Literatur

„Archipel der Leidenschaften. Kleine Philosophie der großen Gefühle“ – Charlotte Casiraghi / Robert Maggiori

Sind wir emotional aufgewühlt, löst dies eine Kette physiologischer Abläufe aus; denn Emotionen verkörpern sich physisch und beeinflussen unsere Art und Weise des In-der-Welt-seins. Zorn, Traurigkeit, Eifersucht, Hass lassen sich sogar auf einem Gesicht ablesen, es sind Regungen, mit denen wir aus uns herausgehen und uns unmerklich zusammenhalten. Leben bedeutet Gefühle haben, die sich ständig verändern und nicht einfach unterdrücken lassen. Bekanntlich sind Personen jedoch unterschiedlich gefühlsbetont und von Gefühlen bestimmt, z.B. von leidenschaftlichen Gedanken und Begeisterung für die Natur oder den Anblick einer geliebten Person. Gefühle sind Grundstoff, Materie, Kraft, elementarer Faktor, niemand kann ohne sie existieren. In einer „flüchtigen Gesellschaft“, die vorwiegend auf Effizienz aus ist, drohen sie mitunter abhanden zu kommen.
Gegen jedes schnellfertige Verständnis von Gefühlen haben zwei Philosophen ein Buch mit dem Titel „Archipel der Leidenschaften. Kleine Philosophie der großen Gefühle“ verfasst. Es ist das Ergebnis eines Dialogs, den Robert Maggiori mit seiner ehemaligen Schülerin Charlotte Casiraghi geführt hat und wurde in „vierhändiger Autorenschaft“ geschrieben, d.h. ohne namentliche Kennzeichnung der einzelnen Abschnitte. Manchmal erkennt man dennoch, wer einen Gedanken ausführt, da Casiraghi über Poesie und Psychologie zur Philosophie gelangt ist, während für Maggiori der Existenzialismus eine initiierende Rolle spielt sowie die Prägung durch den Philosophen Vladimir Jankélévitch.
Das Autorenduo stellt sich die Leidenschaften als Inseln im Meer vor, umgeben von Strömungen und verschieden temperierten Gewässern; sie sind weder Wasser noch Land, sondern zeigen sich, unscharf getrennt, in beidem. Die mögliche Bandbreite von Gefühlen als eine Art Landschaft zu verstehen, mag als Bild befremdlich erscheinen, sind wir doch eher an wissenschaftliche Diskurse gewöhnt; doch erinnert dies an die französische Schriftstellerin Madeleine de Scudéry, die vor 350 Jahren im Barock mit ihrer „Carte du tendre“ eine irdische Landkarte der Gefühle gezeichnet hat, die auch gesellschaftskritische Liebesallegorie ist. Diese markiert feste Anhaltspunkte, etwa Aufrichtigkeit, Respekt, Gehorsam, Indiskretion, Perfidie, Indifferenz u.v.a. Die Sichtweise der Autoren in „Archipel der Leidenschaften“ unterscheidet sich davon, indem sie das Strömende betonen und auf das Bild der flüchtigen Gesellschaft („liquid society“) Bezug nimmt, das der Soziologe Zygmunt Bauman geprägt hat. Bauman beschreibt die aktuelle Gesellschaft als eine der Konsumenten, die permanenten Reizen ausgesetzt sind, denen aufmerksame Erfahrung durch sensationsreiche Schnelligkeit entgleitet, wodurch Emotionen gelenkt und Vergessen erzeugt wird. Zur Bildung und Verfeinerung unserer Gefühle könnte hingegen die professionelle Auseinandersetzung mit ihnen beitragen, wie es in Kunst, Theater, Oper, Tanz, Kino und Literatur geschieht.

Die französische Schriftstellerin Madeleine de Scudéry zeichnete vor 350 Jahren mit ihrer „Carte du tendre“ eine irdische Landkarte der Gefühle

Vierzig Leidenschaften, Affekte, Gefühlsnuancen
Vierzig Leidenschaften, Affekte, Gefühlsnuancen und Begriffe bekommen in „Archipel der Leidenschaften“ je ein Kapitel, wobei deren Aspekte in Auseinandersetzung mit Texten der philosophischen Tradition entfaltet werden, darunter Aristoteles, Cicero, Nietzsche, Thomas von Aquin, Bergson, Freud, Kant, Marzano und Lévinas. Die vierzig Kapitel konstituieren eine Landschaft aus Bedeutungsinseln, ähnlich einem natürlichen Archipel, der aus einer Gruppe von Inseln besteht und durch ein Gewässer verbunden ist. Die Leidenschaften, die das Autorenduo darzustellen versucht, tragen immer schon ihr Gegenteil in sich, so gibt es etwa keinen Ekel ohne Faszination, keine Ekstase ohne Entsetzen. Das Buch beginnt mit dem Thema Liebe, führt über Gerechtigkeit und Wohlwollen zum Gefühlsspektrum von Freude, Trauer, Melancholie und beschäftigt sich endlich mit bösartigen Bestrebungen wie Hass und Grausamkeit, die an den Anfang zurückführen. Die Übergänge sind fließend, werden von den Autoren jedoch in drei Gruppen strukturiert: Gute Absichten, intensive Gefühle, bösartige Bestrebungen.

Gute Absichten
Im Kapitel „Gute Absichten“ verbindet sich Liebe mit Freundschaft, Brüderlichkeit, Güte, Mitgefühl, Freundlichkeit und Wohlwollen. Mit Aristoteles wird hier ausgeführt, inwiefern Wohlwollen mit Freundschaft Ähnlichkeit hat, sogar am Anfang der freundschaftlichen Neigung stehen kann, beide aber nicht identisch sind, denn man könne Wohlwollen auch gegenüber Fremden empfinden und eine Erwiderung sei nicht zwingend notwendig; es ist dadurch charakterisiert, dass zwar Gutes gewünscht wird, aber jemand (noch) nicht bereit ist, sich für das Wohl des Anderen anzustrengen. Wohlwollen, Freundschaft, Liebe, Güte, gewinnen ihre Bedeutungen voneinander. Lieben heißt bekanntlich nicht, geliebt zu werden, sondern zu lieben; es ist eine Leidenschaft der nie endenden Überbietung, die Egoismus begrenzt. Liebe ist ungleichgewichtig, sie ist aber nicht Anbetung oder Verehrung, sie führt zum Thema Gerechtigkeit und Freundschaft. Letztere ist freiwillig, man pflegt sie und respektiert den Anderen, wie Montaigne gezeigt hat. Sie ist nicht etwa Komplizenschaft; bei Cicero rät der Freund dem Freund und bewahrt ihn vor Schlechtem. Ganz anders steht es mit verwandtschaftlichen Beziehungen und Brüderlichkeit; letztere besteht auf einer Bindung, die oft biologisch begründet wird („Blutsbrüder“) und bis hin zur kriminellen Vereinigung reichen kann, besiegelt durch Rituale, Blutstropfen, Schwüre und Freiheitsentzug. Ein Kamerad, Kumpel und Komplize ist kein Freund.
Wohlwollen, Güte, Mitgefühl und Erbarmen verstehen die Autoren mit Martha Nussbaum als „intelligente Emotionen“, weil sie einem die eigene Verletzlichkeit vor Augen halten und der irrigen Meinung entgegenwirken, dass sich alle Faktoren im Leben kontrollieren lassen und das Leiden anderer selbstverschuldet ist. In all diesen Zusammenhängen sind Freundlichkeit und Höflichkeit, Bescheidenheit und Mäßigung gefragt, es sind keine eigenständigen Affekte, sondern Takt und Maß des Verhaltens, eine Art Koeffizient. Für Aristoteles ist Mäßigung die Tugend par excellence, man trägt sie nicht zur Schau, sie ist das Gegenteil von Arroganz.

Intensive Gefühle und Affekte
Zu den intensiven Gefühlen gehören Ekstase und Freude, Vertrauen, Geduld und Sanftheit, sie stehen neben Langeweile und Müdigkeit, neben Sehnsucht und Traurigkeit, Furcht, Angst und Ekel. Freude z.B. entzieht sich jedem Kalkül, man kann sie nicht erzwingen; ohne Nützlichkeitserwägung ist sie ein ebenso befriedigendes Gefühl wie das Vertrauen, das einen spüren lässt, dass auf eine Person oder Sache Verlass ist. Doch wie steht es mit Mut und Geduld, mit Sanftheit und Sehnsucht? Deren Nachbarphänomene sind Trauer, Melancholie und Depression, die narzisstischen Rückzug verursachen und oft jede spielerische Distanz zum Ich unmöglich machen. Dazu können sich Furcht, Melancholie, Scham, Hochmut und falscher Stolz gesellen, der in Eitelkeit verfällt. Eitelkeit bestehe darin, so Voltaire, „sich für Kleinigkeiten Geltung zu verschaffen“. Echter Stolz kann sich zwar aufblasen, geht aber auf eine gewisse verdiente Zufriedenheit zurück, während Hochmut meist Schwächen und Misserfolge verbirgt.
Zu den intensiven Gefühlen gehört auch die Zorneskraft (thymos), für Homer, aber auch für Aristoteles bedeutet sie Schwung, Kühnheit und tugendhafter Ansporn, sie neigt jedoch auch zu Maßlosigkeit und Hybris. Eine ähnliche Anwandlung ist die Empörung, die meist erregt wird, wenn es um die eigenen Ideale geht; Zorn und Empörung sind gut und wichtig, wenn sie dem Protest gegen unerträgliche Zumutungen gelten, sollten aber vermieden werden, wenn es nur um das Beharren auf der eigenen Macht geht – andernfalls sind Gewissensbisse und Schuld nicht weit.

Bösartige Bestrebungen
Im Kapitel über die bösartigen Bestrebungen sind verschiedene Abschnitte der Lästerei und dem Geiz gewidmet sowie weiteren Gefühlen, die eine Konstellation bilden, verbunden durch fließende Übergänge: Spott und Boshaftigkeit, Eifersucht, Arroganz, Grausamkeit und Hass. Hinzu kommen Lästerei und üble Nachrede. Geiz z.B. ist keine Beziehung zum anderen, sondern eine erbärmliche Verengung des Selbst, die den Menschen verkümmern lässt. Als boshaft dürfen Hohn und Beschämung des anderen gelten; der boshafte Mensch ist das Alter Ego des Unglücklichen, er tötet nicht, vielmehr sät er Zwietracht. Zu den Lastern zählt die Eifersucht, sie enthält immer auch Neid, ist aber komplexer als dieser, da sie nicht das Haben, sondern das Sein des Anderen betrifft. Arroganz, Grausamkeit, Hass. Nichts stört den sozialen Frieden mehr als die Arroganz, sie überschreitet die Grenzen, auf die der Mensch zwangsläufig bei der Begegnung mit anderen stößt; man verhandelt nicht, lähmt die Bereitschaft zum Zuhören und zum Austausch und macht so Sensibilität und Intelligenz zunichte. „Nach Ihnen bitte“ würde hingegen den Vorrang des anderen betonen.

„Archipel der Leidenschaften“ ist ein Buch gegen jedes schnellfertige Verständnis von Gefühlen und gegen jede geizige Reserve gegenüber der eigenen Empfindung. Ganz wichtig scheint dabei, zwischen Gefühl und Sentimentalität zu unterscheiden; Gefühle sind frisch und stark, lassen sich offen aussprechen und sprachlich unter die Lupe nehmen; Sentimentalität ist dagegen weinerlich und verdeckt Unausgesprochenes. „Kleine Philosophie der großen Gefühle“ sensibilisiert für offene Fragen, es ist kein Ratgeber, sondern eine unterhaltsame Anregung für Mußestunden, d.h. für Zeit, die man zweckfrei, aber höchst sinnvoll verbringt, indem man sich ergreifen lässt von Gedanken und Empfindungen.

Charlotte Casiraghi / Robert Maggiori. „Archipel der Leidenschaften. Kleine Philosophie der großen Gefühle“. Aus d. Frz. von Grit Fröhlich, André Hansen, Ruth Karzel. C.H. Beck 2019

Bildquellen

  • Die französische Schriftstellerin Madeleine de Scudéry zeichnete vor 350 Jahren mit ihrer „Carte du tendre“ eine irdische Landkarte der Gefühle: Promo
  • Charlotte Casiraghi / Robert Maggiori. „Archipel der Leidenschaften. Kleine Philosophie der großen Gefühle“. Aus d. Frz. von Grit Fröhlich, André Hansen, Ruth Karzel.: C.H. Beck 2019