Die Leichtigkeit der Schwerkraft: Emi Miyoshis Choreografie „Track“ ist auch ein Abend über das Funktionieren von Körpern
Mehrere Sandsäcke liegen auf zwei Ecken verteilt auf dem Tanzboden, der eine eigentümliche Patina zu haben scheint. Das Publikum von Emi Miyoshis neuester Choreografie „Track“ sitzt in Stuhlreihen einander gegenüber auf der Längsseite der Bühne. Der Weg, den die dreiköpfige Equipe Daniel Conant, Marcella Centenero und Anna Kempin über diese nehmen, scheint einiges abzuverlangen. Sie tragen solide wirkende Schuhe, Knieschoner, Breeches und Pullover in Erd- und Grautönen (Bühne und Kostüm: Domitile Guinchard). Als einer sich einen Sandsack nimmt, ihn hin und her schwingt, loslässt, treten die Gelenke in den Blick, ohne die unser Körper eben ungelenk wäre, die aber auch, indem sie Lasten ertragen, mitunter stark beansprucht werden und Training braucht. Was eckig aussieht, ermöglicht dem Körper erst seine Bewegungsfreiheit. Eine Tänzerin dreht sich um ihre eigene Achse mit dem Sandsack, der eine eigene Laufbahn zu verfolgen scheint, die Fliehkräfte wirken auf den Körper zurück, die Drehung verändert sich. Eine zarte Staubwolke umhüllt die Tänzerin. Und dann wandert dieser von Körper zu Körper, neue Belastungspunkte bilden sich, eine Art Kontaktimprovisation unter erschwerten Bedingungen. Und einmal liegt einer der Sandsäcke im Schoß einer der Tänzerinnen wie eine reife Frucht.
In der guten Stunde, die „Track“ dauert, wird das Shibui Kollektiv alle denkbaren Bedeutungen des Titels durchspielen. Der Sand, der aus den geschulterten, geöffneten Säcken rieselt, legt eine Spur auf dem Boden aus. Wenn die beiden Tänzerinnen und der Tänzer die Säcke tragen, glaubt man einen Lebensweg vor sich zu sehen, der von harter, zerschleißender Arbeit geprägt ist. Manchmal ist da Kameraderie zu spüren, die aus Solidarität entsteht. Das Rieseln des Sandes erzeugt einen ganz eigenen Soundtrack, aber auch das Knirschen der Schritte auf dem Sand. Hinzu kommt überhaupt die Musik von Joël Beierer, die mal elektronisch, dann wie Freejazz klingt. Alles die Bühneninstallation, die Kostüme, der Sound und die Bewegungen fügen sich derart zusammen, dass nichts einander überlagert. „Track“ ist wie aus einem Guss und künstlerisch ausgereift.
Die Sandsäcke anfangs und ihre Wirkungen auf die Körper führen so auch das Thema der Schwere ein, der Gewichtverlagerung, der Last und die Gefahr des Fehltritts. Es geht sozusagen auf die Körper von Daniel Contant, Marcella Centenero und Anna Kempin über. Und natürlich spielt das Gehen dabei als grundlegendste und einfachste Form der Bewegung eine Rolle. Am humorvollsten zeigt sich das im skurril-innigen Pas de deux, bei denen erst Anna Kempin auf den Füßen von Daniel Conant steht und also nur einer den Boden berührt und sie ständig das Gleichgewicht neu justieren müssen. Dann wechseln sie die Rollen. Wie die beiden sich auf der Bühne drehen, springen und miteinander walzen hat durchaus etwas von Ballroom. Oder auch als die drei eng an eng hintereinander laufen und Kempin ihrem Vorgänger Conant die Finger in den Mund steckt und auf ihnen pfeift.
Und überhaupt reagieren die zwei Tänzerinnen und Tänzer aufeinander, sie kommunizieren auf der Bühne miteinander. Und was heißt schon einfache Bewegung? Soviel muss zusammenspielen, damit wir gehen können. Emi Miyoshis dreht hier an den Stellschrauben der menschlichen Anatomie. Was passiert, wenn der Schritt schleppend wird, was wenn er schneller und länger wird und wenn die beiden Tänzerinnen und der Tänzer zu Hebefiguren zusammenfinden oder sich fallen lassen? Die Antworten sind an diesem Abend vielfältig und beglückend.
Bildquellen
- Emi Miyoshis neue Choreografie feierte im Oktober Premiere: © Marc Doradzillo