„Heikle Heimat“
Im Gespräch: Spiritus rector Rüdiger Safranski
Unter der Überschrift „Heikle Heimat“ versammeln die Badenweiler Literaturtage 2013 zahlreiche Autoren zu Lesungen und Gesprächen. Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin, eröffnet die Veranstaltung und, an den zwei folgenden Tagen werden weitere bekannte Autoren präsent sein. Zunächst Sibylle Lewitscharoff, die einer deutsch-bulgarischen Familie entstammt, und der Holländer Cees Nooteboom. Sodann der Literaturwissenschaftler Peter von Matt, die Essayistin und Romanautorin Juli Zeh, die französische Publizistin Pascale Hugues sowie der Autor und Zeichner Christoph Meckel. Desweiteren wird der Regisseur Edgar Reitz seinen neuen Film „Die andere Heimat“ vorstellen und sein Lebensthema im Gespräch mit Rüdiger Safranski erläutern. Mit Rüdiger Safranski sprach unsere Mitarbeiterin Cornelia Frenkel.
KulturJoker: Im Programm der Literaturtage schreiben Sie: „Heimat ist ein großes Thema (…) sie kann auch heikel werden (…)“. Herta Müllers Erstlingsroman – „Niederungen“ (1984) – handelt vom ungemütlichen Dorf ihrer Herkunft in Rumänien, das sie gezwungen war zu verlassen. In einer ihrer späteren Reden zitiert sie Semprun: „Im Grunde ist meine Heimat nicht die Sprache (…), sondern das, was gesprochen wird“. Inwiefern erhellt Herta Müller das Thema „Heikle Heimat“?
Rüdiger Safranski: Das Heikle an der Heimat besteht ja zunächst darin, dass es ein Ort ist, wo man gerne wäre, der aber auch beengt. Herta Müller ist ein extremes Beispiel dafür, dass Heimat zur Bedrohung werden kann, denn sie wurde ja noch lange, als sie bereits in Deutschland war, vom rumänischen Sicherheitsdienst (Securitate) verfolgt. Also da wird Heimat, die nach einem greift, zu einer schwierigen Sache, dennoch bleibt sie wichtig, indem sich jeder an sie erinnert, als Ort, an dem die Kindheit gelebt wurde.
Was gesprochen wird, macht den Alltag aus, die Lebenssphäre – und wenn das unerträglich wird, dann muss man weg. Die Sprache als Aufenthalt nützt wenig, wenn die Inhalte abschrecken. – Und hier setzt die Literatur ein.
Wir haben das Thema so gefasst, dass sich seine ganze Ambivalenz zeigt: Einerseits blicken wir gerne auf das, was wir für Heimat halten; man muss sich aber von ihr frei machen, um sich entwickeln zu können, dem Ursprung entspringen; ist man dann woanders, entsteht wiederum ein Gefühl der Wehmut und Erinnerung an die „Heimat“. Heimat ist das, was man schon immer verlassen hat.
KulturJoker: Auch für Sibylle Lewitscharoff scheint Heimat eher ein Reizwort, gehe es nun um ihren Geburtsort Stuttgart-Degerloch oder das Herkunftsland ihres Vaters, Bulgarien, das im Roman „Apostoloff“ drastisch verabscheut wird.
R. Safranski: Ja, wenn man Sibylle Lewitscharoff hört, mit ihrem schönen Schwäbisch, so ist ihre ganze Art einzig, weil da eben noch etwas ganz anderes ist, eben das Bulgarische väterlicherseits. Ich finde sie als Autorin wunderbar, weil sie diese zwei, unnachahmlich miteinander verbundenen Wurzeln hat. Der Roman „Apostoloff“ ist ja gerade deshalb gelungen, weil sie gewissermaßen aus der schwäbischen Perspektive auf das Bulgarische schaut – und umgekehrt. Und da merkt man, es ist vielleicht noch besser, wenn man mehrere Heimaten hat. Dafür ist sie ein Beispiel.
KulturJoker: In der Literatur von Cees Noteboom ist offensichtlich vom Fremden und Fernen die Rede, sie thematisiert den ständigen Drang zu reisen. Sein „Schiffstagebuch“ führt den Leser durch mehrere Kontinente. Kann man sagen, er denke Beheimatung temporär, als immer neue Begegnung des Eigenen mit dem Fremden?
R. Safranski: Ja, das kann man sagen, ich habe das auch erlebt, ich habe einige Reisen mit ihm gemacht, wir sind gemeinsam ums Kap Horn herumgefahren und auch nach Santiago de Compostella. Cees Nooteboom ist ein geübter Reisender, er bringt das Kunststück fertig, sofort zuhause zu sein, wo er ist – aber so zuhause zu sein, dass er mit seiner Neugier immer neue Sachen entdeckt, sogar im Vertrauten. Reist man mit ihm, wird man von dieser Neugier angesteckt. Cees Nooteboom ist ein Mensch, der gewissermaßen Luftwurzeln hat, er gedeiht am besten, wenn er unterwegs ist. Jetzt hat er mir gerade ein schönes Buch über seine Pilgerreise zu 33 Klöstern in Japan geschenkt. Wo hat er seine Heimat? Nooteboom lebt im Sommer, wenn er nicht unterwegs ist, auf Menorca; und im Winter, wenn er nicht unterwegs ist, in einem kleinen Grachten-Haus in Amsterdam – und besucht man ihn dort, erweckt er den Eindruck, als sei er immer dort. Aber schon am nächsten Tag kann er wieder aufbrechen.
KulturJoker: Auch Christoph Meckel wirkt an den Literaturtagen mit. Seine Erzählungen „Nachtsaison“ etwa handeln von einer heimatlosen Existenz; der Protagonist kennt sein genaues Geburtsdatum nicht, der einzige ihm vertraute Mensch verschwindet. Er macht sich auf den Weg und erreicht kein Ziel. Auch die Figuren des grafischen Werks „Die Weltkomödie“ scheinen im Nirgendwo zu leben? Was eventuell bedeutet Heimat für Christoph Meckel?
R. Safranski: Ja, da bin ich tatsächlich gespannt, von ihm dazu einiges zu hören. Ich weiß, er hat über Jahre in Südfrankreich ein Domizil gehabt und dort gelebt; in den letzten Jahren kehrt er stärker an seinen Ursprungsort zurück, nach Freiburg – wohnt aber doch auch in Berlin. Was einen so phantasievollen Geist wie Christoph Meckel, der sich in Zeichnungen, Bildern und Literatur zum Ausdruck bringt, was ihn an einer Ortsbindung oder Herkunft interessiert, das möchte ich gerne erfahren. Vielleicht ist seine Heimat die skurrile Phantasie?
KulturJoker: Die Publizistin Pascale Hugues erzählt in „Marthe und Mathilde“ ihre deutsch-französische Familiengeschichte. Einen wohlwollenden Blick auf Berlin wirft sie in ihrem Buch „In den Vorgärten blüht Voltaire. Eine Liebeserklärung an meine Adoptivheimat“. Heimat erscheint hier als das selbstgewählte fremde Land, in dem sie sich zuhause fühlt?
R. Safranski: Als Korrespondentin für verschiedene Zeitungen beschreibt sie Phänomene aus dem Berliner Alltag – immer mit dem Blick derjenigen, die diesen Alltag teilt und doch zu einem Stück Fremdheit in der Lage ist. Sie schaut wie eine Ethnologin auf die Sitten eines fremden Volkes; sie kann Deutschland sehr gut beschreiben, weil sie Frankreich kennt. Sie ist ein Profi des Vergleichens, weil sie von früh auf gelernt hat, die beiden Lebensformen in einer freundlichen entspannten Weise zu sehen.
Berühmt ist ihre wunderbare Geschichte über ihre beiden Großmütter, deutscher und französischer Herkunft, „Marthe & Mathilde“, hier aus der Region, dem Elsass; sie ist der Einladung zu den Literaturtagen gerne gefolgt, denn sie war mit einer der Großmütter manchmal hier im Hotel Römerbad, für sie ein unvergessliches Kindheitserlebnis.
KulturJoker: Die Bücher von Juli Zeh handeln von skeptischen Querdenkern, für die das Getriebensein nicht aufhört. In „Nullzeit“ zieht der Protagonist auf eine Insel, hat Deutschland verlassen, weil er das dort herrschende „allumfassende Netz aus gegenseitigen Beurteilungen“ nicht mehr ertragen konnte; das Land seiner Herkunft verursacht ihm Brechreiz. Deutschland, eine „Heikle Heimat“?
R. Safranski: Juli Zeh gehört einer jüngeren Generation an, für sie ist Heimat vielleicht ein besonders heikler Begriff, denn sie kann mit der sentimental altertümlichen Komponente, die in diesem Begriff steckt, zunächst nicht viel anfangen. Aber das brauchen wir gerade auch, Autorinnen und Autoren, die verwundert fragen: Was habt ihr bloß mit der Heimat? Für Juli Zeh, die gelernte Juristin, ist ein europäischer Blick selbstverständlich.
KulturJoker: In den Frankfurter Poetik-Vorlesungen „Treideln“ wehrt sich Juli Zeh gegen die Vorstellung, ein Schriftsteller könne in einer eigenen Poetik beheimatet sein, er sei doch „nicht sein eigener Deutsch-Leistungskurs“?
R. Safranski: Da kokettiert sie auch ein bisschen, da sie als Autorin von Romanen und als Publizistin sehr darin geübt ist, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Sie ist nicht einfach Dichterin, sondern intellektuell und geistig so beweglich, dass sie sich zugleich von Außen sehen kann. Ihre Geistesgegenwart, Brillanz und spielerische Beweglichkeit sind frappierend.
KulturJoker: Was bedeutet dem Schweizer Peter von Matt, Autor von „Liebesverrat“ und „Wörterleuchten“, Heimat?
R. Safranski: Peter von Matt hat 2012 den Buchpreis für einen Text erhalten („Das Kalb vor der Gotthardpost“), in dem ein Schweizer über sein Land nachdenkt, das er mit Stolz sieht, mit dem er aber auch seine Probleme hat; dies ambivalente Gefühl ist hier Thema. Zugleich ist von Matt ein Mensch, der immerzu die Schweizer Grenzen überschreitet, denn er wohnt auch in der abendländischen Literatur – und diesem Weltbürger der Literatur verdanken wir ausgezeichnete Bücher. Er hat eine ganze Anthropologie geschaffen aus dem Wissen über den Menschen, wie es in der Weltliteratur aufbewahrt liegt, die Liebesspiele und Machtspiele, die Intrigen und Verrätereien, die Generationskonflikte und was es sonst noch so alles gibt…
KulturJoker: Schließlich Edgar Reitz. Vor dem Hintergrund des ländlichen Deutschlands Mitte des 19. Jahrhunderts, als ganze Dörfer getrieben von Hungersnot und Armut ins ferne Südamerika emigrierten, erzählt er in seinem neuen Kinofilm „Die andere Heimat“ eine Familien- und Liebesgeschichte. In deren Zentrum zwei Brüder, die vor der Frage stehen: Gehen oder Bleiben. Was ist impliziert?
R. Safranski: Man kann sich freuen, es ist ein wunderbarer Film, schwarz-weiß, episch, ein einziger Film (keine Fortsetzungen); das außerordentlich Bemerkenswerte daran ist, und darum passt er zu den Literaturtagen: üblicherweise, wenn dieses Thema behandelt wird, dann hebt man auf die Not und die Bedrückung derjenigen ab, die im 19. Jahrhundert ausgewandert sind. Doch ist das nur die halbe Wahrheit, denn andererseits beginnt die große Auswanderungswelle im 19. Jahrhundert just in dem Moment, als in breiteren Schichten die Fähigkeit des Lesens aufkam; da beginnt sich der Horizont zu erweitern und eine Sehnsucht nach dem Fernen setzt ein. Den Zusammenhang von Lesen und der Sehnsucht, sich eine neue Welt aufzubauen, das erzählt dieser Film – in wunderbaren Bildern. Heimat liegt also nicht nur hinter uns, sondern auch vor uns. Das ist die „andere Heimat“, wie Reitz sie nennt.
KulturJoker: Sie selbst haben in der ZS „du“ im Jahr 2004 einen Essay zum Thema „Heimat“ geschrieben, der Begriff „emotionale Wüste“ fungiert hier quasi als ihr Gegenpol. Was würden Sie Ihren damaligen Überlegungen hinzufügen?
R. Safranski: Vielleicht das: seit wir hier in Badenweiler ansässig sind (seit 2008), genieße ich die allmähliche Herstellung einer neuen Heimat, vorher waren wir viele Jahrzehnte in Berlin, noch vorher war ich in Schwaben; und davor war meine Familie in Ostpreußen, das ich allerdings nicht kenne, ich bin erst 1945 geboren. Ich würde also hinzufügen, dass wir Menschen das bemerkenswerte Talent haben, uns immer wieder neue Heimaten zu schaffen. Das ist etwas sehr Schönes.
KulturJoker: Ich bedanke mich für das Gespräch.
Info: www.badenweiler-literaturtage.de. Karten: www.reservix.de, touristik@badenweiler.de bzw. vor Ort: Tourist-Information Badenweiler