„Verfallskunst“, „Raubkunst“, „Fluchtgut“, „NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter“ – Provenienzforschung und Restitution
Zum Thema Kunst in der NS-Zeit werden seit einigen Jahren immer neue Kapitel aufgeschlagen, Museen sehen sich gezwungen, ihre Bestände zu überprüfen, indessen sich weltweit Gemälde und Kulturgüter Rückgabeansprüchen stellen müssen. Was ist „Raubkunst“, „Fluchtgut“, was darf als „NS-verfolgungsbedingt entzogen gelten“? Mit der Bezeichnung „artfremd“ oder „Verfallskunst“ stigmatisierte das NS-Regime jede Kunst, die ihren Vorstellungen nicht entsprach; im Sommer 1937 wurden so über 21.000 missliebige Werke aus Museen angeprangert und beschlagnahmt. Über viertausend dieser Gemälde, Skulpturen und Papierarbeiten wurden für „international verwertbar“ erklärt, also geeignet gegen Devisen ins Ausland verkauft zu werden; viele wurden verbrannt. Für das Verbliebene wurden offiziell vier Kunsthändler ernannt, darunter Hildebrand Gurlitt und Karl Buchholz, die in diesem Bereich, der auch den Kunstraub in NS-besetzten Ländern einschloss, weiter Geschäfte machen durften.
In den Jahren 2017/18 befassten sich zwei Ausstellungen mit Kunst, die in der NS-Zeit entwendet wurde, das Kunstmuseum Bern unter dem Titel „Bestandsaufnahme Gurlitt. Entartete Kunst – beschlagnahmt und verkauft“, die Bundeskunsthalle Bonn mit „Der NS-Kunstraub und die Folgen“. Aus gegebenem Anlass wurde der Bildungsbürger Hildebrand Gurlitt (1895-1956) untersucht, den die Alliierten 1947 als „unbelastet“ einstuften; denn seine Sammlung von rund 1500 Kunstwerken gelangte im Erbgang an seinen Sohn Cornelius Gurlitt (1932-2014), der das Kunstmuseum Bern als Erbe einsetzte. Dieses hat bei Annahme des Legats mit der BRD vereinbart, dass in der Schweiz nur Werke übernommen werden, bei denen kein NS-Raubkunstverdacht besteht. So präsentierte Bern zunächst aus seiner Abteilung für Provenienzforschung, die das Legat Gurlitt dokumentiert, rund 150 Werke mit unanfechtbarer Eigentumssituation, darunter Papierarbeiten der Neuen Sachlichkeit (Dix, Grosz), Aquarelle und Gemälde aus dem Umkreis der „Brücke“ (Heckel, Schmidt-Rottluff, Otto Mueller) und des „Blauen Reiters“ (Marc, Macke, Kandinsky), zudem Gemälde von Liebermann, Corinth und Cézanne. Die Bundeskunsthalle Bonn konzentrierte sich hingegen unter dem Titel „Der NS-Kunstraub und die Folgen“ mit 250 Exponaten auf Werke, die „NS-verfolgungsbedingt entzogen“ worden waren sowie auf Bilder ungeklärter Herkunft. Anhand von Briefen, Geschäftsbüchern und Biografien verfolgter Sammler wurde der Kunstraub in besetzten Gebieten sowie Gurlitts zwiespältige Rolle untersucht. Sechs Werke konnten damals als Raubkunst identifiziert und vier zurückgeben werden; u.a. wurde die Herkunft eines „Damenporträts“ von Thomas Couture geklärt, es gehörte ehemals dem Politiker Georges Mandel, den die Nazis 1944 ermorden ließen. Zukünftig soll für Werke mit lückenhafter Provenienz „eine für NS-Opfer fairere Lösung“ gelten, d.h. freiwillige Rückgabe ist möglich. Zusätzliche Ergebnisse präsentierte Bern 2022/23 mit „Gurlitt. Eine Bilanz“ und publizierte diese in dem gewichtigen Band „Kunst, Konflikt, Kollaboration. Hildebrand Gurlitt und die Moderne“, ediert von der Berliner Forschungsstelle „Entartete Kunst“.
NS-Verwertungsstrategien und „Rettern der Moderne“
Mit der Publikation „Kunst, Konflikt, Kollaboration“, u.a. betreut von der Provenienz-Forscherin Nikola Doll, die als unabdingbares Standardwerk der Provenienzforschung gelten darf, werden Fragen der Verwertungsstrategie sogenannter „Verfallskunst“ analysiert sowie u.a. die „Entlastungskartelle“ ausgeleuchtet, die bis weit in die westdeutsche Nachkriegszeit hinein funktionierten. Verschiedene Forschungsberichte zeigen, dass vom Raubzug während der NS-Zeit bis zur späteren Rehabilitierung der Akteure Kontinuität bestand. Hildebrand Gurlitt konnte sich nach 1945 als „Retter der Moderne“ darstellen und seinen Handel nahtlos weiter betreiben; die Politik der Nazis wurde widerspruchslos verdrängt. Erst Jahrzehnte später rückten forcierte Debatten, etwa um die Verstrickung von Schweizer Banken in den Handel mit Raubgut und die Erforschung der Wehrmacht-Verbrechen, auch die Vernichtung und Verwertung moderner Kunst durch das NS-Regime in den Blick.
Mit der 2003 in Berlin gegründeten „Forschungsstelle Entartete Kunst“, in deren Schriftenreihe „Kunst, Konflikt, Kollaboration“ erschienen ist, ist erstmals eine fachhistorische Erforschung der NS-Kunstpolitik etabliert worden. Unbestritten ist, dass die Aktion „Entartete Kunst“ eines der vielen „Mittel der antisemitischen Propaganda war und vorrangig die NS-Verfolgungspolitik stützen sollte“, zeigt Gesa Vietzen auf. Hitler forderte bei Eröffnung der „Deutschen Kunstausstellung“ in München (1937) einen „unerbittlichen Säuberungskrieg gegen die letzten Elemente unserer Kulturzersetzung“; dies entspricht der Rhetorik, mit der insgesamt die Vernichtung von Jüdinnen und Juden durchgeführt worden ist. Zudem treten hier die Prinzipien der NS-Verfolgung deutlich zu Tage, nämlich „Unerwünschte“ auszugrenzen, während man sich an ihnen bereichert. Auch Gurlitt konnte das System nutzen, bevor er sich zum „Retter der Moderne“ erklärte, so Nikola Doll in ihrem Text „Das Narrativ der Rettung“. Festzuhalten ist zudem, dass die Ausgrenzung während der NS-Zeit nach dem Krieg quasi zum Qualitätsmerkmal geriet; die 1953 in Luzern gezeigte Ausstellung „Deutsche Kunst, Meisterwerke des 20. Jahrhunderts“ hat diese Sichtweise nachhaltig befördert. Viele in der Schweiz ansässige Galeristen und Sammler machten das währungsstarke Land zu einer „neuen Heimat der modernen Kunst“; ein Großteil der über 20.000 Werke, die ab 1938 verkauft wurden, gelangte nach 1945 in die Schweiz. Nikola Doll resümiert: „Unter dem überwältigenden Narrativ ihrer Rettungen trat die Verbindung von Kunst- und Verfolgungspolitik, aber auch von Raub im Nationalsozialismus in der öffentlichen Wahrnehmung zurück.“
Kunstmuseum Basel: „Zerrissene Moderne“
Nachhaltig hat sich kürzlich das Kunstmuseum Basel mit seiner Historie auseinandergesetzt, indem die Ausstellung „Zerrissene Moderne“ die Ankäufe des Hauses in der NS-Zeit untersuchte: Nachdem seit 1933 und verstärkt ab 1937 tausende Werke moderner Kunst als „entartet“ diffamiert und aus deutschen Museen entfernt wurden, suchte das NS-Regime diese, falls „international verwertbar“, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg gegen Devisen ins Ausland zu verkaufen. 1939 erwarb so der damalige Museumsdirektor Georg Schmidt (1896–1965) 21 bedeutende Werke. Im Ausstellungskatalog “Zerrissene Moderne“ zeichnen Expert:innen die historischen Zusammenhänge in allen Facetten nach. Ausgehend von den Beschlagnahmungen in deutschen Museen werden die Akteure der Institutionen und des Handels vorgestellt, darunter die Galerie Fischer in Luzern; zudem wird offengelegt, wie der kulturpolitische Gewaltakt des NS-Regimes die moderne Kunst zerrissen hat, indem er sie in „Verwertbares“ und „Zerstörbares“ einteilte. Zwischen Georg Schmidt und dem jüdischen Kunstkritiker Paul Westheim, der in Paris im Exil lebte, gab es damals einen Briefwechsel. Schmidt sah seine Ankäufe als Akt der „Bewahrung“, was nicht ganz von der Hand zu weisen ist, denn eines der Bilder, die er erwerben wollte, nämlich Otto Dix „Schützengraben“, von den Nazis als „gemalte Wehrsabotage“ angeprangert, gelangte nicht nach Basel und ist heute verschollen – nicht das einzige Gemälde, dem es so erging.
Kunsthaus Zürich: Sammlung Bührle und „verfolgungsbedingter Verlust“
Gefordert sieht sich in diesem Zusammenhang nicht zuletzt das Kunsthaus Zürich; durch die Sammlung Bührle, seit 2021 in einem Neubau von David Chipperfield ausgestellt, ist es in die Kritik geraten. Mittlerweile ist der Historiker Raphael Gross als unabhängiger Experte berufen worden, der die Qualität der bisherigen Provenienzforschung überprüft und neue Empfehlungen geben soll, wenn Handlungs- und Forschungsbedarf in Bezug auf verfolgungsbedingte Verluste von Kunstwerken besteht. Das Kunsthaus erkennt die „Ethischen Richtlinien“ für Museen des internationalen Museumsrats (ICOM) an, die „Washingtoner Prinzipien“ von 1998 und deren „Folgeerklärung von Terezín“, die den Begriff „Raubkunst“ um „NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter“ und „verfolgungsbedingte Verluste“ erweiterte, d.h. auch Verkäufe von Kunstwerken durch Emigrant:innen untersucht, die in Drittländern stattfanden, also außerhalb des direkten NS-Machtbereichs, aber nichtsdestotrotz in fluchtbedingten Notlagen.
Christie’s London
Ebenfalls sieht sich das Auktionshaus Christie’s in London in der Pflicht, es hat nun eine eigene Abteilung zur Restitution von NS-Raubkunst und lancierte Anfang 2023, aus Anlass des 25. Jahrestags der „Washington Conference Principles on Nazi-Confiscated Art“, die Veranstaltungsreihe „Reflecting on Restitution“. Ende 2022 hatte der Historiker Julius H. Schoeps, mit zwei weiteren Erben des Bankiers Paul Mendelssohn-Bartholdy, eine Klage beim Bundesgericht in Illinois eingereicht; von einer japanischen Versicherungsgesellschaft fordern sie die Rückgabe von Vincent van Goghs Gemälde „Sonnenblumen“ (oder Schadenersatz); ihr Vorfahr sei genötigt gewesen, das Bild aufgrund der Nazi-Politik zu verkaufen. Die Versicherungsgesellschaft hatte das Gemälde 1987 bei einer Auktion von Christie’s erworben und lehnt die Forderungen bislang ab.
Kunstmuseum Stuttgart
Es bleibt spannend, begeben wir uns zum „Geheimnis des Stuttgarter Kunstschatzes“: Aus Anlass des „Tags der Provenienzforschung“ sprach der Historiker Kai Artinger am 17. April im Kunstmuseum über die millionenschwere Sammlung des Fabrikanten Moses Moritz Horkheimer (1858–1945), die in der NS-Zeit „verloren“ ging; unter teils ungeklärten Umständen hatte er sich davon trennen müssen. Sein Sohn Max Horkheimer (1895–1973) suchte ab 1949 nach den Bildern, u.a. von Picasso, Braque und Chagall; doch sein langwieriges Unternehmen brachte kein Werk zurück. Auch über dieses konkrete Beispiel hinaus setzt sich das Kunstmuseum Stuttgart mit Provenienzforschung auseinander.
Mehr als achtzig Jahre danach bleibt die barbarische „Misshandlung“ von Kunst und Literatur, Künstlern und Sammlern während der NS-Zeit weiterhin Thema; zu den Vertreibungen und Zwangsverkäufen kommen Plünderungen in besetzten Ländern sowie Verschleppungen von Archivmaterial etwa durch den „Einsatzstab Rosenberg“. Nicht alle Objekte konnten nach dem Krieg von der amerikanischen und russischen Besatzung in Depots wiedergefunden werden. Weiterhin sind also viele Geschichten von Menschen, Händlern und Werken zu erforschen, wobei sich nicht selten noch die Frage nach Original und Fälschung stellt, insbesondere wenn die Objekte der Begierde für schwindelerregende Summen die Besitzer wechseln.
● Nikola Doll, Uwe Fleckner, Gesa Jeuthe Vietzen (Hg.): Kunst, Konflikt, Kollaboration. Hildebrand Gurlitt und die Moderne. De Gruyter, Berlin 2023
● Zerrissene Moderne. Die Basler Ankäufe „entarteter“ Kunst. Eva Reifert, Tessa Rosebrock (Hrsg.). Verlag Hatje Cantz 2022
Bildquellen
- Cover Kunst Konflikt Kollaboration: Foto: De Gruyter
- Zerrissene Moderne: Foto: Kunstmuseum Basel
- Der Stuttgarter Textilfabrikant Moses Moritz Horkheimer (1858–1945): Foto: KM