay: „The Lovers“, The Great Wall Walk, März–Juni 1988, 90 Tage, Chinesische Mauer, China: © Courtesy of the Marina Abramovic Archives / 2024, ProLitteris, Zurich