Interview

„Die Essensvernichter“

Die grenzenlose Verfügbarkeit von Nahrung ist für uns zur Selbstverständlichkeit geworden. Doch die Überflussgesellschaft hat ihre Schattenseiten: Täglich werden in den Industrieländern bis zu 50 Prozent der Lebensmittel vernichtet, während weltweit 20.000 Menschen an Unterernährung sterben. Ein Viertel des weltweit verbrauchten Wassers wird verschwendet und bis zu 80 Prozent der gefischten Tiermasse werden als Müll zurück ins Meer geworfen. Diese traurige Realität zeigt der Kölner Journalist Valentin Thurn in seiner schonungslosen Kinodokumentation „Taste The Waste“ und dem begleitenden Buch „Die Essensvernichter“. Gleichzeitig schlägt er auch Lösungen vor. Mit Valentin Thurn sprach Olaf Neumann.

Kultur Joker: Eigentlich werden genug Lebensmittel produziert, um alle auf der Erde satt machen zu können. Sollte ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich Essen wegwerfe, weil woanders eine Milliarde Menschen hungern müssen?
Valentin Thurn: Durchaus. Denn bereits heute verschärft unser Wegwerfen die Hungerkrise etwa in Somalia, weil dadurch die Preise auf den Getreidebörsen steigen. Langfristig gesehen ist es noch schlimmer, weil die Ressourcen unseres Planeten nicht für die wachsende Weltbevölkerung reichen werden. In 20, 30 Jahren haben wir nur noch begrenzte Ackerflächen zur Verfügung. Dann wird unsere Wegwerfmentalität generell dafür sorgen, dass anderswo auf der Welt weniger konsumiert werden kann.
Kultur Joker: Bis zu 40 Prozent der Feldfrüchte werden erst gar nicht geerntet, weil sie nicht der Handelsqualität entsprechen, heißt es in Ihrem gemeinsam mit Stefan Kreutzberger verfassten Buch „Die Essensvernichter“. Ist das allgemein bekannt?
Thurn: Mir war es jedenfalls nicht bekannt, als wir mit der Recherche anfingen. Nicht mal den Erzeugerverbänden waren die großen Zusammenhänge bewusst. Das ist eigentlich das Tragische. Weder die Regierung noch die handelnden Personen aus der Wirtschaft haben diese Dimensionen erahnt.
Kultur Joker: Für die Unternehmen ist es offenbar rentabel, Überschuss für die Mülltonne zu produzieren. Hat die Nahrungsmittelindustrie Ihnen das offiziell bestätigt?
Thurn: Der Handel sagt, es sei bei ihm gar nicht so viel. Im Frischebereich mache es gerade mal fünf Prozent aus. Die Bäcker sind allerdings offener. Manche Betriebe werfen bis zu 20 Prozent der Tagesproduktion in die Tonne. Meistens reden sie aber nicht so gerne darüber. Die Zahlen, die ich wirklich für glaubhaft halte, stammen von Wissenschaftlern aus Österreich, England oder den USA. Leider nicht aus Deutschland, weil es hier keine Studien gibt. Auf jeden Fall ist es ein gesamtgesellschaftliches Problem, da hängen alle drin. Ich habe händeringend nach einem Positivbeispiel gesucht, das habe ich in Deutschland aber nicht gefunden.
Kultur Joker: Ist der Wettbewerbsdruck im Lebensmittelhandel das eigentliche Problem?
Thurn: Der Wettbewerbsdruck trägt natürlich dazu bei. Und der ist in Deutschland größer als andernorts. Der Handel will nicht, dass ein Kunde, der seinen Lieblingsjoghurt abends um 22 Uhr nicht mehr kriegt, zur Konkurrenz geht. Deswegen gibt es in den großen, modernen Innenstadtflächen bis Ladenschluss immer alles. Brot vom Vortag findet man in einem Supermarkt so gut wie gar nicht. Das wird in die Tonne gehauen.
Kultur Joker: Können Kunden bzw. Erzeuger gegen das Diktat des Handels etwas tun?
Thurn: Der Kunde hätte eine Macht. Letztens wollte ich ein Netz von acht Pfirsichen kaufen, einer war angeschimmelt. Ich habe gefragt, ob ich es billiger kriegen könnte. Ging nicht. Aufreißen durfte man auch nicht. Sie wollten die Pfirsiche lieber wegwerfen. Dagegen habe ich beim Geschäftsführer höflich, aber bestimmt protestiert. Ich glaube, wenn das mehr Kunden täten, würde es etwas bringen. Die Händler wollen ja für den Kunden da sein und nicht gegen ihn. Bei denen hat sich die Annahme eingeschlichen, dass wir Verbraucher dem Überfluss zustimmen. Ich glaube aber nicht, dass dem so ist. Die Drachenfrucht zum Beispiel wird in Deutschland so gut wie gar nicht nachgefragt. Sie schmeckt nämlich nicht, sieht aber schön aus, weshalb sie dem Exotik-Regal ein edles Gepräge gibt.
Kultur Joker: Inwieweit konnten Sie den großen Nahrungsmittelproduzenten in die Karten gucken?
Thurn: Wir haben im vergangenen Oktober bereits einen Fernsehfilm zum Thema gemacht. Damals haben wir im Vorfeld alle Ketten kontaktiert. Von ihnen selbst bekam man aber keine konkreten Aussagen, sondern nur über den Verband des Lebensmitteleinzelhandels. Inzwischen sind sie aber soweit, dass der Rewe-Vorstand zur Filmpremiere von „Taste The Waste“ kommt und zum Thema etwas sagen will.
Kultur Joker: Multinationale Konzerne beziehen sogar Agrar-Fördergelder aus Brüssel, die eigentlich Bauern gegen Preisschwankungen an den Weltmärkten absichern sollen. Haben Sie Politiker darauf angesprochen?
Thurn: Wir haben Ilse Aigner und andere Politiker interviewt. Das Thema Landwirtschaftssubventionen wird mein nächstes Filmthema. (lacht) Die Politik setzt hier offensichtlich ein Ziel in die eine Richtung, aber die Gelder fließen in der Realität nicht zu den Kleinbauern, sondern zu den Großbetrieben. Es ist noch keine zwei Generationen her, dass wir fast gar nichts weggeworfen haben. Eigentlich müsste es uns noch bewusst sein, wie Mangelversorgung aussieht. Dass sich das Bild komplett gewandelt hat, hat mit den industriellen Erfolgen und Verteilungsprozessen zu tun. Sie sind per se nicht schlecht, aber sie führen auch dazu, dass hier und da was runter fällt, weil Massen verarbeitet werden. Andererseits ist es auch eine Chance, solche Prozesse zu optimieren.
Kultur Joker: Inwieweit wirkt sich die Massenproduktion von Lebensmitteln aufs Klima aus?
Thurn: Beim Klimawandel denkt man immer an Industrie und Autos. Die tragen natürlich ihren Teil dazu bei. Wir haben das mal von einem Wiener Klimaforscher hochrechnen lassen: Unser Lebensmittelmüll trägt zur globalen Erwärmung genauso viel bei wie der gesamte Transportsektor inklusive Autos, Schiffe, Flugzeuge. Diese Größenordnung hat man bisher komplett unterschätzt. Ein Verbot von Autos lässt sich politisch nicht durchsetzen, aber eine effizientere Lebensmittelerzeugung und -verteilung schon. Und das kratzt noch nicht mal am Lebensstandard.
Kultur Joker: Lassen sich die mächtigen Lebensmittelkonzerne überhaupt zu einem Umdenken bewegen?
Thurn: Ja, wenn man in der Logik des marktwirtschaftlichen Systems bleibt. Vorschriften, die das wirtschaftliche Handeln einengen, sind bei der Politik sehr unpopulär. Soweit muss man auch gar nicht gehen. Es reicht schon, das Wegwerfen so teuer zu machen, dass es sich nicht mehr lohnt. Dann wird sich die Wirtschaft schon andere Lösungen überlegen. Das Entsorgen ist heutzutage offenbar billiger als die Ware zu verschenken. Und: Je mehr Verbraucher sich zu Kooperativen verbinden, die direkte Lieferverträge mit Bauern schließen, desto stärker wird das auch die Supermärkte verändern. Es reicht schon, wenn den Großen zehn Prozent des Marktes entgleitet. Dann werden die sich komplett umkrempeln.
Kultur Joker: Die hohen Lebensmittelpreise sind ein Grund für die Hungerkatastrophe in Ostafrika. Könnten Lebensmittel eigentlich viel günstiger sein?
Thurn: Tatsächlich ist das so. Eine Hungerkatastrophe entsteht ja nicht aus dem Grund, dass es auf der Welt zu wenig Lebensmittel gibt. Sondern Menschen in der Dritten Welt können sich bestimmte Grundnahrungsmittel wie Brot und Weizen, die oft importiert werden müssen, nicht mehr leisten. Wir haben auf mehreren Wegen Verantwortung für solche Preisschübe, die ja auch in diesem Jahr erfolgt sind. Wenn wir die Hälfte dessen, was angebaut wird, wegschmeißen, dann verdoppeln wir damit unsere Nachfrage. Wir werden das sinnlose Wegwerfen nicht auf null reduzieren können, aber die Welternährungsorganisation geht davon aus, dass wir den Lebensmittelmüll zumindest halbieren können. Für Preisschübe sorgt auch, dass wir ganz viel Getreide zu Biosprit verarbeiten oder an unsere Tiere verfüttern. Aber da steckt wenigstens eine Nutzung dahinter.
Kultur Joker: Hungersnöte, behauptet der Globalisierungskritiker Michel Chossudovsky, würden durch das globale Angebot von Getreide ausgelöst. Eine Lösung könnte eine Weltgetreidebank sein. Lässt sich solch eine Idee durchsetzen?
Thurn: 2008 kam es wegen der hohen Lebensmittelpreise in 30 Ländern zu Unruhen, am Ende wurden einige Regierungen gestürzt. Nicht nur linke Globalisierungskritiker, sondern auch konservative Institutionen, die der UN nahe stehen, machen sich Gedanken über unser marktwirtschaftliches System, bei dem die Preise auf dem Weltmarkt stark schwanken. Eine Weltgetreidebank kann diese Spitzen abfangen. Natürlich ist damit der Hunger noch nicht beseitigt, aber der Tod von Hunderttausenden ist damit unterbunden. Getreidebanken beziehungsweise Lager gab es ja früher schon. Die Weltbank hatte zum Beispiel Malawi untersagt, Getreide für Notzeiten zu lagern, weil der Weltmarkt immer genug vorrätig hätte.
Kultur Joker: Gemeinsam mit Umwelt- und Entwicklungsorganisationen haben Sie eine öffentliche Kampagne ins Rollen gebracht. Was ist deren Ziel?
Thurn: Ich habe festgestellt, mit dem Thema kann man Gruppen zusammenbringen, die sonst eher wenig gemeinsam unternehmen. Wir wollen unterschiedliche Verbände wie Slow Food, Greenpeace, die Tafeln, Oxfam, die Welthungerhilfe und Brot für die Welt nicht nur zusammenbringen, sondern auch dafür sorgen, dass daraus eine neue Bewegung entsteht. Unsere Message ist ganz simpel: Wir bauen bei Veranstaltungen in den deutschen Innenstädten lange Tafeln für 500 bis 1000 Menschen auf. Sie essen gemeinsam Lebensmittel, die eigentlich zur Vernichtung bestimmt wären. Die Botschaft: Mit dem Motto „Quantität statt Qualität“ verspielen wir uns unseren Lebensstandard. Wir haben als Städter einfach verlernt, gut von schlecht zu unterscheiden. Wenn wir uns wieder mit der Qualität unseres Essens beschäftigen, dann werden wir automatisch weniger wegwerfen.
Kultur Joker: Brauchen wir ein Gesetz, das die Lebensmittelverschwendung reguliert?
Thurn: Es ist ein kompliziertes System, an dem wir alle teilhaben. Eine einzelne Maßnahme würde nichts bewirken. Die Politik müsste zum Beispiel das Mindesthaltbarkeitsdatum anders benennen. Es hat nämlich nichts mit Gesundheitsgefährdung zu tun. Hersteller und Handel sind gar nicht daran interessiert, die Verbraucher darüber aufzuklären, denn dann würden sie weniger verkaufen. Der größte Hebel sind die Normen und Standards. Bisher hat der Handel die EU dazu gebracht, Normen festzusetzen. Die EU hat einzelne wieder gelockert, aber der Handel behält sie einfach bei. Jetzt haben wir eine Aldi-Norm und eine Rewe-Norm. Es wäre schön, wenn der Handel und die Politik sich Wege überlegen würden, wie man Ware, die ein bisschen anders geformt ist, unter die Leute bringt. Das könnte zum Beispiel über Restemärkte geschehen. Dadurch könnten Lebensmittel noch billiger werden. Denn für das Wegwerfen zahlt der Kunde bislang mit.
Kultur Joker: Wie mächtig sind die Global Player ADM, Cargill, Bunge Ltd. und Louis Dreyfus, die Sie im Buch als Agrarmafia bezeichnen?
Thurn: Diese vier beherrschen den Getreidemarkt, also alles, was über die Börsen vertickt wird. Bei diesen Prozessen gibt es das unheimliche Element der Spekulation. Geld, das auf den Aktienmärkten herumvagabundiert und nach neuen Anlagemöglichkeiten sucht, hat dafür gesorgt, dass die Preisausschläge an den Getreidebörsen immer schärfer wurden. Das ist für eine Krisensituation ganz fatal und es macht Sinn, solche Schwankungen nicht dem freien Markt zu überlassen. Die Spekulanten sind an die Börsen gegangen, weil sie langfristig eine Knappheitssituation sehen. Der Nahrungsmittelüberschuss wird immer kleiner werden, weil die Schwellenländer mehr und mehr Fleisch essen, die Weltbevölkerung zunimmt und die Agrarflächen abnehmen. Das hat auch dazu geführt, dass die Chinesen Land in Afrika kaufen.
Kultur Joker: Hat die Politik Interesse, Spekulanten stärker an die Kandare zu nehmen?
Thurn: Nein, eine Regulierung des Finanzmarktes scheint bei unseren derzeitigen politischen Verhältnissen unmöglich. Ein Verbot des Handels mit Optionsscheinen würde schon einmal die schlimmsten Ausschläge beseitigen. Der Sekundenhandel, bei dem rund um den Globus Waren hin und her geschoben werden, würde sich nicht mehr lohnen, wenn da eine Steuer drauf läge. Eine Regulierung ändert jedoch nichts daran, dass es enger wird mit der Versorgung des Planeten. Darauf müssen wir uns einstellen, indem wir weniger Fleisch essen und einen großen Teil unserer Ernte nicht in den Tank füllen und schon gar nicht in die Tonne werfen.
Kultur Joker: In England tragen die Supermarktketten inzwischen selbst zur Müllvermeidung bei. Was haben Sie in Amerika in Erfahrung gebracht?
Thurn: Die Amerikaner sind definitiv große Verschwender. Gleichzeitig haben sie den ersten Lebensmittelmüllforscher hervorgebracht, Timothy Jones. Er hat alle anderen inspiriert. Ihn ereilte jedoch das Schicksal der kritischen Forschung in den USA: Er bekam keine Drittmittel aus der Industrie, sein Institut wurde geschlossen. Der Vordenker steht heute auf der Straße. Aber er hat ein System mitbegründet, das komplett auf den Handel verzichtet. Die Verbraucher gehen direkt mit dem Bauern eine Vertragsbeziehung ein und beziehen dadurch hochwertiges Gemüse zu einem unschlagbaren Preis. Dieses System hat auch in Deutschland erste Nachahmer gefunden.

„Taste The Waste“: Filmstart: 8.9.2011, Kinos unter www.tastethewaste.com.
Stefan Kreutzberger/Valentin Thurn:„Die Essensvernich­ter“ (Kiepenheuer & Witsch, 304 S., 16,99 Euro, ISBN: 978-3462043495).

Ein Gedanke zu „„Die Essensvernichter“

  • Herzlichen Dank für den wertvollen Post! Sehr schön Tipp.

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