KolumneMixtape

Presse beim Drahtseilakt

Am 12. Mai war EasyStreet Straßentheaterfestival in Freiburg. Auf dem hübschen Zollhallenplatz schwang sich Artistin Julia Knaust zu einer Performance acht Meter in die Höhe. An ihrem Seil bot sie nicht nur schwindelerregende Artistik, sondern auch ein politisches Programm, gegen Hass, Hetze und eine Reflexion über die eigene Angst. Titel: „Angst verdirbt den Charakter“.
Jetzt ist Julia Knaust sicherlich eine Person, die vollkommen zurecht über Angst sprechen kann, weil sie ganz da oben hängt, jederzeit leicht und schmerzhaft fallen könnte. Ein Journalist wirkt zunächst weniger gefährdet. Bei der Berichterstattung rund ums Klimacamp (Mixtape berichtete im Mai) wurde mir und meiner Kollegin von einer vorbeilaufenden Dame vorgeworfen, wir würden eh nur nachplappern was ARD und ZDF als vorgefertigten Standard setzen. Klimawandel, Gendern, alles Mainstream. Investigativ lol. Journalismus ist sicher kein Drahtseilakt, man will nur gefallen, Leser:innen erreichen.
Haha, denkst du. Selbst im ach so „woken“ linken Medienlager, in dem wir uns alle so einig sind, kracht es im Gebälk. Im Mittelpunkt linkes Spaltungsthema Nr. 1: Waffenlieferungen an die Ukraine, Ja oder Nein? Ein Redakteur im Morgenradio des lokalen linken Senders Radio Dreyeckland hatte sich darüber beschwert, dass Friedensaktivist Jürgen Grässlin in einem RDL-Interview Bezug auf den äußerst umstrittenen Ex-Brigadegeneral Erich Vad genommen hatte. Vad äußert sich offen kritisch gegenüber Waffenlieferungen an die Ukraine. Jürgen Grässlin reagierte empört, warf seinem eigentlich geschätzten Sender Radio Dreyeckland ein „unterirdisches Niveau“ vor und diagnostizierte Teilen der Redaktion einen Abschied vom Antimilitarismus, gar ein aktives Vorgehen gegen Antimilitarist:innen.
Der schlimmste Vorwurf, den die Presse treffen kann, ist der Ideologievorwurf. Schließlich sind wir dem Kodex des Presserats nach dazu angehalten, unsere „publizistische Aufgabe […] unbeeinflusst von persönlichen Interessen“ auszuüben. Das bedeutet auch, unbequeme, vielleicht unsympathische Personen anzuhören oder zunächst kontraintuitiv wirkende Entscheidungen zu treffen. Artistin Julia Knaust wünscht sich, als sie ängstlich in den Seilen hängt, Konfrontation, Begegnungen, damit am Ende nicht Hass und Abgrenzung stehen. Präzise bringt Knaust die Grundproblematik der Presse auf den Punkt: „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen. Nur wie?“
Ich gehe inspiriert nach Hause: Durchaus mal in die Höhe schwingen, den Überblick gewinnen. Mit Vogelblick Abschied nehmen von Komfortzonen. Mit unterschiedlichen Menschen sprechen, Dinge verstehen. Dem eigenen Gewissen nach kritische Einsichten formulieren, gegeneinander abwägen. Dann schreiben. Klingt anstrengend? Überfordernd? Ja, auch das ist Pressearbeit. Hätte ich der kritischen Dame vor dem Klimacamp mal erzählen sollen.

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  • Presse beim Drahtseilakt: Foto: Marcelo More via pexels