Theater

Theater im Marienbad: „Der Koffer“, eine rundum geglückte theatralische Parabel für Kinder ab 4 Jahren

Mit Kindern ab dem Kindergartenalter elementare moralische und ethische Grundproblematiken zu thematisieren ist ein schwieriges Unterfangen und endet vielfach beim erhobenen Zeigefinger und damit im pädagogischen Nichts. Ähnliches gilt für die mediale Vielfalt der für diesen Zweck existierenden Materialien und deren Einsatzformen. Eine vielbeachtete und verdient preisgekrönte Ausnahme ist das Bilderbuch „Der Koffer“ von Chris Naylor-Ballesteros aus dem Jahre 2019, einem in Frankreich lebenden englischen Kinderbuchautor und -zeichner.
Es erzählt die Geschichte von Fuchs, Hase und Vogel, die in ihrer gewohnten Umgebung überwiegend friedlich, bisweilen auch weniger harmonisch, nebeneinander her leben. Ihr Alltagstrott wird eines Tages jäh durch das plötzliche Auftauchen eines unbekannten, völlig entkräfteten und seltsam anmutenden Wesens unterbrochen, das einen großen, schon ziemlich ramponierten Koffer mit sich herumschleppt. Die anfängliche Angst und Scheu vor dem Fremden, dem Eindringling, weicht bei dem Trio bald ihrer Neugier. Sie wollen erfahren, was sich in dem geheimnisvollen Koffer befindet. Als sie hören, dass darin die gesamte Lebenswelt des Wesens, bestehend aus Tisch, Stuhl, einer Kochgelegenheit für Tee nebst Lieblingstasse und gar eine ganze Hütte auf einem Berg mit grandiosem Meerblick und den entsprechenden Naturgeräuschen verstaut sein soll, wird der Neuankömmling vollends zum Mysterium.
Das rätselhafte Wesen fällt vor Erschöpfung in einen tiefen Schlaf und die drei Tiere stehen nun da und sind allein mit ihrem Problem: Kann dies denn alles wahr sein, oder ist es bloß infam erlogen? Den Koffer öffnen oder nicht? Die Wissbegierde obsiegt und beim Aufbrechen wird das Gepäckstück völlig demoliert. An Inhalt finden sich lediglich die Scherben einer Tasse und eine Landschaftsfotografie, die all das zeigt, worüber das fremde Wesen gesprochen hat. Das Dilemma, in das sich die drei nun gebracht haben, wiegt schwer: Der Koffer zerstört, die Geschichte eigentlich keine Lüge und wie nun umgehen mit der gemeinsamen Schuld, dem schlechten Gewissen, der Scham? Irgendwann wird das Wesen aufwachen und die Tat ist zu verantworten! Im Buch gelingt dem Autor ein anrührend versöhnliches Finale. Die Entschuldigungsversuche von Fuchs, Hase und Vogel kommen anfangs noch sehr holprig daher, doch dann stehen sie zu ihrer Tat. Und sie bemühen sich mit einer verblüffenden Idee unter großer Anstrengung erfolgreich um Wiedergutmachung und Misstrauen, Vorurteile und Ablehnung machen Platz für ein Zugehen aufeinander, für Verständnis, vielleicht sogar für Freundschaft. Chris Naylor-Ballesteros erreicht diese Gefühlsdichte mit einer konsequenten Reduktion auf das Wesentliche sowohl bei seinen klaren, schnörkellosen Zeichnungen, wie auch in den kurzen, hochpräzisen Texten.

Gelungene Dramatisierung
Ist dies auch der Königsweg für eine Adaption der Geschichte fürs Theater? Für die Inszenierung im Theater im Marienbad gilt ein uneingeschränktes ja!
Antonia Brix (Regie), Sonja Karadza (Dramaturgie), Bernhard Ott (Bühne) und Emily Bourley (Kostüme) orientierten sich konzeptionell offensichtlich an der schnörkellosen Fokussierung der Bildergeschichte im Buch auf das Wesentliche, ohne jedoch auf ein Ausreizen spezifischer Theatermittel zu verzichten. Der Bühnenraum bleibt völlig offen, nur in zahlreiche Gassen unterteilt mittels weißer Stoffschleier. So bieten sich für die SchauspielerInnen viele Auf- und Abtrittsmöglichkeiten, die einen dynamischen Spielfluss ermöglichen. Fast ausschließlich liegt die Inszenierung auf deren Schultern, genauer auf ihrem körperlichen Spiel, denn der Requisiten- oder Möbeleinsatz strebt gegen Null. Einzig die farbenfrohen Kostüme bieten für sich gesehen einen besonderen Reiz. Und die DarstellerInnen von Fuchs (Lisa Bräuniger), Vogel (Christoph Müller), Hase (Daniela Mohr) und dem Wesen (Julia-Sofia Schulze) zeigen ein wahres Feuerwerk der Schauspielkunst. Sie erzählen die Geschichte in einem furiosen, teilweise atemlosen Mix aus Slapstick, Pantomime und Akrobatik, partiell unterstützt und animiert durch die musikalischen Kompositionen von Simon Ho. Ihr Spiel verleiht jedoch ebenso gekonnt den ruhigen, nachdenklichen Momenten des Stücks und den wenigen Textstellen die ihnen zukommende Tiefe.
Das Stück ist brandaktuell, denn Angst vor dem Fremden, Ablehnung statt Empathie, gar Hass dringen immer mehr in unseren Alltag ein. Deshalb ist dieser gelungenen Inszenierung zu wünschen, dass sie von vielen Kindern ab 4, vorzugsweise in ganzen Gruppen oder Klassen, aber auch von Jugendlichen, Eltern und LehrerInnen besucht wird und sie entsprechende diskursive Nachbearbeitung findet. Käme es so, wäre sie ein schönes Beispiel für die potenziell verändernde Kraft des Theaters.
Das Theater im Marienbad präsentiert ihre Theateradaption des Bilderbuchs als deutsche Erstaufführung. Und noch ein letztes Plus: Nach dem Urteil eines Dozenten für Gebärdensprache kann die Inszenierung als „gebärdenunterstützend“ gelten, denn die SchauspielerInnen übersetzen im Spiel die meisten Sätze, die sie sprechen, zeitgleich mittels Gebärdensprache. Damit wird der Besuch auch für gehörlose Menschen uneingeschränkt interessant.

Bildquellen

  • Gelungene Theateradaption des Bilderbuchs von Chris Naylor-Ballesteros: © MiNZ&KUNST