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1. Mai – Vom revolutionären Geist zur reformistischen Klassenversöhnung

Der erste Tag im Mai. Kaum ein Datum spielte und spielt in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung wie auch in ihren nationalen Ausprägungen eine ähnlich bedeutsame Rolle wie dieser Kampf- und Feiertag der Werktätigen aller Länder. Der symbolträchtige 1. Mai als Kulminationspunkt der Forderungen der für ihre soziale Emanzipation kämpfenden Arbeiter aller Länder stand immer wieder im Zentrum der heftigsten, vielfach blutigen Auseinandersetzungen zwischen der organisierten Arbeiterschaft und ihren Gegnern. Inhalte, Form und Gestaltung der jährlichen Maifeier waren gleichzeitig immer auch Gegenstand der schärfsten Kontroversen innerhalb der Arbeiterbewegung selbst. So ließe sich anhand der Geschichte des 1. Mais ziemlich exakt das jeweilige Niveau der allgemeinen Klassenauseinandersetzungen in den einzelnen Gesellschaften beschreiben. Mehr noch: Für den Blick  auf den inneren, subjektiven Zustand der Arbeiterbewegung gibt es wohl kaum einen aussagekräftigeren Gradmesser. Letzteres soll hier im Mittelpunkt stehen.

Vorläufer des 1. Mai
Traditionell pflegten die Menschen schon immer gesellschaftliche Feiern zur Wiedergeburt der Natur im Frühling nach den eher harten Wintermonaten. Mit der Herausbildung der Arbeiterklasse durch die Industrialisierung und der Entstehung ihrer ersten Organisationen versuchten diese in zunehmendem Maße, ihre eigenen Feierlichkeiten mit der Darstellung ihrer Emanzipationsbereitschaft zu verknüpfen und ihre spezifischen Forderungen zu propagieren. Dies geschah meistens spontan, lokal begrenzt, ohne Koordination und ohne an ein bestimmtes Datum gebunden. 1856 konnten sich die Arbeiter der Kolonie Viktoria in Australien am 21. April mit einem eintägigen Generalstreik den Achtstundentag erkämpfen. Er wurde in den folgenden Jahren zum gesetzlichen Feiertag erklärt, verlor nach und nach seine kämpferische Bedeutung und entwickelte sich zum bloßen Freudenfest. In den USA wurden jährlich am 1. Mai von den Unternehmern neue Lieferverträge abgeschlossen und auf staatliche Anordnung neue Arbeitsbedingungen und -verträge ausgehandelt. 1885 wurde von der „Federation of organized Trade and Labour Unions“ eine landesweite Kampagne für den Achtstundentag initiiert. Spätestens am 1. Mai 1886  sollte die Achtstundenforderung für alle Arbeitenden Realität und mit einem Generalstreik erzwungen werden. In vielen industriellen Zentren fanden gegen den erbitterten Widerstand von Polizeikräften Massendemonstrationen statt und in Chicago wurden im Verlauf der Auseinandersetzungen am 1. Mai vier Arbeiter von der Polizei erschossen und bei den darauf hin folgenden Protesten sechs Arbeiterführer verhaftet, von denen vier wegen Rädelsführerschaft zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden.

Die Franzosen setzen Zeichen
Die eigentliche Mai-Idee wurde aber in Frankreich geboren und etabliert. 1888 fassten die französischen Arbeiter-Syndikate auf ihrem Kongress in Bordeaux-Bouscat einen Entschluss: Durch eine einheitliche Aktion sollte die internationale Arbeiterschaft ihren Protest gegen die öffentlichen Gewalten über deren Mißachtung der Forderungen der Arbeiter zum Ausdruck bringen. Sie formulierten einen Beschluss, den ihr Delegierter Raymond Lavigne wortgleich bei der Schlusssitzung des am 14. Juli 1889 in Paris stattfindenden Kongresses der sozialistischen II. Internationale einbrachte: „Es ist für einen bestimmten Zeitpunkt eine große internationale Manifestation (Kundgebung) zu organisieren, und zwar dergestalt, dass gleichzeitig in allen Ländern und in allen Städten an einem bestimmten Tage die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten (Behörden) die Forderung richten, den Arbeitstag auf 8 Stunden festzusetzen und die übrigen Beschlüsse des internationalen Kongresses von Paris zur Ausführung zu bringen.“
Der Beschluss wurde angenommen und der 1. Mai in Erinnerung an die Chicagoer Ereignisse als Datum festgelegt. Zuvor jedoch wurde auf dem Kongress ziemlich heftig diskutiert. Insbesondere zwischen der französischen und deutschen Delegation gab es scharfe inhaltliche Kontroversen. Schon dort traf eine revolutionär-kämpferische, auf die Überwindung des kapitalistischen Wirtschafts- und Herrschaftssystems zielende Haltung der Franzosen auf eine zaudernde, in reformistischem Denken wurzelnde Grundauffassung der deutschen Delegierten. Für die Franzosen war klar, dass der 1. Mai überall in Form einer generellen Arbeitsruhe, also mit einem Streik begangen werden sollte. Aufgrund der verschiedenen international gegebenen Verhältnisse (in Deutschland herrschte zum Beispiel das reaktionäre Sozialistengesetz) konzedierten sie jedoch, dass dieser „Quasi-Generalstreik“ nicht überall mit einem Mal zu realisieren sei. Die deutschen Delegierten lehnten die allgemeine Arbeitsruhe ab und verlangten, diese nicht verbindlich festzulegen. Lavigne und der Kongress akzeptierten als Kompromiss den Zusatz: „Die Arbeiter der verschiedenen Nationen haben die Kundgebung in der Art und Weise, wie sie ihnen durch die Verhältnisse ihres Landes vorgeschrieben wird, ins Werk zu setzen.“

Zwei Linien im Kampf für Arbeiterrechte
Dass beide Delegationen diesen Kompromiss aus dem Blickwinkel entgegengesetzter Positionen betrachteten, bewiesen die Ereignisse der nächsten Jahre. Friedrich Giovanoli zeigt in seiner 1925 erschienen Untersuchung „Die Maifeierbewegung“ anschaulich, dass die folgenden Kongresse in ihren Beschlüssen immer stärker auf die „strikte Einhaltung der Arbeitsruhe“ pochten. Nach wie vor waren die Debatten durch die antagonistisch exponierten Positionen der Franzosen und der Deutschen geprägt, an der Forderung nach allgemeiner Arbeitsruhe wurde aber festgehalten. Außerdem sollte der 1. Mai zum Feiertag der gesamten Klasse und nicht nur ihres organisierten Teils, werden. Nicht allein die Führungen der Gewerkschaften und der Parteien sollten emphatische Reden halten, sondern die Klasse als Ganze sollte im Streik handeln und so ihre Stärke und Kraft erfahren. So gesehen gewann die Frage der generellen Niederlegung der Arbeit am 1. Mai strategische Bedeutung. Dieser Gedanke spielt bis heute in Ländern wie Frankreich, Italien, Spanien, Portugal oder in Südamerika eine große Rolle. Auch in diesem Punkt traten die deutschen Vertreter auf die Bremse. In einem Rückblick auf die Kontroversen forderte der Deutsche Metallarbeiterverband (DMV = Vorläufer der IG-Metall) in der Ausarbeitung „Geschichtliches zur Maifeier in Deutschland“ von 1907 eine „Reale Gegenwartspolitik“. Eine solche bestehe in „Verantwortung übernehmen“ und dies bedeute verhandeln, mitgliederstarke Organisationen mit vollen Kassen schaffen und solle dem „spontanen, sprunghaften“ Vorgehen des französischen Syndikalismus entgegengesetzt werden. Dieser Kampf zweier Linien spaltete schließlich auch die deutsche Arbeiterbewegung in einen von der KPD dominierten revolutionären und den von der SPD repräsentierten reformistischen Flügel mit teilweise verheerenden Folgen.

Der Blutmai 1929
In der Weimarer Republik tobten ab 1920 neben vielen anderen Konflikten heftigste  Straßenkämpfe zwischen den immer stärker werdenden faschistischen Kampfverbänden der NSDAP und der KPD auf der anderen Seite . Die ohnehin politisch instabile Lage wurde dadurch noch verschärft. Sie dienten als Vorwand für eine immer restriktivere Gesetzgebung und Demonstrationsverbote waren an der Tagesordnung. Der sozialdemokratische (!) Polizeipräsident Karl Zörgiebel erließ ein solches auch für die geplante Demonstration am 1. Mai in Berlin. Dieses Vorgehen verurteilte eine weit über den Einflussbereich der KPD hinausgehende Zahl von Arbeitern und Gewerkschaftern. Zörgiebel ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit, das Demonstrationsverbot mit allen Mitteln durchzusetzen. Es kam trotz dessen zu massiven Unruhen unter der Parole „Straße frei am 1. Mai“. Der Sozialdemokrat gab den Befehl, auf die Demonstranten, darunter auch viele sozialdemokratische Arbeiter, zu schießen. Im Feuerhagel der Polizei kamen 28 Demonstranten zu Tode. Die Spaltung der Arbeiterklasse wurde unversöhnlich: Die KPD entwickelte die „Sozialfaschismus-Theorie“ und erklärte die Sozialdemokraten ziemlich pauschal zu „Steigbügelhaltern des Faschismus“ und von deren Führungsebene wurde tatsächlich kein nennenswerter Widerstand gegen die immer mehr erstarkenden Nazis geleistet. Dieser hasserfüllte Zwist verhinderte auch letztlich das Zustandekommen einer breiten antifaschistischen Einheitsfront, die zumindest theoretisch möglich gewesen wäre. Ein daraus resultierendes Ergebnis war der folgenschwere 1. Mai 1933.

Der „Tag der nationalen Arbeit“
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler unter massivem Druck seitens der Industrie von  Reichspräsident Hindenburg formal legal zum Reichskanzler ernannt. Die Nazis setzten von Anfang an alle noch vorhandenen demokratischen Strukturen nach und nach außer Kraft und landeten am 1. Mai 1933 einen entscheidenden Coup. Sie erklärten den 1. Mai zum „Tag der nationalen Arbeit“ und erhoben ihn zu einem allgemeinen Feiertag. Die als Kampftag der internationalen Arbeiterklasse entstandene und in schweren Kämpfen immer wieder verteidigte Manifestation wurde in Goebbels Diktion zu einer „grandiosen Demonstration deutschen Volkswillens“ umfunktioniert. Dies gelang nicht zuletzt aufgrund einer vollkommenen Fehleinschätzung der überwiegend sozialdemokratischen Gewerkschaftsführungen des ADGB, die allenfalls befürchteten, dass ihre Organisationen – ähnlich wie in der Weimarer Republik – als unpolitische berufsständische Verbände den „nationalsozialistischen Spuk“ überleben könnten. Politisch hatten sie bereits ihre Neutralität gegenüber dem Regime erklärt. Das böse Erwachen erfolgte nur einen Tag später. Am 2. Mai besetzten SA- und SS- Truppen die Gewerkschaftshäuser, verhafteten zahlreiche Funktionäre und die Gewerkschaftsverbände wurden in weniger als einem halben Jahr „gleichgeschaltet“ und in die Deutsche Arbeitsfront (DAF) integriert. Notabene: Der 1. Mai als gesetzlicher Staatsfeiertag mit dem verharmlosenden Attribut „Tag der Arbeit“ ist in Deutschland ein Überbleibsel aus der nationalsozialistischen Finsternis.

Die Nachkriegsentwicklung
Nach 1945 zeigten sich die Gewerkschaften in Westdeutschland im Wesentlichen als loyal-konstruktive Partner beim Wiederaufbau des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das von ihrer Seite in keiner Weise mehr grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Der Lohn dafür war eine im Vergleich zu anderen Ländern weitgehende Akzeptanz von Mitbestimmungsrechten in der Arbeitsgesetzgebung. Hier sind allen voran das Montanmitbestimmungsgesetz aus dem Jahr 1951 und das erste Betriebsverfassungsgesetz 1952 und dessen umfangreiche Neufassung von 1972 zu nennen. Offiziell wurden Betriebsräte etabliert, die sich auf in ihrer Wirksamkeit unterschiedlich starke Mitbestimmungsrechte und Privilegien berufen, aber auch erfolgreich als Partner in die Unternehmensstrategien einbezogen werden konnten. Als „betriebsverfassungsrechtliches Organ“ waren und sind sie dem Unternehmenswohl verpflichtet  und mit dem Verbot der Organisierung von Kampfmaßnahmen gegen den Arbeitgeber einer allgemeinen Friedenspflicht unterworfen. Strategisch setzte sich innerhalb der Arbeiterbewegung der systemimmanente Reformismus in den Gewerkschaften und auch der Sozialdemokratie nahezu vollständig durch. Dies schlug sich auch in der Thematik und Durchführung der 1. Maifeiern nieder, die nun vorrangig zur Propagierung angestrebter Reformforderungen genutzt wurden. Zum Teil durchaus erfolgreich. 1956 starteten die Gewerkschaften am 1. Mai die Kampagne für die 40-Stundenwoche an fünf Arbeitstagen mit dem wohl massenwirksamsten Slogan der Nachkriegszeit: „Samstags gehört Vati mir“. Millionenfach rief ein Kind am 1. Mai diese Parole auf Plakaten in die Welt. Nur ein paar Jahre später wurde dieser Wunsch Realität und der Erfolg bekräftigte die grundsätzlich systemkonforme Haltung der Gewerkschaften. Diese hatten sie schon zuvor durch ihr beredtes Stillschweigen zum erlassenen Verbot der KPD bewiesen, welches das Agieren weiter links stehender Strömungen in der Arbeiterbewegung deutlich erschwerte.

Die turbulenten 70-er Jahre
Es sollte fast 20 Jahre dauern, bis am 1. Mai wieder revolutionäre Kräfte in Erscheinung traten. Aus der 68-er Studentenrevolte entwickelte sich ein beachtliches Spektrum von Organisationen mit revolutionärem Anspruch. Insbesondere die parteimäßig strukturierten maoistischen K-Gruppen versuchten innerhalb der Arbeiterbewegung Fuß zu fassen. Da und dort gelang es ihnen , sogenannte wilde Streiks zu initiieren oder mit dezidiert oppositionellen Programmen Betriebsratssitze zu gewinnen. Die als „Verräter“ gebrandmarkten reformistischen Betriebsräte und Gewerkschaftsführer waren dabei Teil ihres politischen Feindbilds. Die Gewerkschaften reagierten mit sogenannten Unvereinbarkeitsbeschlüssen und schlossen eine große Anzahl oppositioneller Gewerkschafter kurzerhand aus. Parallel dazu entstanden mit der Umwelt-, Friedens- und der feministischen Frauenbewegung neue soziale Strömungen, die eine breite Basis für antikapitalistisches Denken schufen. Bei den 1. Maiaktivitäten schlug sich all dies in den Siebziger Jahren in „Revolutionären Blöcken“ bei den DGB-Maidemos oder massiven Störungen  der offiziellen Kundgebung nieder. Daran beteiligten sich in Städten wie Berlin, Frankfurt, Hamburg und Bremen weit mehr Menschen, als vom DGB organisiert werden konnten. Der DGB verlegte daraufhin seine Veranstaltungen in überwiegend in den Saal mit immer stärker schwindender Teilnehmerzahl, was die oppositionellen Kräfte auf ihren Demos und Kundgebungen als endgültigen Verrat am revolutionären Geist des 1. Mai von 1889 verhöhnten.

Die Gegenwart
Heute hat die Arbeiterbewegung ihre Bedeutung als „revolutionäres Subjekt“ bei der Überwindung des „Grundwiderspruchs zwischen Kapital und Arbeit“ weitgehend verloren. Es sind überall neue soziale Bewegungen entstanden, die sich abseits der traditionell orthodoxen Ideologien mit sozialen Transformationsstrategien beschäftigen. Ihre Aktivisten stammen aus allen Schichten der Gesellschaft und die entscheidenden gesellschaftpolitischen Konfrontationslinien verlaufen nicht mehr wie ehedem zwischen Arbeiter- und Kapitalistenklasse. Ziel ist aber nach wie vor, das auf Privateigentum an Produktionsmitteln basierende profit- und wachstumsorientierte kapitalistische System zu überwinden und durch solidarische, dem Gemeinwohl als höchstem Wert verpflichtete Gesellschaftsformen zu ersetzen. Der 1. Mai hat also seine ursprüngliche Symbolkraft als Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse und emanzipativer Kulminationspunkt gründlich eingebüßt. Vielleicht ist deshalb nur folgerichtig, dass er heute in Deutschland die Form eines bunten Stadtfestes angenommen hat, auf dem sich alle möglichen Organisationen und Initiativen präsentieren können. Vielleicht kann das geschichtsträchtige Datum zu einem späteren Zeitpunkt in ganz anderer Form und mit anderen Inhalten wieder an ihren emanzipativen Ursprung anknüpfen.

Bildquellen

  • speakers-2135823_1920-257×300: promo