„Eine Fusion ist keine Lösung“
Ende September tagt in Stuttgart der Rundfunkrat. Bei der Sitzung geht es vor allem um die angedachte Fusion von Radio-Sinfonieorchester Stuttgart und SWRSinfonieorchester Baden- Baden und Freiburg. Zuvor hat Georg Rudiger mit François- Xavier Roth, dem neuen Chefdirigenten des SWR-Sinfonieorchester gesprochen – über Aufbruchsstimmung, Vertrauensbrüche und die Frage, welche Kultur man in Zukunft haben möchte.
Kultur Joker: In einem kurzen Werbefilm, der Sie beim Kochen und beim Dirigieren zeigt, sagen Sie, das Verhältnis zwischen Dirigent und Orchester sei so kompliziert wie eine gute Mayonnaise. Der Film ist zu Beginn Ihrer Amtszeit in Freiburg entstanden. Wie schmeckt im Augenblick die Mayonnaise? François-Xavier Roth: Sehr gut. Die Chemie zwischen dem Orchester und mir hat schon von Beginn an gestimmt. Natürlich braucht es ein wenig Zeit, um sich kennenzulernen. Da treffen ja erst einmal zwei verschiedene Welten aufeinander. Aber inzwischen ist schon alles aufeinander abgestimmt – wie bei einer guten Mayonnaise. Kultur Joker: In Ihrem ersten Freiburger Konzert, als Sie unter anderem Pierre Boulez’ „Notations“ und Mahlers 1. Symphonie aufführten, habe ich eine große Aufbruchsstimmung gespürt im Orchester. Die Musiker saßen auf der Stuhlkante – und haben sich sichtlich gefreut, mit Ihnen zu musizieren. Wie haben Sie diesen Anfang in Freiburg erlebt? Roth: Für mich wird dieses Konzert immer ein besonderes Erlebnis bleiben. Ein wichtiger Grund dafür war das Publikum. Die begeisterte Reaktion, dieser Beifallssturm nach Boulez’ komplexen „Notations“ hat mich völlig erstaunt. So etwas habe ich bei Neuer Musik noch nie erlebt. Das Konzert war wirklich ein Anfang. Der Beginn einer Reise – einer sehr wichtigen Reise.
Kultur Joker: Sie sind jetzt schon fast ein Jahr beim SWRSinfonieorchester. Haben Sie schon etwas erreicht? Klingt das Orchester anders als zu Beginn Ihrer Amtszeit? Roth: Ich arbeite sehr an der klanglichen Qualität. Diesbezüglich hat sich das Orchester schon verbessert. Wichtig war mir auch das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Instrumentengruppen, zwischen Bläsern und Streichern – aber auch innerhalb der Register. Inzwischen kann ich in den Proben viel schneller ein für mich befriedigendes Ergebnis erzielen als noch zu Beginn. Das erste Jahr war reich, weil wir zusammen ganz unterschiedliche Musik gespielt haben. Gustav Mahler und Pierre Boulez, aber auch John Adams oder John Cage. Wir haben auch viel Beethoven gespielt: die „Eroica“, Ouvertüren und Konzerte. Joseph Haydn, aber auch Richard Strauss. Ich habe zu diesen unterschiedlichen ästhetischen Welten eine ganz bestimmte Vorstellung. Das Orchester weiß inzwischen schnell, ob ich ein Vibrato möchte oder keines, ob ich einen runden oder einen direkten Klang haben will etc. Kultur Joker: „Francois- Xavier Roth ist eine hochkarätige Neubesetzung. Mit seinen visionären Ideen wird er das Profil des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg weiter schärfen, das darin besteht, die zeitgenössische Musik einem großen Publikum zu erschließen. Unsere Orchester sind kein Zierwerk, sondern Teil unseres öffentlichrechtlichen Programmangebots.“ Wissen Sie, von wem dieses Statement ist? Roth: Von Herrn Boudgoust? Kultur Joker: Richtig. Das ist ein Statement von SWR-Intendant Peter Boudgoust zu Beginn Ihrer Spielzeit. Wann haben Sie erfahren, dass die Sparvorgaben des Südwestrundfunks die Existenz des Orchesters bedrohen und eine Fusion von Radiosinfonieorchester Stuttgart und SWRSinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg geplant ist? Roth: Das war im Februar dieses Jahres. Wenige Tage, bevor wir mit dem Orchester zu einer Konzertreise nach Japan aufgebrochen sind. Kultur Joker: Wie haben Sie reagiert? Roth: Ich habe dem Intendanten Peter Boudgoust und dem Hörfunkdirektor Bernhard Hermann sofort gesagt: Ich akzeptiere diese Lösung nicht. Ich war sehr freundlich, aber bestimmt. Und habe Ihnen mitgeteilt, dass sich alle Beteiligten an einen Runden Tisch setzen müssten, um eine andere Lösung zu finden. Da war ich sehr klar. Herr Hermann kam dann nach Freiburg, um dem Orchester die geplante Fusion zu erklären – und auch in der Orchesterversammlung habe ich gesagt, dass ich die Fusion nicht akzeptiere. Wir leben nicht in einer Traumwelt. Ich weiß, dass der Südwestrundfunk sparen muss und Geldgeber nicht leicht aufzutreiben sind. Die Frage ist doch: Wie wollen wir in unserer Gesellschaft, in unserem Land, in Europa in Zukunft leben? Wollen wir, dass Kultur für immer weniger Leute erreichbar ist? Wollen wir, dass Kultur zu Entertainment verkommt? Oder wollen wir etwas wagen für die Kultur – und auch etwas wagen mit der Kultur? Wir haben in der Zwischenzeit ein alternatives Modell entwickelt, das finanzierbar ist – und bei dem die beiden Orchester als selbständige Klangkörper bestehen bleiben. Kultur Joker: Dazu kommen wir gleich, zunächst noch eine Nachfrage. Als Sie sich um diese Stelle hier in Freiburg als Nachfolger von Sylvain Cambreling beworben haben – haben die Vertreter des SWR in den Vorbereitungsgesprächen angedeutet, dass das Orchester, das Sie übernehmen sollten, von massiven Einsparungen betroffen sein wird? Roth: Nein. Kultur Joker: Ist das nicht ein komisches Gefühl, dass man nicht ehrlich zu Ihnen war? Roth: Es gab schon viele Dinge, die etwas komisch gelaufen sind. Aber ich bin nicht empfindlich. Kultur Joker: Sie haben einmal gesagt, dass Wichtigste zwischen einem Dirigenten und einem Orchester sei das Vertrauen. Haben Sie noch Vertrauen zu den Herren Boudgoust und Hermann? Roth: Es ist eine eigenartige Situation, wenn ich als Dirigent Herrn Boudgoust und Herrn Hermann auf die große Solidarität in der Bevölkerung hinweisen muss. Es sollte doch für den Intendanten und den Hörfunkdirektor ein schönes Gefühl sein, wenn das Orchester ihres Senders in der ganzen Welt hoch geschätzt wird. Durch die vielen Reaktionen, die es gab, können wir sehen, wieviele Menschen hinter dem Orchester und seiner Arbeit stehen. Das ist kein kleiner Kreis von Musikliebhabern. Die internationale Ausstrahlung ist enorm. Und das ist doch auch ein Verdienst des SWR und seiner Leitung. Ich würde sehr gerne nochmals versuchen, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. In der letzten Zeit hatte ich wenig Kontakt zur Direktion. Als ich im Februar nochmals in Stuttgart war, habe ich dort für einen Runden Tisch geworben. Leider ist das bei den Verantwortlichen auf wenig Interesse gestoßen. Noch einmal: Ich fühle mich sehr wohl im Südwestrundfunk. Ich fühle mich als Teil einer Familie. Und ich bin fest davon überzeugt, dass wir zusammen eine gute Lösung fi nden. Diese Fusionsidee ist bald eine schlechte und alte Geschichte. Kultur Joker: Über das Alternativmodell, das der Freundeskreis des SWR-Sinfonieorchesters unter dem Vorsitzenden Arno Bohn vorgestellt hat, ist noch nicht viel bekannt geworden. Es sollen weitere Träger wie Städte und Kommunen einspringen, die einen Teil des Etats übernehmen. Roth: Mit genauen Details bin ich nicht vertraut. Jedenfalls sind wir sehr glücklich, dass wir einen dynamischen, positiven und eff- izienten Orchestervorstand haben. Und einen großartigen Freundeskreis, dessen Mitglieder dieses Modell entwickelt haben. Da sind auch viele Unternehmer darunter, die einen engen Draht zur Wirtschaft haben und über ein großes Netzwerk verfügen. Sicher ist jedenfalls, dass wir keine GmbH werden würden, wie auch schon fälschlicherweise zu lesen war. Kultur Joker: Wenn nun Ende September doch eine Fusion beschlossen wird – bleiben Sie? Roth: Diese Frage kann ich nicht beantworten, weil für mich die Fusion keine Lösung ist. Kultur Joker: Nehmen wir also an, die Fusion wird vermieden und das SWR-Sinfonieorchester bleibt als selbständiger Klangkörper erhalten. Was sind Ihre wichtigsten Pläne für das Orchester? Roth: Interessanterweise habe ich mich, bevor ich nach Freiburg gekommen bin, mit dem Orchestermanager Reinhard Oechsler und dem Orchestervorstand darüber unterhalten, was das SWRSinfonieorchester ausmacht. Dieses Profil müssen wir jetzt in dieser unsäglichen Fusionsdebatte noch stärker herausstellen. Für mich ist dieser Klangkörper kein normales Orchester, das mit anderen vergleichbar ist. Igor Strawinsky, Paul Hindemith, Karlheinz Stockhausen, Luciano Berio – diese berühmten Komponisten haben regelmäßig mit dem Orchester gearbeitet. Das ist eine großartige Tradition, die natürlich Spuren hinterlassen hat. Das beeinfl usst die Interpretation von jeder Art von Musik, die das Orchester spielt. Beispielsweise auch bei der Musik von Ludwig van Beethoven oder Gustav Mahler hat das Orchester eine einzigartige Fertigkeit, diese Partituren zu lesen. Kultur Joker: Inwiefern? Ist das die Präzision, weil das Orchester viel Neue Musik spielt? Roth: Das ist viel mehr als das. Das ist eine Philosophie. Ich war ja früher Flötist und habe im Orchester der Opéra Bastille gespielt. Ein Kollege sagte mir: „In fünf Jahren kennst Du das ganze Repertoire.“ Beim SWRSinfonieorchester kann das nicht passieren. Kultur Joker: Und weil das Orchester viele Stücke uraufführt, schaut es ein Repertoirestück wie Beethovens 5. Symphonie auch mit anderen Augen an. Roth: Natürlich. Es liest die Partituren viel genauer als andere. Und der ständige Stilwechsel macht das Orchester extrem fl exibel. Kultur Joker: In Ihrer Antrittspressekonferenz bei den Donaueschinger Musiktagen im letzten Jahr sagten Sie, dass sich das Orchester besser vermarkten muss und dabei auch das Internet eine stärkere Rolle spielen soll. Sind das Ideen, die wegen der Fusionsdebatte ruhen? Roth: Auf keinen Fall. Wir müssen hier wirklich innovativer sein. Herr Boudgoust und Herr Hermann wissen nicht genügend, welchen Schatz sie mit dem Orchester in der Hand haben. Die einzigartige Dokumente aus der Orchestergeschichte, die im SWR-Archiv ruhen, könnte man zugänglich machen. Proben mit Ligeti, Strawinsky, Stockhausen – wo kann man das sonst finden? Das ist Gold. Wir sind beim SWR eine TV-, Radio und Internetgruppe – und arbeiten nicht zusammen. Die Berliner Philharmoniker haben dieses ganze Know How nicht, aber achten viel stärker auf die mediale Vermarktung als der SWR. Und haben die Digital Concert Hall entwickelt, bei der live Konzerte ins Internet übertragen und somit weltweit gesehen werden können und später im Archiv abrufbar sind. Wir hätten das ganze Team und das Equipment für ein vergleichbares Projekt schon zusammen. Ich habe bei meinem ersten Gespräch mit Herrn Boudgoust gesagt, es wäre großartig, wenn wir die erste Sendeanstalt in der Welt werden würden, die einen wirklich innovativen Internetauftritt entwickelt. Kultur Joker: Was macht das Orchester noch aus? Roth: Die Verbindung von internationaler Ausstrahlung und regionaler Verwurzelung. Wir haben dieses Jahr eine große Konzertreise nach Japan gemacht, waren in Paris, Zürich, Venedig, Frankfurt, Köln, Berlin. Und haben doch eine sehr starke Verbindung zu unserem Freiburger Publikum. Wir hatten in dieser Saison fast in jeder Probe Schulklassen zu Besuch, die mitten im Orchester sitzen. Mit „Romeo feat. Julia“ haben wir gerade ein groß dimensioniertes, äußerst erfolgreiches Projekt abgeschlossen, das HipHop mit der Musik von Prokofiew verband und insgesamt 120 Kinder und Jugendliche auf die Bühne brachte. Kultur Joker: Sie haben einmal gesagt, das SWR-Sinfonieorchester ist eine Mischung zwischen einem französischen und einem deutschen Orchester. Was ist französisch? Und was ist deutsch? Roth: Natürlich haben französische Dirigenten wie Ernest Bour, Pierre Boulez oder Sylvain Cambreling das Orchester geprägt. Es hat sicherlich besondere Klangfarben und eine einzigartige Transparenz. Das ist kein Orchester, das es in Hamburg oder Berlin geben könnte. Wir leben hier auch in einer anderen Region. Wir haben Licht und viel Natur, wir haben ausgezeichneten Wein. Nach Frankreich ist es von Freiburg nur ein Katzensprung – das beeinfl usst natürlich auch unsere Kultur. Kultur Joker: Und was ist deutsch an dem Orchester? Roth: Musik ist wichtig. Dieses Bewusstsein können wir in dieser Intensität in keinem anderen Land fi nden. Kultur Joker: Sie sind international viel unterwegs. Welche Gefühle haben Sie, wenn Sie in Freiburg ankommen? Was fällt Ihnen auf an der Stadt? Roth: Ich liebe Freiburg. Ich denke, Freiburg ist eine Traumstadt, weil die Dimensionen richtig sind. Nicht zu klein, nicht zu groß. Nicht zu viele Autos, nicht zu wenige. Viele Studenten, aber auch viele Leute, die arbeiten. Ich mag die progressive Philosophie, was die Erforschung und Anwendung von alternativen Energien angeht. Und natürlich auch die Progressivität der Avantgarde-Kunst. Die Gesellschaft insgesamt ist hier sehr fortschrittlich. Das mag ich, weil ich selbst progressiv bin. Ich mag es nicht, wenn die Leute nur über die Vergangenheit sprechen. Wir müssen zusammen die Zukunft gestalten. Kultur Joker: Lieber Herr Roth, vielen Dank für das Gespräch und Alles Gute für Sie und das Orchester.