1944 – die beginnende Befreiung von der NS-Diktatur: Massaker im besetzten Frankreich – Gedenkfeiern nach 80 Jahren
In den heutigen Demokratien fehlt mitunter die Erinnerung an das Unheil, das Diktaturen mit sich gebracht haben. Vor allem aber wird vergessen, welch ungeheure Anstrengung es bedurfte, diese zu besiegen und Friedensschlüsse zu erreichen. Doch wie viele Opfer kostete etwa der Kampf gegen das NS-Regime, der 1944 systematisch einsetzte und nicht beendet war, als am 6. Juni 1944 ein alliiertes Expeditionskorps in der Normandie landete und bald auch Truppen die Provence erreichten. Ende August wird Paris befreit, dem Aufstand des französischen Widerstands kamen alliierte Truppen unter General Leclerc zu Hilfe. Indessen entwickelte sich die Schlussphase der Besatzung in Frankreich zu einer bürgerkriegsähnlichen Situation, auch die Miliz des Vichy-Regimes kämpfte gegen eine Zivilbevölkerung, die sich Hitlers Europa entgegenstemmte. Der Kriegsschauplatz im Westen, Frankreich und die Benelux-Staaten, wird im Blick auf die Vergangenheit oft ausgespart und das Hauptaugenmerk auf die Balkanländer, Polen und Russland gerichtet, verständlicherweise. Doch hatten die Kämpfe gegen die Westalliierten und den französischen Widerstand während der Jahre 1944/45 kriegsentscheidende Bedeutung. 80 Jahre sind seither vergangen. An zahlreichen Orten in Frankreich bleiben die Ereignisse lebendig und werden mit Gedenk-Veranstaltungen bedacht.
• 16.2. 1944 / Pont Lasveyras. In einem Dorf mit 370 Einwohner*innen, sechzig Kilometer von Limoges entfernt, erinnert an der dortigen „Moulin de la Papeterie“ ein Musée-Mémorial an folgende Ereignisse: Nachdem im Februar 1943 auf Druck der deutschen Besatzer der Zwangsarbeitsdienst STO eingeführt wurde, flüchteten junge Männer, die für deutsche Rüstungsfabriken arbeiten sollten, in den Widerstand. Die Armée Secrète (AS) beherbergte sie in einer stillgelegten Papiermühle am Pont Lasveyras, wo sie im Februar 1944 ein deutsches Kommando angreift: 34 Männer werden erschossen, 12 deportiert.
• 22.2. 1944 / Izon-la-Bruisse / Eygalayes. Auch sie werden nicht vergessen: Etwa zweihundert Männer des „Maquis Ventoux“ kampierten auf entlegenen Höfen des Dorfes Izon-la-Bruisse in der Gegend von Sisteron. Kam es zu Verrat? Im Februar 1944 überwältigte sie jedenfalls eine Spezialtruppe zur „Partisanenbekämpfung“ (SD der SS, Wehrmacht, Milice); 35 Männer werden sofort erschossen, einer konnte entkommen. Weitere Morde und Deportationen summieren sich zu 41 Opfern; sie waren STO-Verweigerer und Flüchtlinge aus ganz Europa, darunter sechs Juden. Zu ihnen gehörte Alfred Epstein aus Kenzingen in Baden.
• 1./2. April / Ascq. Ein weiteres Verbrechen, das vor Ort nachhaltig wirkt, verübten Teile einer Kompanie der 12. SS-Panzer-Division „Hitlerjugend“, indem sie 86 Zivilisten ermorden. Durch das Dorf Ascq, östlich von Lille gelegen, führt die Eisenbahnstrecke nach Belgien. Während deutsche Kompanien sich dem Bahnhof des Ortes näherten, um in die Normandie zu gelangen, erfolgt ein Anschlag auf den Zug, es entgleisen Waggons. Der Kommandeur des Transports, Walter Hauck, ordnete die Verhaftung aller Männer zwischen 17 und 50 Jahren an, 70 von ihnen werden sofort erschossen, sechzehn während der Durchsuchung des Dorfes.
• April – Juni 1944 / Tulle. Im Limousin formierte sich von Anfang an Widerstand. Bereits 1943 wird ein Mitglied der „Réseau Alliance“, Abbé Charles Lair, verschleppt und in Ludwigsburg ermordet; im April 1944 werden Gefangene vor Ort und am Mont-Valérien erschossen. Als nach Landung der Alliierten die „aufständische Phase“ der Résistance beginnt, greifen FTP-Einheiten eine deutsche Garnison an, weichen aber zurück. Doch am 8. Juni rückt die Waffen-SS Panzerdivision „Das Reich“ in Tulle ein, um es von „Partisanen zu säubern“, Wehrmacht folgt, um die „Beleidigung der deutschen Fahne“ zu sühnen. Am 9. Juni holen sie hunderte von Bürgern aus ihren Häusern und erhängen 99 Personen. Das transgenerationelle Gedächtnis ist damit geprägt.
• 10. Juni 1944 / Oradour-s-Glane. Am 10. Juni 1944 wird in Oradour bei Limoges eines der brutalsten Massaker verübt: eine Einheit der 2. SS-Panzerdivision „Das Reich“ tötete damals 643 Kinder, Frauen und Männer, erschoss sie oder sperrte sie in eine Kirche, die sie anzündeten. Die Ruinen des ausgelöschten Dorfes sind heute Teil einer dokumentarischen Stätte der Erinnerung. Der deutsche Politiker Fritz Körber bemühte sich seit den 1980er Jahren um Verständigung; 2013 begab sich Bundespräsident Joachim Gauck erstmals nach Oradour, um Verantwortung anzuerkennen. Die strafrechtliche Verfolgung scheiterte, doch die Traumata der Betroffenen sind auch nach 80 Jahren Thema und Gegenstand von Gedenkveranstaltungen.
• Juni – Juli 1944 / Vercors / Mont Mouchet. Ein unvergessenes Kapitel sind auch die Kämpfe auf dem Bergmassiv Vercors, das – zwischen Isère und Drôme – seit 1940 Rückzugsort für NS-Verfolgte war. Sukzessive sammelt sich hier bewaffneter Widerstand, unterstützt von den Westalliierten und de Gaulle; nach heftigen Gefechten mit deutschen Truppen werden die Aufständischen besiegt, mehr als 600 sterben. Verlustreiche Kämpfe finden in diesem Zeitraum auch um den Mont Mouchet in der Auvergne statt, wobei es Kräften des Widerstands und der militärischen FFI (Force Française de l’Interieur) gelingt, deutsche Divisionen zurückdrängen.
• 25. August / Maillé. Auch dieses Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung der Gemeinde Maillé, 30 Kilometer südlich von Tours, hat sich den Nachkommen eingeprägt Im Zuge der schweren Untat töten deutsche Soldaten 124 der etwa 500 Bewohner des Dorfes und zerstören danach den Ort. Das Massaker sollte angeblich einen Anschlag des französischen Widerstands auf Militärfahrzeuge vergelten. Der Fall ist juristisch aufgerollt worden, aber Tatverdächtige konnten nicht bestraft werden. Die Staatsanwaltschaft Dortmund stellte 2017 die Ermittlungen ein.
• November 1944 / St. Dié des Vosges. Die Stadt erleidet Deportationen und Zerstörungen. In den Wäldern und Bergen der Vogesen waren viele Menschen in der Résistance aktiv. Seit Ende September 1944 werden alle arbeitsfähigen Männer an den deutschen „Schutzwall West“/Vogesenlinie abkommandiert; am 8. November verschleppt man über 1.400 männliche Personen nach Mannheim zur Zwangsarbeit. Wehrmachtsvertreter, SiPo und Gestapo plündern die Bevölkerung, räumen am 9.11. die Stadtteile links der Meurthe, zwingen die Menschen auf das andere Flussufer und zünden den evakuierten Stadtteil an. Am 23.11. trifft die US-Armee ein und sieht sich konfrontiert mit einer obdachlosen Bevölkerung und Ruinenstadt.
Morde gegen Kriegsende in Elsass-Lothringen, Baden und Württemberg
• 1. April 1944. In Karlsruhe beginnt eine Mordserie an über 200 ins „Deutsche Reich“ verschleppte Mitglieder der „Réseau Alliance“ (auch „Arche Noah“ genannt); zuständig waren die Abwehrstellen der Wehrmacht in Dijon und in Straßburg. Nach Nacht-und-Nebel-Verschleppungen – aus Bordeaux, Toulouse, Paris, Lyon, Marseille und anderen Städten – in das Straflager Schirmeck-Vorbruck im annektierten Elsass sowie Gefängnisse in Baden, fanden 1943/44 Verhöre und Prozesse vor dem Reichskriegsgericht in Freiburg statt: es gab 58 Todesurteile, neun Freiheitsstrafen, keine Freisprüche. Mit dem Vorrücken der Alliierten wurden alle Angeklagten, die noch in Gefängnissen saßen, ohne Gerichtsverfahren in KZs verschleppt oder direkt ermordet: • 1.4. Karlsruhe (14 Morde) • 23.5. Ludwigsburg (16) • 31.8. Heilbronn (24) • 1./2.11. KZ Natzweiler-Struthof (107) • 14.11. Rastatt (12).
• 23.11.1944. Nachdem Straßburg befreit war, setzte die dortige Gestapo-Sektion unter Julius Gehrum, ihre Mordaktion auf der rechten Seite des Rheins fort und lässt in der „Schwarzwälder Blutwoche“ (23.- 30.11.) 70 Mitglieder der „Réseau Alliance“ ermorden: • 23.11. Kehl (9) • 27.11. Offenburg (4) • 28.11. Freiburg (3) • 29.11. Bühl (8) • 30.11. Pforzheim (25) • 30.11. Gaggenau (9). In Freiburg werden drei Franzosen vor der Justizvollzugsanstalt erschossen; eine Gedenktafel erinnert dort heute an Edouard Kauffmann, Emile Pradelle und Jean-Marie Lordey.
Die Mitarbeiter der „Alliance“ hatten sich als Nachrichtendienst betätigt sowie als Fluchthelfer für Kriegsgefangene, Deserteure und Zwangsarbeiter. An ihrer Verfolgung wird sichtbar, wie die Annexionsgebiete Elsass-Moselle dem NS-Regime als Drehscheibe dienten, um in ganz Frankreich Verbrechen zu verüben und diese zu verschleiern, u.a. durch Verschleppungen nach Schirmeck und in das KZ-Natzweiler. Mit der Einnahme von Colmar gelingt erst im Februar 1945 die Befreiung Frankreichs … womit nur die Spitze des Eisbergs benannt ist.
• www.gedenkorte-europa.eu • .cheminsdememoire.gouv.fr • .museedelaresistanceenligne.org/lieux/
• Marie-Madeleine. Fourcade. L’Arche de Noé. Réseau Alliance 1940-1945. Ed. Plon. Paris 1989
• NS-Justiz in Freiburg. Katalog zur Dauerausstellung im Amtsgericht. Thomas Kummle (Hg.). Rombach 2023
Bildquellen
- „Schwarzwälder Blutwoche“: Gedenktafel an der Rheinbrücke in Kehl zur Erinnerung an neun Mitglieder des Réseau Alliance, die am 23. November 1944 von der Gestapo ermordet wurden: © Ctruongngoc via wikipedia
- Oradour sur Glane: © TwoWings via wikipedia