KultourMusikVision

International vernetzt und unersetzlich: Das SWR-Experimentalstudio wird erhalten bleiben

Alles begann in Günterstal. Dort, im „Haus Kyburg“, das aus einer 1864 erbauten Getreidemühle am Bohrerbach seit dem späten 19. Jahrhundert zu einem noblen Gasthof samt Festsaal avanciert war und nach dem Zweiten Weltkrieg wechselreiche Nutzungen erfuhr – just dort mietete der Südwestfunk im Januar erste Räume 1949 an. 1957 erwarb der Sender den gesamten Gebäudekomplex und baute alsbald ein zweigeschossiges Studiohaus nebendran. 1992 wurde der Standort zugunsten der neuen, innenstadtnahen Heimat auf dem ehemaligen Mez-Areal in der Kartäuserstraße aufgegeben. Die „Kyburg“, sie stand merkwürdigerweise nicht unter Denkmalschutz, fiel übrigens zum Ärger der „ArGe Freiburger Stadtbild“ und der Bürger im Ortsteil dem Abriss zum Opfer und wurde später durch sechsgeschossige Wohnblocks ersetzt, die bald schon mit dem Begriff „Manhattan von Günterstal“ belegt waren.

Es kam die Geburtsstunde des Experimentalstudios. Der langjährige Chef der SWF-Musikabteilung Heinrich Strobel gründete 1968 eine eigene Stiftung, gleichsam die finanzielle Mutter des Projekts. Der erste, bedeutsame Kompositionsauftrag der Stiftung erging an Karl-Heinz Stockhausen (1928–2007), Pionier der elektronischen Musik: Die Arbeit „Mantra für zwei Pianisten, Woodblocks, Zymbeln, zwei Sinusgeneratoren und zwei Ringmodulatoren“ entstand, uraufgeführt 1970 bei den Musiktagen in Donaueschingen, Verschmelzung von 12-Ton-Musik und Live-Elektronik. Als offizielles Startdatum des Experimentalstudios gilt der 1. September 1971; erster Chef wurde Peter Haller, Erfinder des Ringmodulators als Schlüsseltechnologie in der Gründungszeit. Heute noch in lebhafter Erinnerung ist Detlef Heusinger, der von 2009 bis 2022 das Studio leitete. Joachim Haas, sein Nachfolger, formuliert sein Credo: „Eine ganz große Stärke ist unser Team, dessen Erfahrung, aber auch die Neugier und Kreativität: Büro und Produktionsplanung, Tonmeisterei, Klangregie, Musikinformatik und Komposition, alles ist vertreten und verzahnt.“

Das Besondere bleibt, dass die Führung der Einrichtung von Beginn stets in den Händen aktiver Musiker und renommierter Klangregisseure liegt. Für Laien mag es schwer dekodierbar sein, aber die Essenz besteht tatsächlich in der Vielfalt und Interdisziplinarität. Der elektronische Raumklang wurde praktiziert, lange bevor man von Dolby Surround wusste. Elektroniker und Musiker erarbeiten den Gesamtklang – ein auch in Zeiten der KI zukunftsweisende konzeptuelle Basis. Zu einer Art Schlüsselwerk des Hauses avancierte „Prometeo“ von Luigi Nono (1924–1990), eine Oper nach antikem mythologischen Stoff, in der Urfassung 1984 in Venedig unter Claudio Abbado mit Live-Elektronik aufgeführt, mit einem Bühnenbild zur Beförderung des Raumklangs von der Hand des Architekten Renzo Piano, dann neu aufgelegt bei der Ruhr-Triennale 2000 in der Bochumer Jahrhunderthalle – das Freiburger Studio war (natürlich) stets mit von der Partie.

Der Aktionsradius des Studios ist enorm, wie ein Blick in die jährlichen Programmhefte und Rechenschaftsberichte zeigt. Derzeit 9 Mitarbeiter*innen zählen zum Team; zwischen 15 und 20 Stipendiaten kommen pro Jahr, für jeweils bis zu 4 Wochen; dafür steht im Haus sogar eine Wohnung bereit. Ein Raum figuriert gleichsam museal, hier findet man die alten und großen analogen Geräte, mit denen auch Stockhausen und Nono noch arbeiteten – jetzt mittlerweile alles digital und en miniature vorzufinden. Das Juwel der Etage ist das größere der beiden Studios mit 180 qm Fläche: dort kann ein ganzes Ensemble proben, Aufnahmen realisieren, sogar kleinere Konzerte durchführen. Und das Studio wirkt neben der Produktion von Kompositionen seiner Gäste aus aller Welt auch als eigener Klangkörper, und zwar international, präsent bei der Biennale in Venedig, den Wiener Festwochen, den Salzburger Festspielen und darüber hinaus – auch das ZKM in Karlsruhe ist längst Kooperationspartner. Aktuell gastiert die Violinistin Patricia Kopatchinskaja; ihr Eindruck: „Als ich verstand, dass Elektronische Musik nichts Kaltes, Technisches sein muss, wurde mein Interesse geweckt …“.

Jetzt muss das einst neue SWR-Haus in der Oberau saniert werden. Noch ist unklar, welches Modell für die künftige Weiternutzung gewählt wird. Offenbar favorisiert man intern die Lösung eines kleineren Neubaus auf dem rückwärtigen Grundstück und zugleich die Erhaltung des „Schlossbergsaals“ als etabliertem Veranstaltungsort sowie des Experimentalstudios im Bestandsgebäude. Manche Unwägbarkeiten sind damit noch verbunden: Findet sich ein Käufer oder Mieter für die restlichen Räume des Vorderhauses? Kann dieses überhaupt erhalten bleiben? Wo und wie funktionieren Übergangsnutzungen während der mutmaßlichen Baumaßnahmen? Zudem müssen der Verwaltungsrat und die Finanzkommission des SWR (KEF) überhaupt erst noch unter finanziellem Gesichtspunkt entscheiden und zustimmen. Immobilien-Geschichte wiederholt sich jedenfalls mittlerweile in kürzeren Rhythmen. Eine Stimme von vielen: Georges Delnon, Intendant der Staatsoper Hamburg, bekräftigt: „Das SWR-Experimentalstudio steht für mich für die Verbindung von unglaublicher Kreativität und Know-how. Das macht es zu einer Goldgrube für Komponist*innen, zu einem unverzichtbaren Teil des gegenwärtigen Musiklebens.“ Das Experimentalstudio wird also bleiben, daran kann kein Zweifel bestehen.

Bildquellen

  • Alt und Neu, in digitaler Verknüpfung – Blick ins Studio: © M. Flashar